Mannheim, 11. Februar 2016 (red/ae) Schäbig, zwielichtig, runtergekommen, düster. Das verbinden viele mit dem „ältesten Gewerbe der Welt“. Frauen prostituieren sich. Bieten ihren Körper für wenig Geld an. Manchmal an bis zu 20 Männer am Tag. Viele der Mannheimer Sexarbeiterinnen kommen aus dem Ausland. Mit dem Traum von einem besseren Leben.
Von Alina Eisenhardt
Ich stehe in der Neckarstadt-West vor der Beratungsstelle Amalie. Der erste Eindruck ist schlicht und unauffällig. Um eintreten zu können, muss man klingeln. Amalie ist nur für Frauen. Aus Mannheim und der Rhein-Neckar-Region. Frauen, die in der Prostitution arbeiten. 350 Meter entfernt befindet sich die Lupinenstraße. Hier sitzen Frauen hinter Schaufenstern und bieten ihren Körper für Geld an. Die Straßeneingänge haben einen Sichtschutz. Das Geschäft ist zwielichtig.
Bis zu 1.200 Prostituierte in Mannheim
Deutschlandweit gehen circa 200.000 bis 400.000 Frauen der Prostitution nach. Die Polizei schätzt, dass allein in Mannheim 250 bis 300 Frauen als Prostituierte „Geld anschaffen“. Die Einschätzung der Diakonie Mannheim ist drastischer: 500 bis 1.200 Frauen arbeiten voll oder gelegentlich als „Sexarbeiterinnen“.
Die meisten Prostituierten kommen aus dem Ausland
Amalie befindet sich in der Trägerschaft des Diakonischen Werkes Mannheim und finanziert sich durch die Stadt, die Diakonie, das Sozialministerium Baden-Württemberg und durch Spenden. Die Beratungsstelle bietet Unterstützung und Hilfe in allen Lebenslagen. Es gibt ein Frauencafé, eine medizinische Sprechstunde, Beratung bei Schuldenangelegenheiten, bei Schwangerschaftsproblemen, in rechtlichen Fragen sowie zum Ausstieg aus der Prostitution.
„Manche Frauen kommen aber auch einfach nur zum Reden“, sagt Julia Wege. Sie leitet die Beratungsstelle und war maßgeblich an deren Aufbau beteiligt. Wir reden lange und intensiv. Julia Wege ist eine außerordentlich sympathische und engagierte Frau.
Die meisten Prostituierten in Mannheim, erzählt sie, kommen aus dem Ausland. In der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Wer kann, der flüchtet. Der Zustand in ihren Herkunftsländern ist so katastrophal, dass selbst die Prostitution eine bessere Alternative ist.
Doch dieser Traum auf ein besseres Leben wird für viele zum Albtraum. Häufig finden weibliche Armutsflüchtlinge keinen Job. Sind obdachlos. Also prostituieren sie sich. Nur vorübergehend – so ist häufig der Plan.
Menschenhandel: 95 Prozent schaffen nicht freiwillig an
Die Ausbeutungsmöglichkeiten sind enorm groß. 95 Prozent der Frauen arbeiten nach Schätzungen nicht freiwillig. Sie werden gezwungen. Häufig durch verwandte Männer oder den Lebenspartner.
Laut Bundeskriminalamt sind in Deutschland zehn Städte im Fokus des Menschenhandels. Mannheim ist eine davon.
Die meisten wollen nur eins: Raus aus dem „Geschäft“.
Am Monatsanfang werden Obdachlose bedient
Auf das Thema aufmerksam wurde Julia Wege, als sie mit Obdachlosen arbeitete. “Am Monatsanfang kam immer eine Frau im Taxi angefahren. Sie war sehr hübsch. Ich habe mich gefragt, was sie hier machte. Irgendwann wurde mir klar, dass sie sich den Obdachlosen anbot. Sie wusste, dass diese am Monatsanfang ihr Hartz IV bekamen. Seitdem beschäftigte mich das Thema und ich fing an zu recherchieren.”
Die Räume der Beratungsstelle sind hell, sauber und einladend. Das Ambiente wirkt sogar auf mich beruhigend, obwohl ich gar keine Hilfe suche, sondern zum Gespräch hier bin, um darüber zu schreiben. Es gibt eine Dusche, eine Küche und einen Hinterhof, um sonnige Tage zu genießen. “Die Frauen sollen sich hier wohl fühlen. Manche sagen uns, wir haben eine zweite Familie geschaffen”, sagt Julia Wege. Sie lacht. Ich merke ihr die Freude über den Erfolg an.
Es ist kaum zu glauben, dass sich wenige hundert Meter entfernt das Rotlichtmileu befindet. Doch Prostitution findet nicht nur in der Lupinenstraße statt. Sie passiert in bordellähnlichen Betrieben, Laufhäusern, im Escortservice, auf dem Straßenstrich und in Terminwohnungen. Aktuell musste die Stadt Mannheim wieder zwei „Betriebe“ genehmigen.
“Unser Klientel ist vollkommen gemischt.” Sowohl Armutsprostituierte, die zum Duschen und Essen kommen, als auch ehemalig tätige Frauen, die über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen wollen, suchen das Angebot auf. Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt die Nachfrage. Mittlerweile reisen Frauen sogar aus anderen Städten an, beispielsweise Frankfurt oder Speyer.
Viel Kritik und Vorbehalte
Mit Amalie wurde eine Anlaufstelle für Frauen in Not geschaffen. “Anfänglich haben wir sehr viel Kritik bekommen.”, sagte Julia Wege. Die Ablehnung war groß. Julia Wege erzählt das sehr präzise und gefasst. Wenn es ums „Rotlichtmilieu“ geht, sind die Reaktionen meistens heftig.
“Warum brauchen die Nutten denn Hilfe? Die haben sich das doch selbst eingebrockt.” und “Die haben doch schon genug Anlaufstellen”, waren nur einige Dinge, die sich Julia Wege anhören musste. Dazu sagt sie: “Die Frauen würden Anlaufstellen wie das Frauenhaus niemals in Anspruch nehmen. Sie haben viel zu große Angst. Sie kennen ihre Rechte nicht. Viele der Frauen kommen aus Südosteuropa. Sie sprechen kein Deutsch. Die meisten sind Analphabeten.“ Zu Amalie haben viele dieser Frauen Vertrauen aufgebaut.
Auch die Beraterinnen gehen auf die Straße
Amalie unterscheidet sich von anderen Anlaufstellen. Regelmäßig gehen Julia Wege und ihre Kollegin Julia Kempl selbst raus. In die Lupinenstraße. Von Zimmer zu Zimmer. Stellen die Beratungsstelle vor. Von Anfang an wurden die betroffenen Frauen bei Entscheidungen, wie zum Beispiel der Logowahl, miteinbezogen. “Wir möchten die Anlaufstelle so aufbauen, dass sich die betroffenen Frauen wohl fühlen.” Das kann man hier auch.
Bis zu 20 Freier am Tag
„Wohl fühlen“ ist wichtig. Denn die Folgen der Prostitution sind gravierend.
Man kann den physischen und psychischen Verfall regelrecht beobachten.
Prostitution bedeutet Nachtarbeit, ständiger Wohnortswechsel und Verzicht auf Familie und Freunde, sowie ein Leben in völliger Isolation.
Die meisten Frauen haben keine Krankenversicherung. Sie befürchten den Verlust ihrer sexuellen Autonomie sowie ihrer selbst bestimmten Wahl von Arbeitszeit und -ort. Das sind Verpflichtungen, die ein Arbeitsvertrag mit sich bringt. Die Frauen wollen anonym bleiben. Sie haben Angst vor den verbundenen negativen sozialen Konsequenzen.
Bei der medizinischen Sprechstunde können sich die Frauen kostenlos untersuchen lassen.
Manchmal müssen Frauen 20 bis 30 Männer an einem Tag bedienen. Kein weiblicher Körper hält das aus. Die Frauen haben innere Verletzungen wie nach einer Vergewaltigung.
Drogen und Medikamente werden eingesetzt um die Schmerzen zu lindern. Mit fällt immer wieder auf, wie professionell Julia Wege damit umgeht. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was das mit einem selbst macht, wenn man mit so viel Leid zu tun hat. Das kann man nur professionell verarbeiten, sonst nimmt einen das zu sehr mit.
Die Infektionsgefahr ist enorm. Die Freier bieten mehr Geld für ungeschützten Geschlechtsverkehr. Oft stecken die Frauen aufgrund mangelndes Wissens ihren Lebenspartner an – über die Hälfte der Frauen haben einen Lebenspartner oder sind verheiratet. Viele verhüten nicht. “Es kommen Frauen zu uns, die haben bereits zehn Abtreibungen hinter sich.”
Um auszusteigen, muss man tapfer sein
Der Ausstieg dauert häufig drei Monate und länger – denn er ist von vielen Problemen begleitet. Eines davon ist die Wohnungssuche. “Kein Vermieter will eine ehemalige Prostituierte haben. Zu groß ist die Angst, dass das Geschäft in der Wohnung weitergeführt wird.” Deswegen setzte sich die Beratungsstelle für ein Wohnprojekt ein. Der Auftrag wurde bereits bewilligt.
Endlich wieder Mensch sein
Seit der Gründung der Beratungsstelle im Juli 2013 stiegen mit der Unterstützung von Amalie 29 Frauen aus. Die Rückfallsquote sei sehr gering. Amalie ist also ein Erfolg, das für diese Frauen ein neues Leben auf den Weg bringt.
Auch Geburten wurden begleitet. “Eine Mutter hat ihr Kind sogar nach unserer Beratungsstelle benannt. Das war ein sehr bewegender Moment.” Amalie bedeutet „die Tapfere“.
Tapfer müssen Julia Wege und Julia Kempl selbst häufig sein – sie müssen auch auf Ämtern gegen die Vorurteile ankämpfen, die Prostituierten auf dem Weg in ein normales Leben begegnen.
Das Logo der Beratungsstelle ist eine Lotusblüte. Sie gilt als Symbol der Reinheit. Dreck oder Flüssigkeit perlen von ihren Blättern und Blüten ab. “Die Lotusblüte wächst in schlammigen Gewässern. Bei Sonnenschein wächst sie”, sagt Julia Wege. “Wir wollen den Frauen die schönen Seiten des Lebens zeigen.” Und es funktioniert. Eine hilfesuchende Frau sagte kürzlich:
Bei Amalie kann ich wieder Mensch sein.
Gut eineinhalb Stunden hat mir Julia Wege nun erzählt, welches Leben hunderte von Frauen führen oder eher führen müssen. Ich stelle mir vor, wie das ist. Ein fremdes Land, obdachlos, ohne Geld. Dann der Einstieg in die Prostitution „auf Zeit“. Dann bis zu 20 „Freier“ am Tag. Was für ein schlimmes Leben.
Drin bei Amalie war es gemütlich. Draußen ist es kühl und zugig. Mich schüttelt es. Gut, dass es die beiden Julias gibt, die Frauen helfen auszusteigen. Das gibt Hoffnung.