Mannheim, 11. Mai 2016. (red/pro) Baris Kiciman ist hochintelligent, gut gebildet und spricht besser deutsch als die meisten Deutschen. Man könnte meinen, er sei hervorragend integriert – aber Baris fühlt sich ausgegrenzt. Und in ihm wächst der Groll. Nirgendwo findet er echte, aufrichtige Akzeptanz – sondern überall nur Farce und Lüge. Die schmerzhafte Geschichte eines gläubigen Muslims, der voller Abscheu auf Scheinheiligkeit herabschaut – und daran zerbrechen könnte.
Von Hardy Prothmann
Das Telefon klingelt. Baris Kiciman stellt sich vor. Will mich treffen. Mir erzählen, warum er anruft – und was ich über “die Stimmung bei den Türken” wissen sollte. Baris fühlt sich überhaupt nicht mehr wohl in Deutschland.
Baris hat einen deutschen Pass – aber er fühlt sich nicht als Deutscher. Er stammt aus der Türkei – aber Baris fühlt sich nicht als Türke.
Es vergehen einige Wochen bis zum Termin. Wir treffen uns in “Little Istanbul”, also den Quadraten am Marktplatz. In ein örtliches Restaurant möchte Baris nicht gehen. Alles sei schlecht daran – keinen Euro will er dort lassen. Wir kehren ein paar Meter woanders ein.
Der Groll wächst
Man könnte Baris für einen “Vorzeige-Türken” halten. Zu gut für die Hauptschule, wohin man ihn zuerst geschickt hat. Klassenbester. Er hat aber keine “höhere” Schulempfehlung. Die Realschule lehnt ihn deshalb vor 20 Jahren ab. Seine Mutter kämpft für den Sohn. Wird abgewiesen. Sie kämpft weiter. Das Schulamt bestätigt, dass Baris auf die Realschule gehen darf.
Das war die Hölle. Ich war fast überall der Beste. Ich habe mitgemacht. Ich habe mich angestrengt. Aber ich war immer nur der Türke.
Baris macht einen sehr guten Abschluss. Nächste Station Wirtschaftsgymnasium.
Ich war der einzige Türke. Und wieder habe ich das zu spüren bekommen. Ich war der Ausländer. Ich gehörte nicht dazu, obwohl meine Leistungen top waren.
Baris trägt Bart. Aus religiösen Gründen. Er ist Muslim und er lebt seinen Glauben. Er ist verheiratet. Hat mit seiner Frau zwei kleine Kinder. Und er trägt ein weiteres Kind in sich, das stetig wächst. Und das heißt Groll.
“Ich habe aufgehört, gefallen zu wollen”
Baris studiert, macht den Bachelor und jetzt neben dem Beruf den Master. Er hat Pläne und die sind erfolgversprechend. Er ist in der Wirtschaft tätig, kann gut mit Zahlen. Er hat noch nie Alkohol getrunken, sagt er. Er ist in klarer Kopf. Hochintelligent.
Ich will etwas erreichen. Aber was ich hier in Deutschland nicht erreichen kann, ist ein normales Leben. Anerkennung. Ich kann nicht so sein, wie ich bin. Aber ich bin, wie ich bin. Also habe ich aufgehört, gefallen zu wollen. Ich mache mein Ding. Und der Rest ist mir egal. Ich habe das System verstanden.
Wir reden fast drei Stunden lang. Baris formuliert klug und wortgewandt. Sein Wortschatz liegt deutlich über dem eines durchschnittlichen Deutschen. Er kann sich sehr differenziert und komplex ausdrücken. Gleichzeitig macht er immer wieder kleine Fehler. Man merkt, dass er deutsch als Fremdsprache gelernt hat – obwohl er hier geboren und aufgewachsen ist.
Der Türke gehört nicht dazu
Baris lacht viel. Sein Lachen überdeckt die Verletzungen. Die Enttäuschungen. Seinen Schmerz. Den hat er in sich. Täglich. Alltäglich. Sein Leben lang. Sein Lachen soll ihn souverän machen. Er will darüber stehen.
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Baris ist klug und strebsam. Hat nie Probleme gemacht, aber immer Probleme gehabt. Weil er Türke ist. Weil er nirgendwo dazu gehörte. Weil er Moslem ist. Und weil er einen eigenen Kopf hat. Davon ist er überzeugt. Wer genau hinschaut, merkt, wie viel Enttäuschung hinter seinem Lachen liegt.
Denn Baris erzählt mir drei Stunden lang sein Leben. Seinen Frust. Er redet darüber, wie es ist, ein Türke in Mannheim zu sein. Ein Ausländer. Einer, der qua Geburt nicht anerkannt ist – obwohl so viele das Gegenteil vorgeben.
“Ich bin ein Fremdkörper”
Baris redet darüber, wie es ist, ein Türke zu sein und einen deutschen Pass zu haben. Wie es ist, türkisch zu sein, zu fühlen und zu sprechen – um in der Türkei festzustellen, dass sein türkisch nicht taugt, um anerkannt zu werden und er dort kein Türke ist. Und sogar hier in Mannheim, in der Welt der Türken, die sich arrangiert haben, fühlt er sich als Fremdkörper.
Baris ist ein junger Mann mit hoher Intelligenz, Leistungswillen, bester Ausbildung, dem Drang, etwas erreichen zu wollen und dem Willen, sich durchzusetzen. Und Baris ist sehr verzweifelt und einsam, weil er nirgendwo Anschluss findet.
“Was wissen Sie denn über die Türkei?”
Baris ist auf dem besten Weg, sich zu radikalisieren. Innerlich ist er das bereits – auch, wenn er es sich vielleicht noch noch eingesteht. Die Frage ist, wann er es nach außen trägt:
Ich bin absolut für die Parallelgesellschaft. Warum denn nicht? Ich gehe zum türkischen Arzt, ich kaufe türkisch ein, ich treffe türkische Freunde und ich lese türkische Nachrichten und weiß mehr als alle Deutschen über das, was türkisch ist und ihr Journalisten, ich kenne eure Artikel, wisst zu wenig über die Türken, als dass eure Artikel mich wirklich erreichen könnten.
Bumm. Das sitzt. Natürlich hat Baris recht. Auch unsere Berichte kranken daran, dass niemand bei uns türkisch spricht. Die Kultur kennen wir nicht aus erster Hand. Ich muss immer über Umwege recherchieren – aber offenbar habe ich etwas bei Baris ausgelöst. Warum will er sonst unbedingt mit mir darüber reden, was ihn umtreibt? Warum er sich noch nie und immer weniger wohl gefühlt hat in Deutschland?
“Keiner weiß bescheid”
Seit zwei Jahren liest er das Rheinneckarblog. Anfangs interessiert. Jetzt nur noch die Überschriften:
Das interessiert mich nicht mehr. Auch die anderen Nachrichten nicht. Überall blabla. Keiner weiß Bescheid.
Baris hat keinen deutschen Freund. Er ist ein Leistungsträger, der immer auf sich selbst angewiesen war. Einer, der sich hochgelernt hat, eine solide Ausbildung absolvierte und Erfolg sucht. Aber der Erfolg sucht nicht Baris.
Baris ist dabei – aber er gehört nicht dazu
Der Erfolg scheitert an Baris’ markanten Bart, der ihn als gläubigen Muslim erkennbar macht. Da ist es egal, dass seine Frisur tadellos ist, die Kleidung modern, seine Erscheinung äußerst gepflegt. Dieser Bart. Diese blitzenden Augen. Dieses Lachen. Diese ausgesuchte Höflichkeit. Der angespannte Gesichtsausdruck. Der nur mühsam versteckte Groll.
Baris lebt in einer Parallelwelt. Er ist von der Abstammung her Türke. Sein Pass macht ihn zum Deutschen. Sein Deutsch ist fehlerhaft und doch besser als das vieler Deutscher. Sein Türkisch markiert ihn als nicht “echten Türken”. Seine Ausbildung ist sehr gut. Aber wenn er die Nähe zu “Wirtschaftsclubs” sucht, erfährt er nur Distanz. Baris ist dabei – aber er gehört nicht dazu.
Nicht zu den Deutschen. Nicht zu den Türken. Baris ist innerlich im Niemandsland. Er ist verzweifelt. Obwohl er genau weiß, was er will. Er weiß aber auch, dass er nicht gewollt ist. Baris will mitten in Deutschland ein Muslim sein, der aus religiösen Gründen seinen Bart trägt. Er will, dass man ihn mit seinem Glauben anerkennt. Aber er glaubt nicht daran, dass das gelingt – dass die Ausgrenzung ein Ende haben könnte. Und dann blitzt wieder dieser tiefe Groll aus seinen Augen.
“Die AfD finde ich klasse”
Baris wollte mit mir darüber reden, dass er sich zunehmend isoliert fühlt und die Ablehnung in Deutschland gegenüber ihm, dem abgestammten Türken mit deutschem Pass, zunimmt.
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Baris redet mit mir über sein Gefühl. Wie es ihm geht. Baris redet über Zweifel und über Verzweiflung. Über eine ungerechte Welt, die ihm Chancen verbaut. Nur weil er “Baris” und nicht “Christian” heißt. Das sagt er so nicht, aber das ist, was er erzählt.
Die AfD finde ich klasse. Der Erfolg dieser Partei zeigt doch, was in Deutschland los ist. Und wie die anderen darauf reagieren, zeigt, wie die drauf sind. Alle reden von Integration, aber keiner nimmt es wirklich ernst. Ich schaue mir das ganz genau an und sehe mich bestätigt. Danke AfD.
Baris lächelt. Seine Augen blitzen. Er genießt die Provokation. Mit der Hand macht er eine wegwerfende Bewegung. Er atmet tief ein und aus. Und dann hat er sich wieder im Griff.
“Sie fühlen sich wichtig und suchen nur ihren Vorteil”
Ist seine Stimmung die “der Türken”? Die Frage bringt Baris in Erklärungsnöte. Nein, “die Türken” wollen Ruhe. Sie machen ihre Geschäfte, gründen nach deutschem Vorbild Vereine, verleihen sich Preise und machen ihr Ding.
Moscheeverein, Ditib, Ausländerbeirat und wie das alles heißt – die treffen sich gerne zum Buffet, futtern, fühlen sich wichtig und suchen ihren Vorteil.
Baris kennt die Namen und damit wird klar, dass er Kontakte hatte – alle haben ihn enttäuscht.
Wer stellt denn wirklich Fragen? Wer ist bereit, wirkliche Fragen zu stellen? Wer ist bereit, es mal schmerzhaft werden zu lassen, wenn die Finger in die vielen Wunden gehen? Genau. Niemand. Die türkischen Verbände spiegeln nach außen nur Blabla. Sie repräsentieren nur bestimmte, wenige Interessen. Die Seele von vielen dahinter jedenfalls nicht.
Baris redet ganz klar über sich und seinen Frust. Er ist zu intelligent, zu aufmüpfig, um zu “den Deutschen” oder “den Türken” zu gehören. Baris ist mit seiner Intelligenz sehr einsam. Damit teilt er das Schicksal der meisten Intelligenten.
Wo ist der Unterschied?
Baris ist aber nicht nur intelligent, sondern auch gläubiger Muslim. Er hat eine Koranschule besucht und zu beten gelernt. Den gesamten Koran kennt er nicht. Er spricht auch kein arabisch. Er weiß aber einiges über den Koran und dessen Lehre. Er glaubt. Das ist sein gutes Recht.
Die Zeit reicht bei diesem Treffen nicht mehr, um zu diskutieren, wie man an etwas glauben kann, dass in einer unverständlichen Sprache geschrieben ist.
Dazu hatte Baris zuvor schon eine gar nicht mal so schlechte Erklärung parat:
Wie viele Deutsche haben das Grundgesetz gelesen? Wie viele kennen sich damit wirklich gut aus? Die wenigsten. Aber irgendwie wissen die Leute doch, was es damit auf sich hat, wie es funktioniert. So ähnlich ist das mit dem Islam und dem Koran. Die wenigsten haben den komplett gelesen und kennen sich damit wirklich aus. Aber so prinzipiell können Gläubige damit umgehen. Kennen die Werte. Was ist jetzt der Unterschied zwischen mir als gläubigem Muslim und einem, der an das Grundgesetz glaubt?
Wieder ist dieses Blitzen in seinen Augen. Wieder liegt dieses herablassendes Lächeln voller Verachtung und Abscheu auf seinen Lippen. Denn er weiß, dass seine Worte intelligent gewählt sind. Er weiß, dass er den Finger in eine der vielen offenen Wunden legt. Seine Analyse ist auf den Punkt. Er hat tatsächlich recht. Aber niemand wird ihm das bestätigen. Niemand wird Baris dafür beglückwünschen, dass er ein kluger Kopf ist, der sagt, wie es ist. Baris hat keine “Kontakte”.
Die hat er gesucht und nicht gefunden:
Ich kenne die Namen in der Stadt. Von denen, die angeblich für Integration sind. Für Anerkennung. Für Verständnis. Für Dialog.
Seine Hand wischt die restlichen Worte weg:
Das sind alles Lippenbekenntnisse. Dahinter stecken persönliche Interessen oder die von Parteien. Das ist alles nicht ehrlich. Ich glaube keinem von diesen Leuten, dass sie ehrlich sind.
Baris glaubt an Allah. Er ist Muslim. Bewusst und entschieden. Und er bekennt sich zu seinem Glauben und zu seinem Leben und zu seinen Erfahrungen.
Und er ist ehrlich. Er hat sich für eine Parallelgesellschaft entschieden. Er kann weder Türke noch Deutscher sein. Sondern Gläubiger. Damit reduziert sich der Kreis derer, unter denen er sich wohl fühlt. Derer, die ihn verstehen könnten.
Am Ende bleibt Verzweiflung
Die “geordnete Gesellschaft” hat ihn enttäuscht und lässt ihn ohne Hoffnung auf Akzeptanz zurück. Alle reden von Integration – Baris von Ausgrenzung. Er sucht weiter den Erfolg. Er hat Familie und ist verantwortlich für seine Fragen, die ihn binden.
Was Baris nicht weiß und vielleicht erst durch diesen Text erfährt: Man muss sich große Sorgen um Baris machen. Er ist ein guter Typ mit richtig viel guter Kraft. Aber seit vielen Jahren nagt der Frust an ihm. Der Groll wächst. Baris droht, böse zu werden – obwohl er immer wieder betont, dass er ein friedlicher Mensch ist.
Vielleicht ist die häufige Betonung ein Alarmsignal. Denn Baris ist offensichtlich überhaupt nicht zufrieden. Baris treiben die Entwicklungen um. Baris ist ein Paradoxon – einerseits durch seinen Willen und sein Können bestens integriert und gleichzeitig fast hoffnungslos verlassen. Wie viele sind das, denen es geht wie ihm?
Baris ist Türke. Und er ist Deutscher. Beides hat er als als erniedrigend erlebt.
Baris ist Muslim. Und er erlebt auch hier keine Anerkennung – durch Türken und Deutsche.
Drei Stunden mit Baris zeigen Probleme auf, die die einfachen Erklärungen der Politik ad absurdum führen.
Baris würde gerne ankommen. Wie so viele. Sein Gefühl ist, dass das Ankommen immer weiter weg ist. Auch mit denen, die im vergangenen Jahr angekommen sind. Deren Ablehnung durch viele Deutwsche übertragt sich auch auf ihn und die Migranten, die schon lange hier sind.
Vermutlich hat Baris deswegen angerufen.
Aus Verzweiflung.
Anm. d. Red.: Der Mann, den wir getroffen haben, heißt nicht Baris. Einige weitere Informationen im Text sind verfremdet, weil es nicht darum geht, Baris zu identifizieren. Baris spricht für sich – aber vermutlich auch für viele andere, zumindest kennen wir das auch vielen Kontakten zu anderen Migranten.