Mannheim, 11. Februar 2016. (red/ms) Zuerst lockert Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Stimmung am Mannheimer Marktplatz mit einer Menge Humor und Selbstironie. Dann wird er todernst – und spricht von der größten Krise der EU seit ihres Bestehens. Die Politik sei nun in der Pflicht, ehrlich zu sagen, was möglich ist – und was nicht: „Einfache Lösungen gibt es nicht“, sagt er. „Wer das behauptet, hat die Komplexität der Lage nicht verstanden“. Man müsse sich auf harte und mühsame Arbeit einstellen – um den Frieden in Europa zu bewahren, der lange als selbstverständlich galt.
Von Minh Schredle
Ein wenig denkwürdig ist es schon: Frank-Walter Steinmeier gehört zu den beliebtesten Politikern Deutschlands. 70 Prozent der Befragten sind laut dem jüngsten ARD-Deutschlandtrend mit seiner Arbeit zufrieden. Das ist der aktuelle Spitzenwert – kein anderer deutscher Politiker erreicht momentan so ein gutes Ergebnis. Zum Vergleich: Mit der Arbeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel sind gegenwärtig etwa 52 Prozent – also mehr als die Hälfte der Bevölkerung – unzufrieden.
Frank-Walter Steinmeier ist gewissermaßen das Aushängeschild der SPD, deutlich beliebter als der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und nun kommt er in die vermeintlich „rote Hochburg Mannheim“ – und nur rund 200 Besucher wollen sich anhören, was er zu sagen hat. Das ist sinnbildlich für die Krise der ehemaligen Volkspartei, die in Baden-Württemberg nach jüngeren Umfragen nur noch auf 13 bis 15 Prozent der Stimmen kommt und damit nur noch wenige Prozentpunkte vor der AfD liegt.
Eingestanden: Es ist kalt. Am Marktplatz hat es am späten Nachmittag Temperaturen von gerade mal fünf Grad. Herr Steinmeier spricht gegen 16:30 Uhr, also zu einer Zeit, zu der viele durch die Arbeit verhindert sein könnten. Nichtsdestotrotz: Allein, dass der Andrang so überschaubar ist, verdeutlicht, wie tief die Krise ist, in der die SPD sich aktuell befindet.
Herr Steinmeier wirkt dennoch gut gelaunt. Er freut sich sogar, dass „so viele dem Wetter getrotzt haben“. Die letzten Monate sei er fast nur noch in Krisengebieten unterwegs – da sei es schön, mal wieder nach Mannheim zu kommen:
Wer in Zeiten wie diesen einen Außenminister einlädt, der muss die gute Laune schon selbst mitbringen.
Einige lachen. Die Stimmung wärmt sich etwas auf, bleibt aber noch immer angespannt. Traditionell sei man vom Aschermittwoch „polternde politische Reden“ gewohnt, sagt Herr Steinmeier. Das könne er sich heute nicht leisten – dafür seien die Herausforderungen, vor denen Europa und die Welt aktuell stehen, zu ernst. Ein paar nicken in trauriger Zustimmung.
Vor gut zwei Jahren hat Herr Steinmeier seine zweite Amtszeit als Außenminister angetreten. „Niemand hätte sich damals vorstellen können, was auf uns zukommt,“ sagt er. Der Aufstieg der Rechtspopulisten, die Griechenlandkrise, die Lage in der Ukraine, die Annexion der Krim, der drohende Brexit der Briten und die weltweiten Fluchtbewegungen:
Die Europäische Union steckt in der tiefsten Krise ihres Bestehens. Wer hätte es für möglich gehalten, dass wir uns hier noch einmal die Frage nach Krieg oder Frieden stellen müssen?
Es wird etwas unruhig im Publikum. Ein Zuschauer hält ein Schild hoch, auf dem es heißt: „Türkei hilft IS. Deutschland hilft Türkei.“ Wutentbrannt schreit er Herrn Steinmeier an:
Das ist doch alles seit fünf Jahren bekannt!
Vereinzelt gibt es dafür Zustimmung, bei vielen im Publikum macht sich der allgemeine Frust auf „die Politik“ bemerkbar. Herr Steinmeier reagiert gelassen und souverän:
Es gibt eine ganze Menge von Menschen, die all die Krisen kommen sehen haben, aber nichts dagegen getan haben. Es tut mir leid, dafür habe ich keinen Respekt.
Dafür gibt es tosenden Beifall. Später wird Herr Steinmeier sagen: „Wer etwas in der Außenpolitik wirklich bewegen will, kann das nicht mit der Fernbedienung von der Sofaecke machen.“ Auch diese Aussage wird lautstark bejubelt.
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Herr Steinmeier zitiert Willy Brandt: „Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts“ – das verstehe er als „historisches Erbe, das wir weitertragen müssen“. Ja, es seien schwierige Zeiten, sagt er. Aber man dürfe die Hoffnung nicht verlieren, dass politische Lösungen möglich sind – auch wenn es aktuell keine einfachen Antworten gebe. Die Politik müsse klar und ehrlich benennen, was möglich ist – und was nicht:
Es gibt keinen Schalter, den man umlegen kann und plötzlich sind alle Probleme gelöst.
Jedem sei klar, dass die Flüchtlingszahlen sinken müssen. Abschottung und geschlossene Grenzen wären aber keine tragfähigen Lösungen. Nicht nur aus moralischen Gründen – sondern auch aus wirtschaftlichen:
Geschlossene Grenzen wären das schlimmste, was Baden-Württemberg passieren könnte.
Als Exportweltmeister profitiere Deutschland wie kaum ein anderes Land vom europäischen Freihandel. Dies gelte für die vielen mittelständischen Unternehmen in Baden-Württemberg ganz besonders. Mit Grenzkontrollen könnte der Wirtschaft allein durch verzögerte Lieferzeiten ein Schaden in Milliardenhöhe entstehen. Wie groß wäre wohl der Katzenjammer über all die verlorenen Arbeitsplätze, fragt Herr Steinmeier.
Man müsse nun noch mehr als sonst geschlossen zusammenstehen – vor allem gegen „Parolen-Drescher“ und „Brandstifter“ wie von der AfD:
Ich sage Euch: Wer über Menschen als „sozialen Bodensatz“ redet, wer über die „deutsche Volksgemeinschaft“ und Deutschlands „tausendjährige Zukunft“ schwadroniert, wer den Schießbefehl an der Grenze erteilen will, dem geht es nicht darum, Deutschland zu beschützen. Der verachtet unsere Demokratie, der zerstört, was uns stark macht.
Für die weltweiten Krisen gebe es keine nationalen Antworten, sondern nur internationale.
Man müsse Brücken bauen – und dafür auch den Dialog suchen, sogar mit den politischen Gegnern. „Die Ukrainekrise ist nur zu lösen, wenn wir uns auf Verhandlungen mit Russland einlassen.“
Keine simplen Lösungen
Für diesen Kurs werde er oft kritisiert, sagt Herr Steinmeier. Vor diesem Hintergrund geht er auch auf seine umstrittenen Besuche in Saudi-Arabien, dem Iran und Syrien ein.
„Ohne Verhandlungen wird es keine Lösungen geben,“ sagt er. Und:
Wenn ich alle Länder, mit deren Politik ich Probleme sehe, nicht mehr besuchen würde, dann hätte ich tatsächlich mehr Zeit, unsere tollen Beziehungen zu Luxemburg noch weiter zu pflegen.
Das sorgt für großes Gelächter. Herr Steinmeier wird ernst: „Wenn wir die Bürgerkriege im nahen Osten nicht beenden, werden die Flüchtlingsbewegungen nicht abreißen.“ Das sei sicher nicht von heute auf morgen möglich und eine gewaltige Herausforderung:
Vom deutschen Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, hat Willy Brandt einmal gesagt. Das gilt auch heute noch. Nur ist es nicht mehr genug: Wir müssen jetzt harte, mühsame Arbeit für den Frieden leisten.
Beifall brandet auf. Der Vortrag von Herrn Steinmeier war hochgradig professionell, voller Pathos und Charisma. Die allermeisten Anwesenden sind begeistert. Ein Teil bleibt aber sichtlich unzufrieden. Unter ihnen sind viele ehemalige SPD-Anhänger, die ihre politische Heimat verloren haben. Ein paar von ihnen erklären, sie würden sich heute eher von der Linkspartei oder sogar von der AfD angesprochen fühlen.
Der Großteil sagt aber, aktuell sei überhaupt keine Partei für sie wählbar. Sie haben den Glauben in die Politik verloren. Wie es gelingen soll, dieses Vertrauen wiederherzustellen, ist wohl eine weitere dieser Fragen, auf die es keine einfache und schnelle Antwort gibt.