Löhrbach/Weinheim/Heidelberg/Rhein-Neckar, 11. Juni 2014 (red/ld) 300 LSD-Tripps sind genug, sagte sich Werner Pieper vor rund 20 Jahren. Seitdem habe er keinen mehr genommen. Er habe aber auch keinen einzigen bereut. Mit Allen Ginsberg lief er den Philosophenweg in Heidelberg. Jürgen von der Lippe half er bei der Verdauung und dabei wollte er eigentlich mal Hoteldirektor im Londoner Savoy werden. Doch dazu kam es nie. Das sind nur drei der Geschichten, die er zu erzählen weiß.
Von Lydia Dartsch
“Ich war der Beste”, sagt Werner Pieper über die Zeit, als er noch davon träumte als Hoteldirektor die Welt zu entdecken:
Ich konnte so scheiß freundlich zu den größten Arschlöchern sein. Ich habe immer das beste Trinkgeld bekommen.
Im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Schlips kann man sich Werner Pieper heute nur schwer vorstellen. Aber das war so, zwischen 1967 und 1968, beteuert er: Zweimal am Tag rasieren. “Das glaubt mir heute niemand.”
Die Vorstellung davon gelingt erst zwei Stunden nach der Begegnung. Wenn man sich Herrn Pieper außerhalb des Löhrbacher Hauses vorstellt, in dem seine Frau und er leben. Außerhalb des Pieper’schen Kosmos. Er öffnet die Haustür in einer Hose aus bunten Flicken und einem Sweatshirt, auf dem “New Orleans” beworben ist – seine Lieblingsstadt, die im Jahr 2005 mit Hurrikan Katrina für ihn untergegangen ist, wie er sagt. Von seinem Hinterkopf baumeln lange, grau-weiße Dreadlocks. Die längste und dickste reicht ihm fast bis zu den Knöcheln. Die abzuschneiden habe ihm seine Tochter verboten. Daran hält er sich, auch wenn seine Frau die verfilzte Strähne nicht mag, weil sie kratzt. “Mit dieser Frisur ist man überall auf der Welt willkommen”, sagt er und nur dort, wo er willkommen ist, gehe er hin.
Pieper’scher Kosmos
Das Haus, in dem Werner Pieper mit seiner Frau lebt, liegt etwas versteckt in Löhrbach, aber man erkennt es sofort: Rund um die grün überwucherte alte Schmiede hängen bunte Mardi-Gras-Perlenketten und tibetanische Gebetsfahnen, die ihm John Beresford geschenkt hatte – der Mann, von dem Timothy Leary. Das Haus ist bunt. Überall stehen Andenken und Figürchen. Das Schlafzimmer steht im Garten, am Hang, unter einem Wellblechdach: “Das ist der größte Luxus, wenn der Regen darauf prasselt”, sagt er. Dort schläft er bis es minus fünf Grad kalt wird. In diesem Winter schlief er also immer draußen. Die Rückwand des Hauses hat seine Tochter im Teenageralter in bunten Farben gestaltet. Auf seine Tochter ist er sehr stolz.
Die Löhrbacher, deren Häuser man von ihm aus sehen kann, kennen ihn, sagt er. Er habe sich ihnen damals persönlich vorgestellt, als er eingezogen ist. Jedem Einzelnen. Manche nehmen ihn mit, wenn er nach Weinheim trampt. Einen Führerschein hat er nicht. Nie einen gemacht. Seit einigen Jahren fühle er sich von den Menschen hier akzeptiert und als Löhrbacher anerkannt. Ob sie auch wissen, dass in diesem Haus Geschichte geschrieben wurde?
Multipler Künstler oder einfach nur Erdbewohner?
Denn Werner Pieper ist vieles: Autor, Verleger, ehemaliger Dealer, gelernter Koch, Dörfler, Kleinstädter, Städter und Großstädter, als Pop-Archäologe ausgezeichnet. Man könnte ihn als Erdbewohner bezeichnen. Nationalitäten lehnt er ab – wie alles andere, was Menschen ausschließt. Auch das gehört zum Pieper’schen Kosmos. Die Titel seiner Bücher klingen skurril, schräg und haben Themen, von denen man vorher nicht wusste, dass sie tatsächlich interessant sind. Er geht Fragen auf den Grund, die sich viele nicht stellen. Darauf ist er stolz. Ob er damit provoziert? Nein! sagt er:
Die Welt provoziert mich. Ich reagiere nur.
In Weinheim kennt man ihn entweder als “verrücktes Huhn” oder als als den Schriftsteller, der im Roten Turm gewohnt hat, bis dieser wegen fehlender Fluchtwege von der Stadt geschlossen wurde.
Das war einmal der Kerker der Stadt. Und dann wird er geschlossen, weil Fluchtwege fehlen,
sagt er und lacht über diese Geschichte: “Kannst Du Dir das vorstellen?” Er hat nachgeforscht und ein Buch darüber geschrieben: Im Roten Turm hätten die Verurteilten ihre Zeit bis zur Hinrichtung am Galgen abgesessen. In Weinheim habe es zwei davon gegeben: Einen auf dem Marktplatz, wo heute der Brunnen steht, und einen dort, wo sich heute die Mannheimer Straße und die B3 kreuzen.
Mensch! Denk Mal
Fragen stellen und hinterfragen: So komme er auf die Themen seiner heimatkundlichen Bücher. “Mensch, Denk Mal!” heißt eines von ihnen. Es geht um Kriegerdenkmäler, in dem auch die Geschichte des Weinheimer Kriegerdenkmals an der Bahnhofstraße aufgeschrieben ist. Seine “drei einzigen Feinde”, nennt er die drei Steinsoldaten, die im Jahr 1936 in Gedenken an die Gefallenen des ersten Weltkriegs aufgestellt worden sind – ohne die fünf Namen der jüdischen Gefallenen. Deren Angehörige hätten sich damals bei der örtlichen NSDAP beschwert darüber beschwert und ihre Spenden seien zurückgezahlt worden, erzählt er: “Ein paar Jahre später sind die ins KZ gekommen.” Heute wird dort alljährlich der Volkstrauertag begangen. Die Namen der jüdischen Gefallenen sind mittlerweile nachgetragen worden. Doch an dieser Steller bröckele der Stein, sagt er.
Mondlandung
Mehr Heimatkunde gibt es über Heidelberg, oder “Highdelberg”, wie der Titel eines weiteren Buches lautet. Sieben Jahre lang war er dort als Dealer unterwegs, sagt er und spricht ganz offen über diese Zeit, in der er viele Menschen in der Szene kennengelernt habe, die noch heute immer wieder begegnen. Es sei um Vertrauen gegangen. Um Verantwortung. Nicht um Geld, sagt er. Seinen ersten LSD-Trip habe er am Abend der Mondlandung genommen, sagt er. Es sollten noch 300 folgen, bis er sich sagte: “Das ist genug.”
Mit “psychoaktiven Substanzen”, wie er Drogen nennt, hat er sich viel beschäftigt: Darüber geforscht, konsumiert und auch darüber Bücher geschrieben. Das Wort “Drogen” mag er nicht. “Ich hatte nie einen Horrortrip”, sagt er. Er habe Bescheid gewusst, was er nehme, wieso und welche Wirkung Substanzen wie LSD, Haschisch und MDMA, bekannt als Ecstacy, haben und erzählt von einem großen Potenzial, die diese Substanzen für Gehirn und Psyche hätten – wenn man sie richtig einzusetzen weiß. Man müsse verantwortungsvoll damit umgehen. Deshalb habe er die Bücher geschrieben. Er spricht von Senioren, die unter volkshochschulischer Anleitung “den Kopf wieder frei bekommen” könnten. Trotzdem ist der Ex-Dealer gegen die Legalisierung psychoaktiver Substanzen:
Für die Legalisierung psychoaktiver Substanzen ist unsere Gesellschaft nicht reif. Die ist viel zu kapitalistisch eingestellt.
Der Pieper’sche Kosmos kommt ohne Grenzen, ohne Nationalitäten aus. Eine Welt, nur mit Menschen. Begründet wurde er im kleinen Meschede, in Nordrhein-Westfalen, wo Werner Pieper 1948 geboren wurde. Im 25 Kilometer entfernten Sundern im Sauerland ist er zur Schule gegangen und hat seine Mittlere Reife gemacht. Er hatte damals schon Werke über Anarchie gelesen. “Irgendwann später ist mir aufgegangen, dass ich sie bestimmt nicht verstanden habe”, sagt er.
Von Hölderlin und LSD
Die große Welt wollte er als Hoteldirektor erkunden und machte dazu ersteinmal eine Lehre zum Koch. Als das Londoner Hotel Savoy ihn einstellen wollte, musste er zunächst den Wehr-Ersatzdienst ableisten. Das machte er in der orthopädischen Klinik in Schlierbach: “Meine erste Aufgabe war es, einem Querschnittsgelähmten Patienten den Hintern auszuräumen”, erzählt er. Eine Erfahrung, die ihn so viel mehr ausgefüllt habe, als das Geldverdienen oder “scheiß freundlich” zu sein, um möglichst viel Trinkgeld von Hotelgästen bekommen. Damit war das Savoy für ihn gestorben.
Stattdessen habe er beschlossen, zu dealen, erzählt er. Er habe Menschen kennenlernen wollen – nicht Geld machen. Und die lernte er kennen und erzählt weiter, wie er mit dem amerikanischen Dichter der Beat Generation Allen Ginsberg in Heidelberg den Philosophenweg zur Thingstätte gelaufen sei und Ginsberg plötzlich Hölderlin auf Deutsch rezitiert hätte. Oder wie er von John Beresford die tibetanischen Gebetsfahnen geschenkt bekommen habe – dem gleichen Mann, der dem als Hippie-Guru geltenden Timothy Leary dessen ersten LSD-Trip gegeben hatte. Oder von den Briefen, die er mit Albert Hofmann austauschte, dem Erfinder des LSD. Er erzählt, wie er mit dem “Scheissbuch” (das heißt wirklich so!) in der Talkshow von TV-Moderator Jürgen von der Lippe aufgetreten ist, vor dem er Respekt hatte, der ihn zu Piepers Überraschung aber liebte, weil das Buch ihm geholfen habe, seine Verdauungsprobleme zu lösen, erzählt er. Und er erzählt von seinen früheren Kunden, die er heute zufällig treffe, und die ihm heute helfen, seinen Verlag “Die grüne Kraft” am Laufen zu halten, oder ihn als Anhalter mit nach Weinheim nehmen.
Komplex, individuell und unberechenbar
“Die grüne Kraft” kommt eigentlich vom “Grünen Marokkaner”, einer Haschischsorte. Werbung für den Verlag macht er keine. Er verkauft auch keine Bücher oders CDs. Im Pieper’schen Kosmos sind das Inhalte. Deshalb mag er keine Barcodes auf Büchern oder CDs. Das würde den Inhalt zerstören, weil der Inhalt zum Produkt würde. Mit ISB-Nummern kann er sich gerade noch anfreunden. Bei der Grünen Kraft wurde das erste Buch über das Jonglieren gedruckt: “Ich habe es geschrieben und noch nie jongliert”, sagt er. Es ist heute ein Standardwerk. Dazu kommen zahlreiche Bücher über den Umgang mit psychoaktiven Stoffen, über “Nazis on Speed”, Naturkost, und über Glühwürmchen, Popel und Haiti. Der erste Artikel zum Thema “Antiumweltverschmutzung” erschien 1971 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift “Der grüne Zweig” – der Begriff “Umweltschutz” sei damals noch nicht weit verbreitet gewesen, sagt er. Wie er auf die Themen kommt, ist schwer zu sagen. Der Pieper’sche Kosmos ist komplex, individuell und unberechenbar: “Eines Abends saß ich im Garten und habe Glühwürmchen beobachtet.” Am Tag danach fand er heraus, dass es keine Literatur über Glühwürmchen gab. Dann recherchierte er und schrieb ein Buch.
In den Achtziger Jahren gab er die “Hackerbibel” des Chaos Computer Club heraus. Im Vorwort der Ausgabe von 1985 steht:
Mehr als nur freundschaftlich sind wir unserm Verleger verbunden. Er hat schon Hackerdinge publiziert, als sonst noch keiner hier davon etwas ahnte. Die Montage der Bibel geschah bei ihm zu Hause. Seine Tochter wurde gerade acht Tage alt.
Ehren-Hacker
Aktuell wurde er zusammen mit Edward Snowden und Chelsea Mannings zum Ehrenmitglied des Clubs ernannt. Aus einer Titelseite der “Hackerbibel” machte einer seiner Freunde die “Kackerbibel”, aus der das “Scheissbuch” entstand. In seinem aktuellen Buch “Weiter” befasst er sich mit seiner Wanderung im Jahr 1977 durch den deutschen Herbst “von der Nordsee bis vor gezogene Polizeiwaffen kurz vor den Alpen”, wie er auf seiner Seite schreibt. Gerade hat er die Druckvorlagen eines weiteren Buches über Haare wiederbekommen. Es könnte eigentlich sofort gedruckt werden.
Aber er sagt: “Ich kann es mir gerade nicht leisten.” 10.000 Euro benötige er dafür. Doch Bestseller, wie das “Scheissbuch” nach der Fernsehsendung einer wurde, sind selten. Werbung macht er keine. Er verkaufe schließlich Inhalte. Deshalb lege er gerade auch eine Schreibpause ein. Bücher zu schreiben, ohne sie drucken zu können, empfindet er als sinnlos. Alle paar Wochen schreibt er Newsletter – “Brösel” genannt – die man sich auf seiner Homepage bestellen kann. In der aktuellen Ausgabe schreibt er vom Tod Alexander Shulgins, den er als Patenonkel des Ecstasy bezeichnet und mit dem er auch befreundet war. Er schreibt von seinem Herzinfarkt im Januar und den Zuzahlungen für seine Medikamente, inklusive Aufruf zum Spenden, sollte jemand ” ein paar überflüssige Pillen daheim herumstehen” haben, wie er schreibt. Darauf folgt eine Liste seiner Pillen.
Leidenschaft für indische Mangos und den britischen Guardian
Trotzdem freut er sich über die Begegnungen mit den Menschen, die er noch aus seiner “Highdelberger” Zeit kennt, darüber, die Geschichten erzählen zu können. Täglich liegt am Weinheimer Bahnhof eine Ausgabe der Zeitung “The Guardian” unterm Ladentisch – neben indischen Mangos eine seiner Süchte, wie er sagt. Einmal in der Woche geht er mit seiner Frau in Löhrbach im “Krug” essen. Die Köchin dort hat von einem seiner Mitschüler in der Kochschule gelernt, der wiederum in der Nähe ein Restaurant betreibt: Zufall oder ein weiterer Aspekt des Pieper’schen Kosmos, den zu fassen bei nüchterner Betrachtung unmöglich ist.
Anm. d. Red.: Der Artikel ist der Auftakt einer Reihe von Porträts über außeregewöhnliche Menschen der Region.