Limburgerhof, 07. April 2016. (red/cr) Kinder brauchen eine Familie. Manche Familien sind mit ihren Kinder allerdings überfordert. Um Kindern und Eltern zu helfen gibt es Pflegefamilien, die Kinder kurzfristig aufnehmen. Die Familie Geis ist eine davon. Täglich lässt sie sich mit großer Herzlichkeit auf die Kinder ein – auch, wenn dazu oft sehr viel Durchhaltevermögen gehört.
Von Christin Rudolph
Klaus Geis und Hiltrud Prager kommen beide aus großen Familien und wollten auch immer selbst eine große Familie haben. Das Paar hat zwei eigene Kinder: Paul ist 22, Fe-Marie 17.
Die Familie ist aber noch viel größer.
Vor 20 Jahren hat sich das Paar entschlossen, fremde Kinder bei sich aufzunehmen, die eine Familie brauchen – Pflegekinder.
Großer Schritt zur großen Familie
Damals arbeitete Klaus Geis als Spiel- und Freizeitpädagoge im LuZiE, dem Ludwigshafener Zentrum für individuelle Erziehungshilfen. Diese städtische Einrichtung vermittelt unter anderem Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien, wenn ihre leiblichen Eltern mit ihnen überfordert sind.
Ein Netz von Pflegestellen gab es zu der Zeit nicht – das musste erst aufgebaut werden. Naheliegend, dass zuerst unter den Fachkräften von LuZiE nach geeignete Personen gesucht wurde. Nach einigem Überlegen erklärte sich das Paar bereit, Kindern ein neues Zuhause zu geben.
Wer jetzt denkt, die beiden wären in ein Kinderheim spaziert und hätten sich ein Kleinkind ausgesucht, der liegt falsch.
Eine Familie für alle Fälle?
Nur eine von zehn Familien, die sich als Pflegestelle bewirbt, wird tatsächlich eine. Denn viele wissen nicht, was auf sie zukommt.
Erst einmal muss man Informationen über sich preisgeben. Zu so ziemlich allem – Aktivitäten in Vereinen oder Kirchen, der Familiensituation, den Vorerfahrungen.
Man wird als Familie wirklich auf Herz und Nieren geprüft,
meint Herr Geis. Können Sie sich vorstellen, mit Behinderten zu arbeiten? Oder mit Kindern, deren Eltern drogenabhängig sind?
Behutsame Annäherung
Sind diese ersten Hürden genommen, werden die Bedürfnisse der Kinder und die Erwartungen der Familien abgeglichen.
Wir suchen eine Familie für ein Kind – und nicht andersherum.
Passt eine Familie zu einem Kind, lernt man sich in Annäherungstreffen kennen. Und auch wenn alles gut funktioniert und das betreffende Kind schließlich bei einer Pflegefamilie einzieht, bleibt die Betreuung und Absprache zum LuZiE eng.
Alle vier bis sechs Wochen findet ein Gespräch mit einem LuZiE-Mitarbeiter statt, einmal jährlich werden die Lebensbedingungen zusätzlich vom sozialen Dienst kontrolliert, drei bis viermal jährlich bekommt das Pflegekind Besuch von seinem Vormund.
Alltäglichkeiten werden zum Problem
Der Kontakt zur Herkunftsfamilie gestaltet sich von Fall zu Fall anders – von gar nicht, weil gerichtlich untersagt, bis hin zu mehrmals in der Woche.
Hiltrud Prager erinnert sich, anfangs seien sie sehr blauäugig an das Thema herangegangen. Ein Kind, das braucht Liebe und ein Zuhause – das können wir bieten, haben sie sich gedacht.
So einfach war das dann doch nicht.
Die Pflegemutter berichtet, als sie ihre ersten zwei Pflegekinder hatten, sei sie für ein dreiviertel Jahr jeden Abend zuhause geblieben. Als sie schließlich doch einmal mit einem Kollegen abends wegging, sei eines ihrer Pflegekinder sofort in Tränen ausgebrochen.
Das Urvertrauen fehlt
Die Kinder hätten kein Vertrauen, dass sie wieder zurückkommt – auf ihre leiblichen Eltern können sich die Kinder in aller Regel nicht verlassen. Die Herkunftsfamilien sind mit ihrem Kind oder ihren Kindern überfordert. Gewalt, Drogen und sexueller Missbrauch sind Teile der Geschichten vieler Kinder.
Herr Geis arbeitet immer noch bei LuZiE, inzwischen in der Verwaltung, und seine Frau ist Erzieherin. Beide haben also die pädagogische Expertise, um auch Kinder aufzunehmen und professionell zu betreuen, die traumatisiert oder behindert sind. Damit sind sie eine sogenannte sonderpädagogische Pflegestelle.
Viele Kinder haben Verhalten, das in den meisten Familien als selbstverständlich gilt, nie gelernt. Weil es nicht vorgelebt wurde.
Geduldig sein und lernen
Ein respektvoller Umgang etwa fehlt in vielen Herkunftsfamilien. Da kann es vorkommen, dass zum Beispiel Eigentum der Familie absichtlich zerstört wird. Die alltäglichsten Tätigkeiten können zu Problemen und Konflikten führen. Warum sollte denn ausgerechnet ich den Tisch decken?
Die Kinder können einen an seine Grenzen bringen,
berichtet Herr Geis. Durchhaltevermögen ist eine Tugend aller Pflegefamilien. Doch solche Herausforderungen seien auch eine Bereicherung für die Pflegeeltern. Herr Geis erzählt, er habe sich durch seine Tätigkeit als Pflegevater persönlich weiterentwickelt – seine eigenen Anteile an den Problemen gesehen und daran gearbeitet.
Bereit für Notfälle
Und bei ihm ist das nicht nur eine Floskel. Pflegekind Marco rennt herum, schreit durchs Haus und verlangt immer wieder Aufmerksamkeit, auch wenn seine Pflegeeltern gerade im Gespräch sind.
Eigentlich sollte Marco nicht lange bleiben. Er kam in Bereitschaftspflege zur Familie Geis. In seiner früheren Familie war die Situation so schlecht, dass er dort sofort weg musste.
Bei solchen Fällen organisiert das LuZiE in kürzester Zeit – meist innerhalb von zwei Stunden – eine vorläufige Unterkunft für die Kinder. Die Kinder sind unter sieben Jahren alt und sollen eigentlich maximal ein halbes Jahr in dieser Familie leben. Bis entschieden ist, wie es für sie weitergeht.
Wenn es anders kommt als man denkt
Familie Geis unterscheidet daher sehr klar zwischen Kindern in Bereitschaftspflege und Pflegekindern. Pflegekinder gehören zur Familie, alle anderen sind nur Gäste und werden auch so behandelt.
Wenn ein Kind Mama oder Papa sagt sagen wir sofort “Wir sind Hiltrud und Klaus”,
beschreibt Frau Prager den Umgang mit solchen Kindern, die in absehbarer Zeit wieder gehen. Dass das in der Praxis nicht immer genauso funktioniert, zeigt ihr Marco.
Marco ist mittlerweile seit sieben Jahren bei Familie Geis. Dass Kinder aus der Bereitschaftspflege zu “richtigen” Pflegekindern werden, die bei der Pflegefamilie bleiben bis sie selbstständig sind, kommt öfter vor.
Kein Einzelfall
Denn das Ziel ist zuerst immer, den Kindern ein gutes Leben bei ihren leiblichen Eltern zu ermöglichen und die Familie zu unterstützen. Allerdings gibt es immer wieder Fälle wie Marco, bei denen aus verschiedensten Gründen eine Rückkehr nicht möglich ist.
Herr Geis reagiert sehr bestimmt auf Marcos Verhalten und scheint immer im Blick zu haben, was der 8-Jährige treibt. Er wirkt sehr professionell und geht auf jeden ein.
So auch auf Sophia, die einen ganz anderen “Rucksack” zu tragen hat.
Auf Menschen eingehen
Sophia lebt ebenfalls als Pflegekind bei ihnen. Sie ist geistig behindert und kann nicht lesen und schreiben. Die Schule macht ihr aber trotzdem sichtlich Spaß. Beim Abendessen erzählt sie von den vielen Ausflügen in der Schule und was ihre Mitschüler schon wieder angestellt haben.
Bei einem Projekt hat die Klasse Müll im Wald gesammelt und ihn gewogen. Anschließend haben sich die Schüler selbst gewogen, zum Schluss die ganze Klasse. So wurden Umweltschutz und Mathematik in einer praktischen Aktion verbunden, die auch soziale Kompetenzen stärkt.
Sophias Pflegevater bekommt leuchtende Augen, wenn er von den schulische Aktivitäten berichtet. Bei der Auswahl der Schulen für seine Kinder – sowohl die leiblichen als auch die Pflegekinder – habe er immer auf soziale Komponenten geachtet.
Soziale Kompetenz wird großgeschrieben
Einer Schule, bei der Schüler nach Leistung “ausgesiebt” werden, wolle er kein Kind anvertrauen.
Man muss sich überlegen, was man im Leben erreichen will.
Was das Paar mit seiner Erziehung erreicht, zeigen besonders ihre beiden leiblichen Kinder. Paul und Fe-Marie wirken beide viel reifer und reflektierter als viele ihrer Altersgenossen.
Paul sieht immer wieder nach Marco – nicht so laut, nicht ohne Jacke nach draußen in den Regen, feste Schuhe anziehen, ich sagte “feste Schuhe”.
Balance halten
Ganz schön anstrengend – Pflegekinder sind auch Pflegegeschwister, mit denen man seine Eltern teilen muss. Wie sorgt man dafür, dass sich keiner vernachlässigt fühlt?
Das ist die größte Herausforderung – Trauen wir das unseren eigenen Kindern zu?
Herr Geis beschreibt es wie ein Mobile – man muss versuchen, die Balance zu halten.
Das gelingt manchmal, manchmal nicht.
Herausforderung für die ganze Familie
Frau Prager fügt hinzu, es komme nicht auf die Quantität der Aufmerksamkeit an, sondern auf die Qualität.
Ein Moment inniger Nähe ist mehr wert als eine Stunde Hausaufgaben-Theater.
Vor allem Paul ist anzumerken, dass es nicht immer leicht war, seine Eltern mit anderen Kindern zu teilen. Die ersten vier Jahre seines Lebens hatte er sie für sich allein. Seitdem muss er immer wieder zurückstecken, einsehen, dass andere mehr Aufmerksamkeit brauchen.
Besonders als er noch ein Kind war hat es seine Eltern sehr belastet, wenn er sich vernachlässigt gefühlt hat.
Familienmitglieder
Doch trotz der Verantwortung sehen Paul und Fe-Marie die Pflegekinder der Familie als Geschwister an. Auch wenn sie und ihre Eltern wissen, dass Pflegeeltern die Herkunftsfamilie nicht zu 100 Prozent ersetzen können.
Auch bei einer noch so guten Beziehung bleibt die Bindung zwischen einem Kind und Pflegeeltern anders als zu seinen Eltern, so Frau Prager. Pflegekinder, die als solche vermittelt werden, sind oft zehn Jahre alt oder älter.
Da kommt eine fertige Person zu dir, die schon viele Jahre ohne dich gelebt hat. Da fehlt ein Stück.
Die leibliche Mutter bleibe eben die Mutter, egal wie sie sich verhält.
Wissen, wo man hingehört
Wichtig sei es, dass keine Konkurrenz zwischen der Herkunftsfamilie und der Pflegefamilie entsteht.
Wenn alle an einem Strang ziehen wirkt sich das positiv auf die Entwicklung des Kindes aus. Das Verhältnis ist viel entspannter wenn die Kinder wissen, wo sie hingehören.
Die Kinder sollen auf keinen Fall hin- und hergerissen sein. Die ganze Familie erinnert sich noch eindrücklich an einen Jungen, der zurück zu seiner leiblichen Mutter sollte, sich aber vehement dagegen wehrte.
Erwartungen und Abschiede
Fe-Marie erinnert sich: “Das war richtig schlimm – er wollte überhaupt nicht gehen.” Auch für ihre Mutter war das sehr schwer. Sie hätten gewusst, dass es ihm gut gehen würde – er wollte aber nicht gehen. Das macht das Loslassen viel schwerer.
Manchmal muss man einen Schritt in die Professionalität zurücktreten.
Dazu gehört auch, dass Kinder die Familie wieder verlassen – ob geplant oder außerplanmäßig, aus verschiedenen Gründen. Die Pflegefamilie akzeptiert die Entscheidungen, ob sie von Eltern, Gerichten oder den Kindern selbst kommen.
Und wenn ein Kind nur drei Wochen bleibt, hat es schöne Erlebnisse auf die es zurückgreifen kann.
Wichtig sei vor allem die Erwartungshaltung, mit der man sich auf die Kinder einlässt. Wenn man mit Respekt und Toleranz auf sie zugeht und sich einfühlt und mit dem arbeitet, was die Kinder mitbringen, dann kann es klappen.
Kleine Schritte
Immer wieder gibt es Rückschläge. Aber wenn man die Kinder ernst nimmt und ihre kleinen Schritte in die richtige Richtung gehen, dann ist das ein Erfolg.
Fazit der Pflegemutter nach 20 Jahren als Pflegefamilie und knapp 15 Kinder zur Pflege:
Ich bin gelassener geworden.
Zu einigen ihrer Zöglinge halten sie den Kontakt bis heute, eins ihrer ersten Pflegekinder gehört immer noch zur Familie. Das Paar ist sichtlich stolz darauf, wenn von ihnen betreute Kinder mit beiden Füßen im Leben stehen.
Eine bessere Bestätigung für die Arbeit gibt es nicht.
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