Mannheim, 12. Juni 2015. (red/cb/ms) Die Jugend hat kein Interesse mehr an der Politik? Von wegen! Mannheimer Schüler haben die Oberbürgermeisterkandidaten zu einer Podiumsdiskussion ins vollbesetzte Capitol eingeladen. Damit wurden gut 900 Schüler erreicht – fast alle von ihnen werden am Sonntag Erstwähler sein. Fast vier Stunden stellten sich die Kandidaten Fragen und „Überraschungen“.
Von Carolin Beez und Minh Schredle
Wie kommt es, dass Oberbügermeisterkandidaten vier Tage vor der Wahl Werbung für ihre Gegenkandidaten machen? Und warum in aller Welt hüpfen vier erwachsene Männer, die allesamt für Mannheims höchstes Amt antreten, wie in einer Kindershow auf der Bühne herum?
„Bock auf Wahl“ – so heißt die Aktion, zu der auch eine Podiumsdiskussion im Capitol gehört: Innovativ und unkonventionell ist das Konzept. Das Ziel: Insbesondere Erstwähler sollen sich für Kommunalpolitik interessieren und am Sonntag an die Wahlurne. Schüler und Lehrer der Carl-Benz-Schule und des Johann-Sebastian-Bach-Gymnasiums luden in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) alle vier Oberbürgermeisterkandidaten ein. Schüler/innne vom Ursulinen-Gymnasium, der Friedrich-Ebert-Werkrealschule, dem Karl-Friedrich-Gymnasium, der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried und dem Johanna-Geissmar-Gymnasium nahmen als Gäste teil.
Amtsinhaber, Dr. Peter Kurz (SPD), Stadtrat und Unternehmer Christopher Probst (Mannheimer Liste), Oberbürgermeister von Horb, Peter Rosenberger (CDU) sowie der Satirekandidat Christian Sommer (Die Partei) nahmen sich vier Stunden Zeit, um mit den Jugendlichen die zentralen Streitfragen des Wahlkampfs zu diskutieren.
Gut 900 Schüler erreicht
Insgesamt wurden so gut 900 Schüler erreicht. Seit vergangenem Jahr dürfen in Baden-Württemberg auch Jugendliche ab 16 Jahren bei Kommunal- und Bürgermeisterwahlen ihre Stimme abgeben – das sind in Mannheim potenziell bis zu 4.500 Menschen.
Jugend und Politik passt nicht zusammen? Die Politikverdrossenheit ist allgegenwärtig? Davon war am Donnerstag wenig zu spüren: Die allermeisten Schüler verfolgten interessiert die Debatten. Eine 16-jährige sagt im Anschluss an die Veranstaltung:
Das Format war super. So konnten wir die Kandidaten direkt mit unseren Fragen konfrontieren und uns ein Bild machen. Vom neuen Oberbürgermeister erwarte ich mir, dass er sich mehr für die Jugend einsetzt.
Die Meinungen über Kandidaten und Inhalte gingen zwar teils weit auseinander, aber da waren sich die meisten einig: Sich mit allen Kandidaten auseinanderzusetzen und ihre verschiedenen Positionen und Argumente zu kennen, ist wichtig, um eine gute Wahl zu treffen.
Das Publikum zeigte mit guten Zwischenfragen eine solide Kenntnis der teilweise hochkomplexen Inhalte. Amtsinhaber Dr. Peter Kurz sagte im Anschluss gegenüber dem Rheinneckarblog:
Ich bin positiv überrascht, wie gut die Jugendlichen vorbereitet sind und auf welchem Niveau hier diskutiert wurde – da habe ich im Wahlkampf auch schon einige Veranstaltungen erlebt, die in diesen Punkten sehr viel schlechter abgeschnitten haben.
Auch der CDU-Kandidat Peter Rosenberger zeigte sich überaus angetan: Die Veranstaltung habe ihm deutlich gezeigt, dass viele Vorurteile über eine vermeintliche Politikverdrossenheit der Jugendlichen nicht gerechtfertigt wären. Er appellierte:
Unterschätzt diese Jugend nicht.
Die Initiative geht auf 46 Schüler und vier Lehrer zurück. Bereits im November 2014 entstand in den Gemeinschaftskundekursen am Bach-Gymnasium die Idee, die Oberbürgermeisterkandidaten zu einer Podiumsdiskussion einzuladen, sagt die Lehrerin Anja Stephan – und dann wurde monatelang geplant und konzeptioniert.
Das Bachgymnasium hat bereits vergleichbare Veranstaltungen zu den Gemeinderatswahlen oder anderen politischen Ereignissen mitorganisiert – allerdings noch nie in diesem Umfang.
Um den Planungsaufwand zu bewerkstelligen, teilten sich die Schüler in verschiedene Gruppen auf: Die einen kümmerten sich um die Organisation und Moderation – und nahmen das sehr ernst. Sie besuchten sogar Rhetorik-Kurse, um Auftreten und Sprache zu verbessern. Die anderen Helfer drehten kurze Videos zu den einzelnen Themenbereichen: Etwa Legofilmchen zur Sicherheitslage oder animierte Interviews zum Zuständigkeitsbereich eines Oberbürgermeisters. Top-Leistung.
Die bedeutensten Themen aus dem Blickwinkel der Jugend
Im ersten Teil der Veranstaltung wurden Schülerinnen und Schüler bis einschließlich der zehnten Klasse eingeladen. Viele von ihnen sind gerade erst 16 geworden. Im zweiten Teil waren Schüler der Oberstufe eingeladen.
Beide Teilen waren rund 100 Minuten lang, aber thematisch unterschiedlich: So wurde beispielsweise die Bundesgartenschau im ersten Block überhaupt nicht behandelt, während sie im zweiten Teil eine bedeutende Rolle für die Diskussion darstellte.
Nicht alle Kandidaten durften auch auf alle Fragen antworten – „aus Zeitgründen“, wie es von Seiten der Moderation hieß. Allerdings hatten alle Kandidaten jeweils zwei Joker, die ihnen für 45 Sekunden, beziehungsweise 60 Sekunden ein Rederecht verschafften.
Pro Frage wurde die Zeit für eine Antwort auf 90 Sekunden beschränkt. Das störte insbesondere Christopher Probst, den Kandidaten der Mannheimer Liste. Er sagte zwischen den Blöcken gegenüber dem Rheinneckarblog:
Bei dermaßen komplexen Themen wie Zuwanderung oder der Bundesgartenschau ist es in so kurzer Zeit einfach nicht möglich, tief in die Diskussion einzusteigen und auf alle Umstände, die für diese Fragen bedeutend sind, ausführlich genug einzugehen. Und Verkürzungen tun Inhalten nur selten gut.
Die Kritik ist berechtigt: Wenn man der Veranstaltung etwas ankreiden kann, dann dass viele Inhalte nur oberflächlich angeschnitten worden sind – aber vielleicht wäre es sonst zu „trocken“ geworden.
Zwischen den recht klassischen Fragerunden gab es immer wieder abwechslungsreiche und amüsante Zwischeneinlagen, die die Kandidaten nicht selten aus der Reserve lockten und manchmal Überwindung kostete. Beispiel: Sie mussten Wahlwerbung für ihre Widersacher machen. Dr. Kurz sagte gestelzt: „Herr Rosenberger wirkt motiviert und nett.“ Herr Sommer meinte, bei Herrn Probst würde sich ab und an „ein Inhalt auf die Werbeplakate verirren“, Herr Rosenberger sagte, „Herr Sommer belebt den Wahlkampf“. Von Christopher Probst gab es ein fettes Lob für Dr. Kurz:
Er ist ein außerordentlich intelligenter, fleißiger und in manchen Punkten nicht ganz unerfolgreicher Oberbürgermeister, auch wenn wir in vielen Fragen verschiedene Standpunkte vertreten.
Ein anderes Highlight: Wie stehen die Kandidaten zu einem Radweg in der Bismarckstraße, der für fünf Millionen Euro realisiert werden soll? Dazu mussten die Kandidaten buchstäblich „Position beziehen“. Das Vorbild war in diesem Fall die Kindersendung „1, 2 oder 3“: Schüler hielten drei Schilder hoch, die Kandidaten sollten auswählen, welches am ehesten ihrer Meinung entspricht. Zu Auswahl gab es: „(1) Fahhradweg in der Bismarckstraße“, „(2) Kein Fahrradweg in der Bismarckstraße“ und „(3) Verkehrsberuhigter Bereich in der Bismarckstraße“. Dann wurde Musik eingespielt und die Moderatoren baten die Kandidaten, sich nicht direkt für eine Option zu entscheiden – „das wäre ja langweilig“. Stattdessen sollten sie zwischen den Auswahlmöglichkeiten hin und her hüpfen, bis die Musik verstummte und sich erst dann „positionierten“. Herumspringende Oberbürgermeisterkandidaten – das sorgte für großes Amüsement und lauten Applaus.
Um zwischendurch ein Meinungsbild im Publikum abzufragen, hatten die Zuschauer je einen grünen Zettel für „Ja“ und einen roten Zettel für „nein“ – manchmal waren die Fragen allerdings etwas unpräzise formuliert, als dass sie mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ eindeutig beantwortet hätten können. Da wurden auch mal keine oder beide Karten hochgehalten.
Fast alle zentralen Wahlkampfthemen wurden zumindest angeschnitten – allerdings mit einem besonderen Fokus auf die Perspektive der Jugend: Wie steht es um die Sicherheit in Mannheim? Welche Ziele sollen bei der Integration verfolgt werden? Wie soll die Bildungspolitik der Zukunft aussehen? Was geschieht mit den Vereinen und Sportplätzen?
Kommt der Mannheimer Jugendgemeinderat?
Alle Kandidaten sprachen sich deutlich dafür aus, den Jugendlichen mehr Möglichkeiten eröffnen zu wollen, sich an der Politik zu beteiligen. Herr Dr. Kurz sagte, man habe bereits überprüft, ob man einen Jugendgemeinderat einführen solle, aber es habe dazu kein ausreichendes Interesse gegeben. Christian Sommer, Peter Rosenberger und Christopher Probst sprachen sich dennoch dafür aus. Herr Rosenberger sagte:
Man sollte das auf jeden Fall wenigstens ausprobieren. Auch wenn das Interesse am Anfang vielleicht noch überschaubar ist, man muss es eben auch bewerben – vier Jahre später hat es sich vielleicht herumgesprochen, welche Möglichkeiten es zur Mitgestaltung gibt und mehr Jugendliche können sich dafür begeistern.
Das kam beim Publikum gut an. Die Diskussion zeigte deutlich: Viele Jugendliche wollen mit ihren Anliegen und Ansichten ernst genommen werden und sind sogar bereit, einen großen Aufwand auf sich zu nehmen.
Eine wertvolle Veranstaltung
Ein besonderes Lob haben die engagierten Schüler und Lehrer des Bach-Gymnasiums und der Carl-Benz-Schule verdient. Die Moderation auf der Bühne wurde nicht von Lehrern durchgeführt, sondern von Schülern der elften Klasse. Die machten ihre Arbeit mehr als ordentlich und fragten bei ausweichenden Antworten kritischer nach, als es bei vielen anderen, auch größeren Veranstaltungen der Fall war.