Mannheim, 12. März 2016. (red/ms) Allen aktuellen Umfragen zufolge verpasst die Linke den Einzug in den Landtag vom Baden-Württemberg – aber es ist knapp. Zum Wahlkampfabschluss sind sind die beiden Spitzenkandidaten Bernd Riexinger und Gökay Akbulut am Mannheimer Marktplatz. Außerdem spricht Sahra Wagenknecht, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion – und lockt fast doppelt so viele Zuschauer an, wie SPD-Außenminister Steinmeier. Das macht klar: Auch wenn es nicht klappt mit dem Einzug in den Landtag, hat die Linke zumindest im “roten Mannheim” ein gewaltiges Wählerpotenzial bei enttäuschten SPD-Sympathisanten.
Von Minh Schredle
Der Applaus ist eher zögerlich und zurückhaltend. Hilke Hochheiden wirkt sichtlich aufgeregt, ein paar Mal bleibt ihr die Stimme weg. Die linke Landtagskandidatin für den Mannheimer Süden sagt:
2011 wurden zwar Politiker ausgewechselt – aber nicht die Politik. Grün-rot hat viel versprochen, aber wenig eingehalten.
Inhaltlich gibt es für Aussagen wie diesen die volle Zustimmung von gut 250 Zuschauern. Ansonsten gelingt es Frau Hochheiden kaum, mitzureißen. Rhetorisch ist ihr Auftreten schwach.
Als Gökay Akbulut spricht, verändert sich die Atmosphäre grundlegend. Eine kämpferische Rede. Viel Pathos. Der letzte Feinschliff fehlt – trotzdem kommt deutlich mehr Leben ins Publikum.
Es könne nicht sein, sagt Frau Akbulut immer wieder, dass “im reichen Ländle” Baden-Württemberg 1,6 Millionen Menschen nur knapp über dem Existenzminimum leben. Es könne nicht sein, dass 44 Prozent der alleinerziehenden Mütter von Armut bedroht sind. Es könne nicht sein, dass unzählige Arbeiter trotz Vollbeschäftigung fürchten müssten, im Alter zu verarmen.
“Viele reden, aber niemand tut was”
Diese Missstände seien allesamt bekannt, sagt Frau Akbulut. Grün-rot habe in den vergangenen fünf Jahren Regierungszeit nichts dagegen unternommen. Der Beifall wird deutlich lauter – und deutlich wütender. Viele sind aufgebracht, viele zeigen ihren Frust – insbesondere über das Regierungsverhalten der SPD, von der sich viele im “roten Mannheim” maßlos enttäuscht zeigen.
Im Publikum gibt es weiter Zulauf – ein paar Umstehende am Marktplatz stoßen hinzu, die Menge wächst bis zum Auftritt von Sahra Wagenknecht auf knapp 350 Menschen an. Damit hat sie deutlich mehr Zuhörer als Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der vor exakt einem Monat ebenfalls auf dem Marktplatz aufgetreten ist.
Vorher spricht allerdings noch Bernd Riexinger aus Stuttgart, neben Frau Akbulut ebenfalls Spitzenkandidat für die Linke. Ihm merkt man die politische Erfahrung schon deutlicher an: Sein Vortrag ist strukturiert, pointiert und setzt gekonnt Spitzen:
Raten Sie mal, wer in diesem Wahlkampf die größte Parteispende erhalten hat? Das waren die Grünen. 300.000 Euro und zwar von einem Hedgefond-Besitzer.
Außerdem habe es über 100.000 Euro von Südwestmetall gegeben, wo auch Rüstungskonzerne vertreten sind. Aus dem Publikum gibt es laute Buh-Rufe. Herr Riexinger kommentiert süffisant:
Wenn wir auch nur einen Euro von denen bekommen würden, wüssten wir aber, dass wir was falsch gemacht haben.
Ein bisschen tue ihm der CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf leid, sagt Riexinger und kurz herrscht verwunderte Stille. Dann erklärt er, der arme Kerl wisse ja gar nicht, wo er angreifen solle, da die Grünen unter Kretschmann fast alles genauso gemacht hätten, wie es die CDU getan hätte. Die Ohrfeige sitzt. Ob die Aussage so nun stimmt oder nicht, mal dahingestellt – das Publikum feixt.
Werden die kleinen Leute auch gehört?
Die Reaktionen machen klar: Bei vielen ist der erhoffte Wandel, hin zu einer “Politik des Gehörtwerdens”, wie sie zum grün-roten Amtsantritt versprochen wurde, offenbar nie angekommen. Inbesondere die SPD hat das Stimmen gekostet – nach jüngsten Umfragen kommt sie nicht einmal mehr auf 15 Prozent. Nach Einschätzung der Redaktion hat die SPD in der Landesregierung eigentlich weitgehend gute Arbeit geleistet und kann Erfolge vorweisen – die “kleinen Leute” aber, die einen wesentlichen Teil ihrer Stammklientel ausmachen – haben sie dagegen sträflich vernachlässigt.
Das Vertrauen ist völlig zerstört. Die SPD stand historisch schon oft vor einem vermeintlichen Aus – und immer wieder gelang es ihr, wieder hochzukommen. Ob das in Baden-Württemberg ebenfalls gelingt, scheint aktuell fraglich. Denn die Enttäuschung unter den als “Sozialschwachen” und “Geringverdienern” Gebrandmarkten ist überwältigend. Man denke nur über die Begrifflichkeiten nach: Ist jemand “sozial schwach”, weil er in Armut lebt? Und macht das skrupellose, aber gut “verdienende” Spekulanten zu den besseren Menschen?
Wunsch nach Veränderung
Es hat sich viel Frust angestaut und der Protest wird überwältigen. Grünen, SPD und CDU steht eine Denkzettelwahl bevor, die sich gewaschen hat. Davon wird in erster Linie die AfD profitieren, der es gelungen ist, sich als Partei des Protests zu stilisieren und der viele Wähler ihre Stimme nicht geben werden, weil sie inhaltlich wirklich vom Programm überzeugt sind, sondern weil sie wollen, dass sich “verdammt noch mal etwas verändert”.
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Der Linken ist es in Baden-Württemberg hingegen nicht gelungen, aus der Enttäuschung politischen Profit zu schlagen – dabei vertritt die Partei schon seit Jahren Forderungen, die aktuell dringlicher denn je sind: Ganz vorne steht dabei der soziale Wohnungsbau, bei dem es nicht erst seit den steigenden Flüchtlingszahlen Handlungsbedarf gibt. Unter der CDU wurden Wohnraumprogramme abgeschafft unter grün-rot nicht wieder eingeführt: In den vergangenen fünf Jahren hat faktisch überhaupt kein sozialer Wohnungsbau unter der Landesregierung stattgefunden.
Wohnraum fehlt
Allerdings wurden über 20.000 preisgünstige Wohneinheiten der LBBW an die Augsburger Patrizia verkauft – die fehlen heute bitterer denn je: Kommunen und Städte wie Weinheim werden heute an den Rand ihrer finanziellen Handlungsfähigkeit gebracht, weil sie für Millionenbeträgte neue Flüchtlingsheime errichten müssen, ohne dafür nennenswerte Unterstützung vom Land zu bekommen – mit Glück wird ein Viertel der Kosten erstattet. Bernd Riexinger macht für diese Zustände in erster Linie Finanzminister Nils Schmid (SPD) verantwortlich und sagt:
Die SPD ist als soziales Gewissen in der Landesregierung völlig ausgefallen.
Wieder gibt es brandenden Beifall. Die Abgründe, die sich zwischen den Sozialdemokraten und ehemaligen Sympathisanten aufgetan haben, wirken kaum noch überwindbar. Viele im Publikum wirken verbittert, andere regelrecht feindselig oder gehässig. Ein Großteil der Anwesenden zeigt aber vor allem eines: Entschlossenheit, gegen “soziales Elend” vorzugehen.
Das wird ganz besonders deutlich, als Sahra Wagenknecht ihre Rede hält. Eine gute Dreiviertelstunde haben ihre Vorredner geredet, teils war das langatmig und etwas verfahren und die Temperaturen sind freundlich gesagt frisch. Trotz dieser Umstände gelingt es Frau Wagenknecht das Publikum schon mit ihren ersten Sätzen mitzureißen:
Baden-Württemberg ist eigentlich viel zu schön, als dass im Landtag nur Parteien der sozialen Kälte vertreten sein sollten.
Sie sagt das unaufgeregt, lächelt dabei, wirkt ruhig und zeigt dennoch eine klare Haltung. Stürmischer Beifall. Die Gesellschaft werde immer tiefer gespalten. Die Linke stehe für den Zusammenhalt, auch in schwierigen Zeiten. Die Wahlen am Sonntag wären auch ein Signal an die Bundespolitik: Eine Linke im Landtag würde den Druck steigern, soziale Themen nicht länger liegen zu lassen.
“Die Flüchtlinge sind nicht am sozialen Elend schuld”
Das sei bitter nötig, denn gerade hier gebe es etliche vernachlässigte Brennpunkte, sagt Frau Wagenknecht. Die Politik der Bundesregierung sei hier “höchst unverantwortlich”, denn die Interessen der Ärmsten würden gegeneinander ausgespielt werden: Gerade vor dem Hintergrund der “sogenannten Flüchtlingskrise” führe das zu Problemen und Fremdenfeindlichkeit:
Ja, es gibt zu viel soziales Elend, auch in Deutschland. Aber das ist eine Entwicklung, die jetzt schon 15 Jahre andauert. Glaubt irgendjemand ernsthaft, wenn keine Flüchtlinge da wären, würde es ihm besser gehen? Die Armen hätten genauso wenig Geld und auf ihre Kosten würden die Reichen weiterhin Renditen machen. Ohne einen Wechsel in der Politik wird sich daran mit und ohne Flüchtlinge nichts ändern.
Ihre Anhänger im Publikum nicken energisch mit dem Kopf, es gibt frenetischen Applaus. Nur die Linke wolle – schon seit Jahren – die Fluchtursachen bekämpfen. Andere Parteien würden zwar das gleiche von sich behaupten – aber tatsächlich mit ihren Forderungen nicht die Ursachen, sondern die Flüchtlinge selbst bekämpfen.
Schaufensterpolitik
Frau Wagenknecht spricht von einer “fürchterlichen Heuchelei”: So würde Merkel ihr Handeln als moralisch darstellen – und gleichzeitig einem “türkischen Despoten”, unter dessen Herrschaft “reihenweise Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen” stattfänden, den Beitritt in die EU in Aussicht stellen, dafür dass er die “Drecksarbeit” übernehme, die ihrem Image schaden könnte:
Wenn Sie es wirklich ernst meinen, mit ihren Friedensbemühungen, sollen sie doch zu allererst einmal das Geschäft mit dem Tod beenden.
Stattdessen würden weiterhin Waffen in Krisengebiete und Unrechtsstaaten exportiert. Und dann wundere man sich scheinheilig, dass immer mehr Flüchtlinge aus ihrer Heimat vertrieben würden. Spätestens seit dem Afghanistan-Einsatz, wo die Taliban heute mehr Rückhalt denn je in der Bevölkerung habe, müsse klar sein:
Krieg ist kein Mittel gegen Terror, Krieg ist Terror.
Wieder gibt es begeisterten Applaus. Frau Wagenknecht lässt kein gutes Haar an der Bundesregierung. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble wird hart angegangen. Während Kommunen überall in Deutschland verarmen, mache der Bund nicht nur keine Schulden, sondern zwölf Milliarden Euro Überschuss. Die Städte und Gemeinden hätten davon bislang nichts zu sehen bekommen, sondern würden weiterhin mit ihren Aufgaben allein gelassen werden:
Wenn dann freiwillige Leistungen gestrichen werden, trifft das wieder die Armen am stärksten. Und dann wundert man sich, wenn Unmut aufkommt? Wenn Schäuble die schwarze Null im Bund zum obersten Gebot erklärt, dann muss er sich auch anhören, dass er braunen Nullen in die Hände spielt.
Die “rechten Rattenfänger” würden die Flüchtlinge zum Sündenbock für dieses Elend erklären – tatsächlich hätten die Flüchtlinge aber die geringste Schuld daran und die Entwicklungen hätten schon weit länger als vor zwei Jahren begonnen.
Etwa beim Thema Altersarmut. Die Bundesregierung habe vorgerechnet, dass man bei 45 Jahren Vollbeschäftigung immer noch einen Stundenlohn von elf Euro bräuchte, um im Rentenalter knapp über dem Existenzminimum leben zu können. Trotzdem mache keiner Anstanden, den “erbärmlichen” Mindestlohn zu erhöhen:
Was ist das für eine schäbige Politik, wenn sie zulässt, dass Millionen von Menschen schon heute fest damit rechnen müssen, im Alter in Armut zu leben?
Damit hat Frau Wagenknecht offenbar einen Nerv getroffen – euphorischer Beifall. Ein paar Zuschauer haben Tränen in den Augen. Frau Wagenknecht macht weiter:
Wer will denn in einer Gesellschaft leben, in der eine Mehrheit ihren Wohlstand verliert, während bei ein paar wenigen die Dividenden sprudeln?
Das reichste Prozent besitze als die restlichen 99 Prozent. Trotzdem halte Sigmar Gabriel eine Reichensteuer für “nicht zeitgemäß”:
Wie groß soll die Kluft denn bitte noch werden, damit die Politik anfängt, sich dort das Geld zu holen, wo es sich stapelt?
Sie kommt ebenfalls auf Parteispenden zu sprechen – die nennt sie “legale Korruption”. Die Einflussnahme der Reichen und Mächtigen auf Medien und Politik sei unerträglich. Die Linke hingegen habe “noch keinen Cent von Banken oder Rüstungskonzernen” angenommen, sagt sie mit unverhohlenem Stolz. Sie schließt mit den Worten:
Wenn uns am Sonntag alle wählen, die uns mögen, dann sind wir auch in Baden-Württemberg im Landtag.
Frau Wagenknecht hat schließlich nur eine gute halbe Stunde gesprochen – sie erntet minutenlangen Applaus und im “roten Mannheim” zeigen sich die Zuhörer deutlich euphorischer als bei Außenminister Steinmeier, dem vermeintlich beliebtesten Politiker Deutschlands. Was für eine Entwicklung.