Rhein-Neckar/Schwetzingen/Mannheim, 11. Oktober 2014. (red/pro) 600 Schüler/innen, deren Eltern, andere Schüler und Eltern und alle, die sich für das Thema interessieren, ist ein Stein vom Herzen gefallen. Der Amok-Alarm vom Donnerstag war vermutlich ein Fehlalarm. Aus vermutlich kann aber schnell Realität werden – damit heißt es: Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz. Eine Lageeinschätzung.
Von Hardy Prothmann
Die Amok-Taten von Erfurt und Winnenden habe ich als Journalist vor der Rückkehr in den Lokaljournalismus intensiv bearbeitet. Ebenso Emsdetten. Beim aktuellen Amok-Einsatz am Donnerstag in Schwetzingen ist niemand zu Schaden gekommen. Stimmt das? Nicht wirklich. Und es ist auch “Gott-sei-Dank nichts passiert” – es ist sehr viel passiert und das gilt es zu beleuchten.
Amok ist eigentlich das falsche Wort
Zunächst einmal der Begriff Amok. Ursprünglich bezeichnet das indonesich-malayische Wort eine unmittelbare tödliche Raserei, häufig unter Drogeneinfluss, häufig militärisch, wenn ein Gruppe von wenigen mit äußersten Brutalität versucht, möglichst viele Menschen zu verletzten oder zu töten. Bei uns ist das begrifflich als “wie die Berserker” bekannt. Die meisten “School-Shootings”, also “Amok”-Läufe an Schulen, insbesondere bei den oben genannten Fällen, verliefen ganz anders. Es waren kalkulierte, vorbereitete Taten und die “Amok”-Läufer gingen ruhig und systematisch vor. Und alle hatten Schusswaffen. Der Schüler in Emsdetten sogar eine Vielzahl Rauchbomben, von denen er einige gezündet hatte.
Wir verwenden den eigentlich falschen Begriff “Amok” weiter, da er eingeführt ist. Gemeinsames Merkmal von Amokläufen an Schulen ist: Es sind bislang immer junge Männer zwischen 14 und 20 Jahren die Täter gewesen, die Zugang zu Waffen hatten und bei denen eine so gennante “dissoziative” Störung vorlag – häufig verursacht durch Kränkungen und Versagensängste. Auch das passt nicht zum Ursprungswort Amok – fast alle Amokläufe an Schulen finden in westlichen Ländern statt, aus Afrika oder Asien sind sie so gut wie nicht bekannt. Ein weiteres Merkmal ist, dass Amokläufe häufig im ländlichen Raum stattfinden und dort eher in “höheren” Schulen.
Viele potentielle “Amok”-Standorte in der Region
Schwetzingen ist wie Weinheim, Ladenburg, Schriesheim, Hemsbach, Frankenthal, Worms, Speyer und Viernheim in unserer Region ein potenziell gefährdeter Standort – vor allem im Bereich der Realschulen und Gymnasien. Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen fallen aus diesem Raster – entgegen anderer medialer Berichte war die Bluttat in Ludwigshafen kein Amoklauf, sondern ein Racheakt. Es ging nicht darum, möglichst viele Personen zu schädigen, sondern eine. Das ist zwar auch schlimm – macht aber einen enormen Unterschied.
Völlig untypisch ist die Beobachtung eines “Mannes” – so gut wie alle Amokläufe an Schulen wurden von männlichen Schülern dieser Schulen verübt. Nicht von erwachsenen “Männern”. In allen Fällen waren keine Hieb- oder Stichwaffen im Einsatz, sondern Schusswaffen. Insofern lassen sich allein aus der Beschreibung des “mutmaßlichen” Amokläufers Fragen stellen, ob nicht “überreagiert” wurde: Eine schwarze Kleindung macht noch niemand zu einem Attentäter. Schwerter, die sich dann als “länglicher Gegenstand” entpuppen, sind nicht “üblich” – die angebliche Pistole war dann doch nicht mehr genau gesehen worden. Ein wichtiges Kriterium fehlte: Ein Rucksack, in dem meist Munition und weitere Waffen transportiert werden.
Taugen die Notfallpläne und Handlungsanleitungen?
Die Polizei geht davon aus, dass die vier Schüler keinen bösen Scherz getrieben haben, sondern die Lage als “bedrohlich” empfunden haben. Fraglich ist die Rolle der Lehrerin, die den Alarm ausgelöst haben sollte, solange, bis diese befragt worden ist, was noch aussteht. Hat sie die Lage falsch eingeschätzt?
Man könnte nun sagen: Lieber falsch als einen Fehler machen, durch den echte Opfer entstehen. Und hier wird es eng. Die Polizei und Sicherheitskräfte haben einen konsequenten Einsatz gefahren, der, soweit wir das aus den von uns erlebten Perspektiven und der recherchierten Informationen beurteilen können, sehr überzeugend schnell und konsequent war. Worüber man sich aber keine Illusionen machen muss: Hätte es einen entschlossenen Amokläufer gegeben, wäre mit großer Wahrscheinlichkeit mit Verletzten und Toten zu rechnen gewesen – trotz des Einsatzes der Polizei.
Keine falsche Sicherheit vortäuschen
Robert Steinhäuser (19) erschoss am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium innerhalb von 20 Minuten 16 Menschen – darunter einen Polizisten – bevor er sich selbst tötete. Das einzige, was die Tat hätte verhindern können, wäre mehr Aufmerksamkeit im Vorfeld gewesen. Vermutlich lag bei Steinhäuser eine “verzweifelte” Situation vor, da er durch einen Schulverweis keinen Schulabschluss machen konnte – genau geklärt werden konnte das nicht. Es hat aber wohl, wie bei anderen Taten auch, Auffälligkeiten im Vorfeld gegeben. Die von vielen Medien verbreitete Hypothese, der Counter-Strike-Spieler habe durch das Spiel das Töten geübt, hat keinerlei wissenschaftlich bestätigte Basis. Wie in Winnenden hatte Steinhäußer als Sportschütze Zugang zu Waffen – das ist der entscheidende Punkt. Ohne Waffe kein “Shooting”. Es gibt noch eine weitere Fehlinformation zu Erfurt: Viele Medien berichteten über die Pump-Gun mit Ladehemmung, die der Schütze dabei hatte. Und es wurde spekuliert, dass er mit einer funktionsfähigen Waffe noch mehr Menschen hätte töten können. Vermutlich ist das Gegenteil richtiger: Hätte er die Pump-Gun benutzen können, hätte es weniger Tote gegeben, weil eine solche Waffe aus kurzer Distanz fürchterliche Verletzungen erzeugt, die durchaus zum Schock beim Täter führen können.
Dringende Fragen zum Einsatz
Der Einsatz von Schwetzingen wirft weitere Fragen auf: Bis mindestens 13 Uhr war noch reger Betrieb in der zur Schimperschule benachbarten Carl-Theodor-Schule, bevor die Anweisung durch das Schulamt kam, alle Schulen zu verschließen. Wieso so spät? Wieso gab es vor anderen Schulen keine Streifenwagenbesatzungen? Immerhin wurde bis zum Bahnhof und im weiteren Umfeld gesucht – überall waren Schüler/innen auf der Straße unterwegs.
In den Klassenräumen muss die Lage teils “dramatisch” gewesen sein – nichts zu trinken, keine Möglichkeit auf Toilette zu gehen, keine Informationen, was los ist. Dreieinhalb Stunden banges Warten. Dafür aber Schüler, die per Smartphone telefonieren oder “Informationen” suchen. Irgendein Vollidiot hatte auf Facebook geschrieben, es gäbe bereits mindestens einen Toten. Weitere Falschmeldungen machten die Runde – das sind keine Informationen, sondern das ist Psychoterror. Telefonierende Schüler mit besorgten Müttern am Ohr machen die Lage vor Ort nicht besser – ganz im Gegenteil. Hierzu scheint es keinerlei Vorschriften zu geben – daraus muss man lernen und Konsequenzen ziehen.
Was, wenn ein Täter mit Rauchbomben vorgeht wie in Emsdetten? Oder noch schlimmer mit Brandbomben? Dann sind abgeriegelte Klassenzimmer potentielle Todesfallen. Müssen die Sicherungsvorkehrungen nicht auch das Queren der Flure beinhalten, damit ein Täter sich nicht frei bewegen kann?
Insbesondere Medien müssen sich verantwortlich zeigen
Insbesondere die Medien spielten in allen Fällen eine sehr unrühmliche Rolle und haben die Menschen mit ihrer Berichterstattung häufig zusätzlich verängstigt, bis beschädigt. Wenn beispielsweise ein MM-Redakteur aktuell fordert, “Falschmeldungen” von Facebook-Nutzern müssten bestraft werden, kann man gleichzeitig weiter fordern, ob Medien, die solche Meldungen zulassen, weil sie geil auf Kommentare sind, nicht auch bestraft werden sollten. Das ist natürlich Quatsch – es geht darum, sich verantwortlich zu verhalten und mit einer disziplinierten Moderation die Lage nicht noch emotional zu eskalieren. Und vor allem auch nicht in einer Nachberichterstattung den Boulevard zu bedienen.
Die Polizei verfügt über einen Facebook-Account und könnte diesen nutzen, um dort Angehörige zu informieren. Vor Ort wurde das in Schwetzingen sehr gut erledigt. Großes Lob dafür.
Ob die Amok-Pläne taugen, muss nun Anhand des Einsatzes von Schwetzingen nochmals kontrolliert werden – nicht nur in der Betrachtung der Einsatzkräfte, sondern vor allem beim Ablauf in den Schulen. Denn auch ohne einen Schuss entstehen emotionale Verletzungen – diese gilt es so gut als möglich zu vermeiden.
“Merkwürdigkeiten” sollten gemeldet werden
Sehr von Vorteil wäre, wenn sich der beobachtete Mann bei der Polizei melden würde – er hat nichts zu befürchten und wird mit Sicherheit nicht für den Einsatz verantwortlich gemacht. Es würde aber sehr helfen, wenn man wüsste: Ok, da gab es einen Mann, der hatte was “Langes” dabei, hat sich nichts gedacht, keine böse Absicht gehabt. Denn dann wüsste man, dass “da draußen niemand lauert”. Doch auch ohne diese Meldung ist es unwahrscheinlich, dass ein potenzieller Täter aktuell in Schwetzingen “frei herumläuft” – die Merkmale und Umstände passen eher nicht.
Trotzdem darf der Fehlalarm nicht dazu führen, dass man sich “nicht mehr traut, etwas Verdächtiges zu melden”. Ganz im Gegenteil – Schüler, die auffällig sind, sollten angesprochen werden. Mitschüler sollten sich Eltern und Lehrern anvertrauen, wenn sie “Merkwürdigkeiten” feststellen. Und man sollte Ruhe bewahren – es gibt viele Schüler, die in nicht einfachen Situationen sind. Die allerwenigsten werden zu Killern. Aber es gibt welche, die zur Waffe greifen – hier hilft nur Aufmerksamkeit im Vorfeld, wenn der Entschluss zur Tat getroffen ist und diese begonnen wird, hilft nur noch ein konsequenter Einsatz, um den Schaden möglichst zu begrenzen.
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