Mannheim/Rhein-Neckar/Deutschland, 11. Februar 2016. (red/ms) Die Debattenkultur kennt anscheinend nur eine Steigerungsform: Immer hysterischer, immer polemischer, immer extremer. Die Vernunft kommt zu kurz. Überall. Zum Wohl der Demokratie ist es notwendig, dass bei der Suche nach den bestmöglichen Lösungen alle relevanten Akteure gehört werden – auch wenn sie unliebsame Positionen vertreten. Es wird nichts nutzen, sich weiterhin nur unter Gleichgesinnten gegenseitig darin zu bestärken, dass man selbst recht hat und Andersdenkende mit allen Mitteln bekämpft werden müssen.
Kommentar: Minh Schredle
Sich ernsthaft mit politischen Inhalten auseinanderzusetzen, wird zunehmend zur Zumutung. Um Klartext zu reden: Ich kann es niemandem verdenken, wenn er sich aktuell angewidert abwendet, weil der Umgangston in vielen Debatten so sehr von Feindseligkeit und Hass durchdrungen ist, dass fast jeder Versuch der sachlichen Auseinandersetzung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
Die Folgen sind fatal. Denn immer mehr Menschen haben keine Lust mehr, sich das Gezeter und Gekeife der Schreihälse und Demagogen anzutun – und die treten leider immer häufiger auf. Eine Demokratie lebt von Teilhabe – wenn wir so weiter diskutieren, wie wir es gerade tun, heben wir ihr eine Grube aus, um sie darin zu bestatten.
Krisen erfordern Zusammenhalt
Eigentlich ist es so einfach, dass man sich fast schon dumm vorkommt, es aufschreiben zu müssen: In Krisenzeiten ist es wichtig, alle Kräfte zu bündeln, geschlossen zusammenzustehen und gemeinsam und konstruktiv die tragfähigsten und effektivsten Lösungen zu suchen.
Aktuell stehen wir durch Kriege und weltweite Fluchtbewegungen vor größten Herausforderungen in der Geschichte der Bundesrepublik – und machen das genaue Gegenteil von dem, was sinnvoll wäre. Statt sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, schlägt man sich lieber die Köppe ein. Teils verbal und – das ist mit großer Sorge zu betrachten – zunehmend auch physisch.
Der Hass ist beängstigend. Die Frustration erschütternd. Trotzdem versucht kaum jemand, die Beweggründe der Andersdenkenden nachzuvollziehen. Die Lager schotten sich ab. Immer extremer. Immer absoluter: Wir gegen die. Vernunft gegen Wahnsinn. Wer nicht für uns ist, ist der Feind. Der Freund meines Feindes ist zwangsläufig auch mein Feind.
Aus der Historie hat scheinbar kaum jemand was gelernt: Verbitterte Ideologen haben schon häufiger Geschichte geschrieben – aber niemals eine gute. Sondern immer nur die von Tod und Elend.
Alles ist der Kausalität unterworfen
So verwunderlich das für manch einen scheinen mag: Hinter den allermeisten Ansichten stecken Gründe. Kein Weltbild kommt vollkommen willkürlich zustande. Hat man sich die Mühe gemacht, zu verstehen, was den Gegenüber bewegt? In einem normalen Gespräch, ohne nach den ersten Sätzen schon ausfällig zu werden?
Das wäre schön. Leider kommt das viel zu selten vor. Und wenn doch mal jemand den Vorstoß wagt, einen offenen Dialog mit allen Akteuren zu suchen, ist das Geschrei groß – auch aus den „eigenen Reihen“:
Wie kannst du dich nur mit dem Feind einlassen? Du musst doch ein heimlicher Sympathisant sein!
Dann wird man schnell zum Abschaum oder zum links-grün versifften Gutmenschen, zum Nazi, Kommunisten, Putin-Versteher oder zur Scheiß-Imperialisten-Sau. Offenheit wird mit Ächtung abgestraft.
Geht’s noch? Ist diesen Leuten klar, was sie damit anrichten?
Fatale Folgen
So unliebsam eine andere Ansicht auch sein mag: Sie muss offen diskutiert werden. Demokratisch. Es sollte ja kein Hindernis sein, eine Position argumentativ und eindeutig zu entkräften, wenn diese ach so abwegig ist. Irgendetwas „keine Plattform bieten“ zu wollen, geht nicht mehr auf – denn spätestens mit dem Internet verbreiten sich die Positionen sowieso.
Im Zweifel überlässt man dem politischen Gegner durch sein Schweigen die Deutungshoheit über eine Angelegenheit. Noch schlimmer: Wenn jemand sich fürchten muss, seine Gedanken nicht mehr aussprechen zu können, ohne ausgegrenzt oder geächtet zu werden, verschwindet der Gedanke nicht einfach – viel wahrscheinlicher findet eine Radikalisierung statt, um sich durch extremistisches Verhalten Gehör zu verschaffen und Aufmerksamkeit zu erlangen.
Abschottung schlägt fehl
Die Erfolge der AfD sind ein Paradebeispiel dafür, wie Abschottung und Verweigerung des Dialogs fehlschlagen: Obwohl so gut wie niemand aus dem „etablierten Lager“ mit AfD-Vertretern reden will, hat die Partei aktuell den größten Zulauf.
Durch Versuche, die AfD mit unlauteren Mitteln zu bekämpfen – wie etwa durch Einflussnahme auf Gastronomen, Kündigung von Verträgen, kreischende Gegendemos oder Anschläge auf Büros und Autos – gibt man der Partei Steilvorlagen, um die Feindbilder „Altparteien“, „Lügenpresse“ weiter zu schüren, indem diese zu den „wahren Feinden der Demokratie“ stilisiert werden. Das wird dadurch noch verstärkt, dass sich hochrangige Parteimitglieder oftmals zieren, sich von ihren undemokratisch agierenden Kollegen zu distanzieren.
Das Vertrauen in das System Rechtsstaat bröckelt und bröckelt. Viele Medien trifft eine Mitschuld, weil sie mindestens schlampig bis vollständig verantwortungslos und vor allem nicht überparteilich berichten. Die Aufregung um Frauke Petrys vermeintliche Forderung nach einem Schießbefehl zeigt das nur allzu deutlich. Frau Petry hat nicht gesagt: „Ich will, dass Bundespolizisten Flüchtlinge an der Grenze abschießen“. Sie hat auf Nachfrage gesagt:
Er (Anm.d.Red.: Der Grenzpolizist) muss den illegalen Grenzübertritt verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.
Wie der Deutschlandfunk ausführlich berichtet, hat Frau Petry damit grundsätzlich recht, wenn auch mit Einschränkungen. Trotzdem diskutiert halb Mediendeutschland nun schon fast zwei Wochen lang über den vermeintlichen Skandal. Wegen Frau Petrys Aussage wurden zudem gleich vier Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft eingereicht, wegen angeblicher Volksverhetzung und Anstiftung zu einer Straftat. Die Staatsanwaltschaft hat noch nicht einmal Ermittlungen aufgenommen, weil überhaupt kein Anfangsverdacht besteht.
Klagekultur
So weit ist man also. Weil einem eine Einstellung nicht passt und man ein schlechtes Gefühl damit hat, zeigt man diesen Jemand eben einfach mal an, auch wenn man sich offenbar kein bisschen mit der Rechtslage und den tatsächlichen Hintergründen auseinandergesetzt hat.
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Es ist zum Heulen: Den allermeisten scheinen die Fakten reichlich egal, sobald sich die eigene Meinung mal gefestigt hat. Was nicht ins Weltbild passt, wird ausgeblendet. Und was irgendwie geeignet scheint, die eigenen Ansichten zu bekräftigen, wird weiterverbreitet, egal, wie hanebüchen die Quelle auch sein mag. „Es entspricht meinem Bauchgefühl – es muss einfach stimmen“.
Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!
Das gilt übrigens für Vertreter aller politischen Gesinnungen – es gibt keine „Partei der Wahrheit“. Viele AfD-Anhänger beschweren sich beispielsweise über „doppelte Standards“, da ja der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer in Sachen Grenzkontrollen schon im Oktober „genau das Gleiche“ gefordert habe, wie aktuell Frau Petry – und damals habe sich niemand dafür interessiert.
So stimmt das aber nicht. Erstens: Es gab damals sehr wohl einen Aufschrei. Zweitens: Frau Petry und Herr Palmer haben eben nicht genau das Gleiche gefordert. Herr Palmer sagte zwar, die Grenzen müssten „notfalls“ bewaffnet geschützt werden – bezog das aber nicht auf Deutschlands Grenzen, sondern auf die Außengrenzen der EU. Weiter führt er aus:
Ich habe auf die Frage des Journalisten, ob diese Grenzsicherung auch bewaffnet erfolgen solle, geantwortet: „notfalls auch bewaffnet“. Das ist trivial. Polizei und Grenzschutz sind immer bewaffnet. Im Mannheimer Morgen hat Frauke Petry über den Gebrauch von Schusswaffen gesprochen. Das habe ich nicht, und das macht einen fundamentalen Unterschied: So selbstverständlich es ist, dass ein Grenzsoldat eine Waffe hat, so selbstverständlich ist auch, dass der damit nicht auf Flüchtlinge schießt, weil die über die Grenze gehen.
Wie oft wurde diese Darstellung eigentlich von den politischen Gegnern Palmers verbreitet, die anderen die Arbeit mit Propaganda unterstellen? Propaganda mit Propaganda zu bekämpfen soll am Ende was bringen?
Meinungsverantwortung
Es gibt keinen Zwang, sich gut zu informieren, bevor man seine Meinung äußert. Es wäre aber sehr sinnvoll, hilfreich und höflich, das zu tun, wenn man sich konstruktiv einbringen will. Wer auf Augenhöhe mitreden will, sollte sicherstellen, dass er auf Augenhöhe ist. Das ist harte Arbeit – in der Regel reicht es nicht, über die Facebook-Timeline zu scrollen, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Das heißt nicht, dass jemand ausgegrenzt werden sollte, wenn er nicht mehr mitkommt. Eigentlich ist es tautologisch, trotzdem wird es selten beachtet: Wenn jemand etwas nicht verstanden hat, das als wichtig erachtet wird, sollte man sich bemühen, es ihm verständlich zu erklären. Stattdessen wird in vielen Fällen lieber beleidigt – was sicherlich nicht der Weg ist, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Zur Meinungsfreiheit gehört auch, damit verantwortlich umzugehen. Sonst beschädigt man sie.
Mal ins Grundgesetz gucken
Man kann sich bemühen und dennoch scheitern. Und wenn jemand trotz aller Anstrengungen zu einer anderen Einstellung zu einem Sachverhalt kommt, dann ist auch das grundsätzlich zu respektieren. Denn in einem Urteil des Bundesverfassungsgericht heißt es zur Meinungsfreiheit:
Sie (Anm.d.Red.: Meinungen) genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird.
Das kann sehr bitter sein. Aber vor allem ist es Demokratie und ein hohes Gut – denn die Mehrheit von heute kann die Minderheit von morgen sein. Dass man indes befürchten muss, sich Diffamierungen, Einschüchterungen, sogar Bedrohungen aussetzen zu müssen, weil man sich dafür einsetzt, dass Andersdenkende ihre Meinung frei äußern dürfen – das ist schon mehr als bedenklich.
Gegen das Hohlkopfdenken
Wir werden es trotzdem weiterhin tun, auch wenn es schwer ist und sogar dann, wenn es gegen die eigenen Überzeugungen geht. Persönlich sehe ich in der AfD keine wählbare Alternative – darum nehme ich mir aber nicht das Recht, andere zu bevormunden oder irgendwelche Aussagen verfremdet oder verkürzt wiederzugeben.
Das gehört zu meinem Verständnis von Anstand und Chancengleichheit. Ich verteidige nicht die AfD – sondern Debattenkultur und Vernunft. Wer diesen fundamentalen Unterschied nicht versteht, hat vermutlich den gesamten Text nicht verstanden.
Eigentlich muss mittlerweile jedem klar sein: Für die komplexen Krisen unserer Zeit gibt es keine simplen Lösungen. Die Abschottung wird fehlschlagen – vor dem Hintergrund der Herausforderung kann man es sich darüber hinaus schlichtweg nicht leisten, pauschal alle, die einem nicht passen, als Gesprächspartner auszuschließen und sich nur unter Gleichgesinnten gegenseitig darin zu bekräftigen, dass man selbst recht hat und alle anderen Hohlköpfe sind.
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