Rhein-Neckar, 11. Mai 2018. (red/kf) Am 13. Mai ist Muttertag. Ein schöner Anlass für eine längere Radtour. Unser Tipp exklusiv an alle unsere Leserinnen: Lesen Sie unseren Text vor dem Ausflug und justieren Sie den Sattel richtig, damit unterwegs auch echte Freude aufkommt!
Von Dr. Kerstin Finkelstein
Schließlich, „kann (es) keinem Zweifel unterliegen“, so erkennt Medizinalrat Röver klug bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert , „dass, wenn die betreffenden Individuen es wollen, kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie beim Radfahren sich darbietet. Wenn man, was vorgekommen ist, ganz absieht von denjenigen Fällen, in denen der Sattel in ganz besonderer Absicht mit einem nach oben gekrümmten Vorderteil versehen wurde, so bietet auch sonst der Sitz, rittlings mit ausgespreizten Schenkeln, ausreichende Möglichkeit, solchem Hange nachzugehen.“
Empörend war es also, einer Dame zuzusehen, die einem solchem Treiben auf offener Straße nachkam. „Wenn das zarte Geschlecht absolut das Bedürfnis zur Betätigung seiner Strampelkraft fühlt, so kann es diese ebenso gut an der Nähmaschine efektuieren“, so der Alternativvorschlag (Zit. nach Elmar Schenkel, Cyclomanie. Das Fahrrad und die Literatur, Isele, S. 69f.).
Libidinöse Bedenkenträgerei vs. neue Freiheit
Aber nicht nur höchste Freude erwartete Frauen auf dem in Mode kommenden Fahrrad – hinzu kam noch die Freiheit: Das Rad läutete das Ende des einschnürenden Korsetts ein, die Frauen regelmäßig zur Ohnmacht trieben; es ermöglichte, kontrollierende Anstandsdamen abzuhängen und ebnete den Weg von den langen Reifröcken zu den bislang absolut unstatthaften Hosen.
Potz Blitz, Sodom und Gomorrha! Doch alle libidinöse Bedenkenträgerei konnte die Damen nicht aufhalten: Sie begannen aufs Rad zu steigen und sich unabhängiger zu machen vom häuslichen Rahmen der Eltern oder des Ehemanns.
Das Fahrrad als Transportmittel der Frauenbewegung
Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frau mehr beigetragen als alle Frauenbewegungen zusammen,
behauptete die Wiener Frauenrechtlerin Rosa Mayreder um 1905 (Zit. nach Elmar Schenkel, Cyclomanie. Das Fahrrad und die Literatur, Isele, S. 61).
Ihre Beziehung zum Rad hatten sich Frauen indes hart erkämpft:
Und endlich wurde auch eines schönen Nachmittags vom Blücherplatz aus gestartet. Sofort sammelten sich hunderte von Menschen, eine Herde von Straßenjungen schickte sich zum Mitrennen an, Bemerkungen liebenswürdigster Art fielen in Haufen, kurz, die Sache war das reinste Spiessrutenlaufen, so dass man sich immer wieder fragte, ob das Radfahren denn wirklich alle die Scheusslichkeiten aufwöge, denen man ausgesetzt war,
schildert etwa die Berlinerin Amalie Rother ihre erste Radtour im 1890er Jahr (zitiert nach : Amalie Rother, Das Damenfahren. In: Paul von Salvisberg (Hg.), Der Radsport in Bild und Wort, München 1897 (Reprint Olms Presse, Hildesheim 1980), S. 111).
Eigentümlich war dabei, dass am rüdesten und gemeinsten sich nicht die unterste Volksklasse benahm, sondern der Pöbel in Glacéhandschuhen. Das Komischste leistete eine alte Dame in Berlin W. Sie stand auf dem Bürgersteig und sah mich ankommen. Ihr Gesicht zeigte ein derartiges starres Entsetzen, dass ich unwillkürlich in langsamstes Tempo fiel und sie mir genau ansah. Während ich ganz langsam bei ihr vorbeifuhr, platzten ihr plötzlich die Worte heraus: ‚Das ist ja gar nicht möglich!‘
Zunächst nur für die betuchte Frau
Ganz unmöglich war das Radfahren zu dieser Zeit nur noch für Arbeiterfrauen. Fahrräder waren so teuer, dass, wenn überhaupt, nur der Mann sich eines leistete oder leisten konnte. Erst mit dem Beginn der Massenproduktion Ende der 1890er, Anfang der 1900er Jahre änderte sich das, ab jetzt stiegen auch Arbeiterfrauen auf den Sattel und nahmen das Ding zwischen ihre Beine.
Damen aus besser situierten Kreisen hatten da schon Abenteuerfahrten unternommen. Margaret Valentine Le Long etwa fuhr 1898 alleine von Chicago nach San Francisco:
Unbeirrt durch die Opposition aller Freunde und Bekannte setzte ich meine Vorbereitungen für die Radreise fort. Diese waren nicht allzu umfänglich. Unterwäsche zum Wechseln, ein paar Toilettenartikel und ein sauberes Taschentuch schnallte ich auf meinen Lenker, und eine geborgte Pistole steckte ich extra in meine Werkzeugrolle. Und so startete ich eines Morgens im Mai unter einem vielstimmigen Chor von Prophezeiungen für gebrochene Glieder, Tod durch Verhungern oder Verdursten, Verführung durch Cowboys oder Skalpiertwerden durch Indianer.
Erstmals um die ganze Welt
Schon vier Jahre zuvor hatte sich die US-Amerikanerin Annie Londonderry auf die Reise gemacht. Als erstem Menschen überhaupt gelangt ihr die Umrundung der Welt auf dem Fahrrad – 1894! Das wollen wir mal festhalten – erste Umrundung der Welt auf dem Fahrrad durch eine Frau!
Wie bei Frauen üblich, geriet ihre Tour in Vergessenheit, stattdessen finden sich im Netz Hinweise „ein von Londonderry behaupteter Abstecher auf die Schlachtfelder des Japanisch-Chinesischen Krieges“ sei „eher unwahrscheinlich – so wie viele andere Geschichten, die sie unterwegs oder nach ihrer Rückkehr erzählte“.
Wie dem auch sei: Heute sind radfahrende Frauen kein er- oder aufregendes Thema mehr. Zwar sucht man auch Meldungen über aktuelle Fahrradrennen meist vergeblich (nennen Sie mir doch mal eine erfolgreiche Radsportlerin! Und jetzt zum Vergleich einen Radsportler…).
Zugleich verliert niemand mehr ein Wort über die Alltagsradlerin. Ob im kurzen Rock, Kostüm oder in Funktionskleidung: Frauen auf Rädern sind selbstverständlich. Hierzulande.
Denn wie es die US-Feministin Susan B. Anthony 1896 formulierte:
Ich stehe da und freue mich jedes mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad sehe. Es gibt Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen.
Und das gefällt bis heute nicht jedem. In manchen Kulturen „schickt es sich“ noch immer nicht für Frauen, ein Rad zu besteigen.
So hat das in Mannheim erfundene Rad also bereits Großes zur Emanzipation der Frau beigetragen. Und die Stadt Mannheim hat diese ganz herausragende Leistung als Ausgangs- und Mittelpunkt der „Frauenbewegung“ historisch einordnend noch nicht entdeckt. Wie schade! Denn das ist doch ein Markenzeichen allererster Güte!
Möge es weiter rollen, das Fahrrad und mit ihm jede Freiheitsbewegung. Als Symbol der Freiheit sollte es eines Tages überall möglich sein, dass Frauen nachts um halb vier sogar im Minirock alleine Radfahren können – und sicher ankommen.