Stuttgart/Südwesten, 12. Juli 2016. (red/ms) Am Wohnungsmarkt von Baden-Württemberg gibt es landesweit erhebliche Defizite. Insbesondere Großstädte sind betroffen – und der Druck, günstigen Wohnraum zu schaffen, steigt. Im Interview erläutert Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, warum die große Herausforderung auch eine Chance ist, sich kulturell neu zu definieren.
Interview: Minh Schredle
In großen Teilen Deutschlands mangelt es aktuell an Wohnungsangeboten. Wie groß ist eigentlich der Bedarf?
Markus Müller: Die einschlägigen Institute rechnen damit, dass in ganz Deutschland pro Jahr eigentlich 350.000 bis 400.000 Wohnungen gebaut werden müssten, um der Demographie gerecht zu werden. Es sind aber nur um die 250.000. In Baden-Württemberg sieht das noch dramatischer aus: Hier werden pro Jahr 37.000 bis 38.000 Wohnungen gebaut – anstatt 75.000 bis 80.000, die wir eigentlich bräuchten. Insbesondere in den preisgünstigeren Segmenten gibt es eine hohe Nachfrage, die aktuell nicht bedient werden kann.
Naiv gefragt: Warum wird denn nicht mehr gebaut?
Müller: Das hat ganz verschiedene, teils sehr komplexe Ursachen. In der Politik hört man oft den beliebten Satz: Der Markt wird es schon richten. Das stimmt so nicht ganz, wie die Erfahrung zeigt: Die meisten Investoren bauen beispielsweise eher im gehobenen Wohnungsbau als Sozialwohnungen, weil an solchen Projekten mehr zu verdienen ist. Wenn also im größeren Umfang preisgünstiger Wohnraum geschaffen werden soll, muss die Politik zusätzliche Anreize schaffen. Und hier habe ich den Eindruck, dass die breite Nachfrage in Baden-Württemberg lange übersehen worden ist.
„Wir müssen den Handlungsdruck als Chance sehen“
Ist das inzwischen nicht mehr so?
Müller: In der Öffentlichkeit wird wieder mehr über Wohnungsbau debattiert und das ist auch gut so. Dass das Thema wieder präsent ist, hängt auch mit dem Zuzug von Flüchtlingen zusammen, die ja ebenfalls auf preisgünstigen Wohnraum angewiesen sind. Am Markt gab es aber schon vorher Defizite und zu wenige Angebote für Geringverdiener, Studenten und Rentner. Den erhöhten Handlungsdruck müssen wir jetzt als Chance sehen, tragfähige und innovative Konzepte neu zu entwickeln. Dabei müssen wir auch Grundsatzfragen diskutieren: Wie wollen wir Stadt in Zukunft leben? Wie sieht eine gelungene Siedlungspolitik aus?
Über die vergangenen Jahre sind die Baukosten teils dramatisch angestiegen. Wie kann es denn gelingen, günstige Angebote zu schaffen?
Müller: Bei einem „normalen“ Neubau kann man pro Quadratmeter mit Kosten von etwa 3.000 Euro rechnen. Bezogen auf Baden-Württemberg und 75.000 bis 80.000 Durchschnittswohnungen pro Jahr ergibt sich ein Investitionsvolumen von etwa 16 bis 19 Milliarden Euro. Gemeinhin gilt der Leitsatz, dass nicht mehr als 30 Prozent des Monatseinkommens für die Miete aufgewendet werden sollten. Für viele Geringverdiener ist es eine große Herausforderung, hier passende Angebote zu finden. Bezahlbarer Wohnraum muss zur Miete weniger als 7,50 Euro pro Quadratmeter kosten. So günstig kann man aber heutzutage keinen Neubau mehr bauen und vermieten, ohne Verluste zu machen. Das geht nicht ohne Zuschüsse oder Förderprogramme. Gleichzeitig darf der Fokus aber auch nicht ausschließlich auf die Förderung von Sozialbauten gelegt werden. Ziel muss es sein, eine gesunde soziale Mischung zu erreichen.
„Standards zu senken, ist nicht der richtige Weg“
Viele Baukosten entstehen auch durch Vorschriften, etwa die Festsetzungen in der Landesbauordnung. Sollten die Regularien hier gelockert werden, um kostengünstiger bauen zu können? Muss das Baurecht gelockert werden?
Müller: Das ist keine einfache Frage. Grundsätzlich gibt es hier – wie bei allen finanziellen, aber auch politischen Fragen – konkurrierende Zielsetzungen. Dabei müssen wir uns fragen: Was ist verhandelbar? Und was nicht? In Paris hat die Weltpolitik sich beispielsweise erst vor kurzem darauf geeinigt, dass sich die Erderwärmung maximal um zwei Grad steigern darf und dass wir dafür unsere Treibhausgas-Emissionen auf Null reduzieren wollen.
Wenn wir diese Ziele ernst nehmen, müssen wir den Klimaschutz ernst nehmen und dürfen hier nicht bei den Standards sparen, sondern richtig Geld in die Hand nehmen – auch wenn dadurch das Bauen teurer wird.
Klimafreundliche Häuser sind erst einmal eine Investition – langfristig machen sie sich aber bezahlt. In anderen Punkten ist das ähnlich. Insgesamt sehe ich die Möglichkeiten, beim Baurecht die Mindeststandards abzusenken, als sehr, sehr begrenzt an. Das kann auch nicht der richtige Weg sein.
Mit Billigbauten kommt man also nicht unbedingt am günstigsten davon?
Müller: Genau. Seit dem vergangenen Herbst wird von vielen gefordert, die Standards zu senken und jetzt seriell und modular zu bauen, denn das gehe ja schnell und günstig. Das ist in meinen Augen Populismus oder eine unüberlegte Panikreaktion. Wir dürfen nicht den Kopf verlieren, sondern müssen weiterhin langfristig und nachhaltig denken.
„Teures Bauen ist nicht automatisch gutes Bauen“
Wenn man also ordentlich bauen will, muss man auch bereit sein, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen?
Müller: So würde ich das nicht unbedingt formulieren. Denn teures Bauen ist nicht automatisch gutes Bauen. Hier gibt es auch jede Menge unsinnige Verschwendung. Gleichzeitig kann auch mit vergleichsweise wenig Mitteln sehr viel erreicht werden, wenn ein gelungenes Konzept vorliegt. Aus unserer Sicht ist es vor allem wichtig, effizient zu bauen.
Und wie schafft man das?
Müller: Diese Frage kann man einmal aus der Perspektive eines Architekten, beziehungsweise Ingenieurs beurteilen oder aus der Sicht eines Städteplaners. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Klimaschutz: Hier fangen die Überlegungen schon dabei an, welche Baustoffe man für die Hüllflächen eines Hauses verwendet. Das hat nämlich unter anderem Auswirkungen auf die Schwankungen der Innentemperatur. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Wohlfühlfaktor – durch gute Isolation können beispielsweise Heizkosten gespart werden, wodurch sich die höhere Investition für eine bessere Bausubstanz schnell wieder bezahlt machen kann.
„Bedarf wird noch weiter zunehmen“
Und wie sieht das aus der Sicht eines Städteplaners aus?
Müller: Hier stellen sich ganz andere Fragen und Herausforderung. Klimaschutz ist auch hier ein wichtiger Aspekt, ein anderer zentraler Punkt ist aktuell der Umgang mit dem demographischen Wandel: Die Sozialstruktur verändert sich.
Die Bevölkerung wird im Durchschnitt immer älter, das Rentenniveau wird weiter sinken. Also wird der Bedarf nach preisgünstigem Wohnraum noch weiter zunehmen.
Dabei werden dann aber noch ganz andere Fragen eine Rolle spielen: Etwa, wie sich auch Menschen mit geringer Rente eine Alterspflege leisten können sollen. Um uns auf die kommenden Jahrzehnte einzustellen, brauchen wir unter anderem auch neue Wohnkonzepte, die mehr altersgerechtes Wohnen ermöglichen.
Wie könnte das erreicht werden?
Müller: Etwa durch gemeinschaftliche und generationenübergreifende Wohnprojekte. Soziologie hat offenbar einen viel stärkeren Einfluss auf Architektur, als uns in der Vergangenheit bewusst war: In den vergangenen Jahren wurden viele Wohnprojekte ohne Planung sozialer Interaktionsmöglichkeiten realisiert.
Durch gemeinsam genutzte Höfe oder Parkanlagen werden hingegen Nachbarschaften gestärkt und der Zusammenhalt in einer Wohngegend gefördert.
Hier müssen wir uns wieder mehr grundsätzliche Gedanken über die Ziele unserer Siedlungspolitik machen. Das ist übrigens ganz sicher keine Diskussion, die nur Architekten und Städteplaner führen sollten.
„Diese Kosten können Kommunen nicht alleine stemmen“
Wer sollte denn noch gehört werden?
Müller: Die Gesamtgesellschaft. Ich finde hier eine konstruktive Bürgerbeteiligung sehr wichtig. Das wird zwar erst einmal ein großer Aufwand mit hohen Kosten. Auf Dauer wird es sich aber bezahlt machen, weil der konkrete Bedarf ermittelt werden kann und man anschließend viel effizienter vorgehen kann. In unterschiedlichen Regionen, ja sogar in verschiedenen Quartieren der gleichen Stadt, gibt es oft ganz unterschiedliche Mentalitäten, wie gelungenes Wohnen aussehen soll. In jedem Fall bleiben die Finanzen ein entscheidender Faktor. Kommunen in Baden-Württemberg sind zwar finanziell besser ausgestattet als in anderen Bundesländern, mit neuen Wohnprojekten kämen aber Millionenkosten auf sie zu, die auch sie nicht alleine stemmen können.
Wie schätzen Sie hier die Unterstützung durch die Landespolitik ein?
Müller: Über die vergangenen Jahre wurde das Thema Wohnungsbau in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigt. Als Vorbilder für eine Neuausrichtung dienen sicherlich Projekte in Bayern. Hier werden durch das Land jedes Jahr 500 Millionen Euro bereitgestellt, um den Wohnungsbau zu unterstützen und zu steuern. Wenn man sich die Ergebnisse ansieht, hat Bayern offenbar ein durchaus intelligentes Förder-System.
Anderswo läuft es noch besser. In Österreich findet Wohnungsbau auf einem ganz anderen Niveau statt.
Es ist zwar nur bedingt vergleichbar: Aber auf etwa gleich viele Einwohner wie in Baden-Württemberg wird der Wohnungsbau jedes Jahr mit 2,1 Milliarden Euro unterstützt. In Baden-Württemberg waren es über die vergangenen Jahre etwa 110 Millionen Euro. Für 2016 wurde diese Summe zwar etwas aufgestockt. Aber es ist immer noch viel zu wenig.
Innovationsprozesse befeuern
Könnte sich hier nach dem Regierungswechsel etwas ändern?
Müller: Als Architektenkammer haben wir uns bereits im Vorfeld der Landtagswahlen klar gemacht, dass deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen.
700 Millionen Euro pro Jahr sind eine Größenordnung, über die wir reden müssen.
Ob das wirklich erreicht wird, ist aber unklar. Von dem, was wir wissen, wird in der Regierung darüber nachgedacht, die Fördersumme auf eine halbe Milliarde aufzustocken. Erste Gespräche stimmen durchaus zuversichtlich.
Wenn mehr Geld zusammenkommt – wie soll es dann verwendet werden?
Müller: Ein Großteil sicher für den sozialen Wohnungsbau. Aber eben auch nicht alles und es wäre falsch, einfach das zu fördern, was billig ist. In Bayern werden gezielt Leuchtturm-Projekte gefördert…
Was ist denn ein „Leuchtturm-Projekt“?
Müller: In diesem Fall besonders überzeugende, städtebaulich innovative Siedlungsprojekte. Etwa Neubaugebiete mit einer sehr hohen Energieeffizienz. Das Land gibt hier die Rahmenbedingungen vor, um sich bewerben zu können. Dann werden vielversprechende Vorhaben ausgesucht und gezielt gefördert. In Bayern macht man das an zehn Standorten pro Jahr. Etwas Ähnliches kann ich mir auch für Baden-Württemberg sehr gut vorstellen, denn dadurch werden Innovationsprozesse befeuert. Wenn ein Modell zu Erfolgen führt, kann man außerdem prüfen, ob es sich womöglich auf andere Ortschaften übertragen lässt.
„Es geht um Landesentwicklung“
Die Landesregierung plant laut Koalitionsvertrag auch eine „Wohnraum-Allianz“ mit allen „wichtigen Akteuren“. Wie schätzen Sie das Vorhaben ein?
Müller: Wir finden diesen Gedanken gut. Unabhängig davon sind wir als Architektenkammer in enger Absprache mit dem Verband der Wohnungswirtschaft, dem Mieterbund und anderen. Eben allen, die dazugehören. Das auf eine institutionelle Ebene zu heben, ist der richtige Ansatz.
Es geht bei unseren Beratungen nämlich nicht nur um hübschen Wohnraum, sondern um Landesentwicklung.
Ein ganz zentrales Thema ist dabei auch: Wie schaffen wir es, überall in Baden-Württemberg für möglichst gleichwertige Lebensbedingungen zu sorgen? Bei den Diskussionen um Stadtentwicklung, Siedlungskonzepte und deren Förderung darf beispielsweise auch der ländliche Raum auf keinen Fall vergessen werden.
Effizient verdichten
Nehmen wir mal an, es käme genug Geld zusammen, um dem großen Investitionsbedarf gerecht zu werden: Wo soll dann überhaupt gebaut werden? Grundsätzlich vertritt die Politik ja die Auffassung, Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Bevor also Neubaugebiete ausgewiesen werden, soll eher die vorhandene Stadtbebauung verdichtet werden. Aber nun sind die meisten Innenstädte schon so dicht bebaut, dass es hier kaum noch möglich ist, neuen Wohnraum zu schaffen…
Müller: Es ist ein Ammenmärchen, dass Innenstädte schon ganz verdichtet wären. Objektiv ist es ganz klar schwieriger, eine vorhandene Bebauung weiter zu entwickeln, als einen Außenbereich. Aber es ist in den allermeisten Fällen nicht unmöglich. Eine effiziente Raumnutzung wird eine immer wichtigere Rolle spielen.
Klar ist: Wenn in Baden-Württemberg 80.000 neue Wohnungen pro Jahr entstehen sollen, dann geht das nicht, ohne neue Baugebiete auszuweisen.
Für diese Zahl von Wohneinheiten wird überschlägig eine Fläche von etwa 1.500 Hektar notwendig sein. Mit einer effizienten Verdichtung könnte dieser Wert aber auf 900 oder sogar 800 Hektar reduziert werden. Übrigens ist auch das eine Methode, günstiger zu bauen – denn so fallen 40 Prozent weniger Grundstückskosten an.
„Nicht einfach möglichst schnell und billig irgendwas bauen“
Insgesamt wirken die Herausforderungen am Wohnungsmarkt riesengroß…
Müller: Baden-Württemberg ist ein Wohlstandsland mit hoher Zuwanderung. Nicht nur aus dem Ausland, sondern auch innerdeutsch. Und das ist gut so – denn gerade im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel brauchen wir jede nur verfügbare Arbeitskraft. Baden-Württemberg ist außerdem ein Technologieland mit riesigem Potenzial. Aktuell ist der Handlungsdruck groß. Trotzdem müssen wir auch einem hohen intellektuellen Niveau darüber debattieren, wie wir Stadt in Zukunft leben wollen. Die Herausforderung ist auch eine kulturelle Chance für unser Land, sich neu zu definieren. Und unsere Entscheidungsfindung wird die kommenden Jahrzehnte beeinflussen. Da ist es sicher nicht der richtige Weg, einfach möglichst schnell und möglichst billig irgendetwas zu bauen.
Zur Person:
Markus Müller ist Architekt und Stadtplaner. Im November 2014 wurde er zum Präsidenten der Architektenkammer Baden-Württembergs (AKBW), wo er sich bereits seit 2002 ehrenamtlich engagiert hat. Zwischen 1999 und 2014 war er für die CDU im Meckenbeurener Gemeinderat, ab 2004 als Fraktionsvorsitzender.
Die AKBW ist nach eigenen Angaben Serviceunternehmen, Interessenvertretung und Kontrollinstanz für rund 24.600 Mitglieder aus den Bereichen Hochbau, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur sowie Stadtplanung. Zu ihrem gesetzlichen Auftrag gehöre es, die Qualifikation ihrer Mitglieder zu überwachen sowie die Baukultur und das Bauwesen zu fördern.