Wacken/Südwesten, 10. August 2016. (red/cr) Mit dem Wacken Open Air ist am vergangenen Sonntag eines der größten Metal-Festivals der Welt zu Ende gegangen. Eine Woche lag Musik, Feiern und Campen im Schlamm. Was treibt jedes Jahr 75.000 Menschen in das kleine Dorf im deutschen Norden? Unsere Mitarbeiterin Christin Rudolph hat sich mittendrin durch den schmatzenden Schlamm gewühlt und diese Story mitgebracht.
Von Christin Rudolph
Von tausenden Händen berührt werden. Immer wieder einsacken, kurz vor dem Fallen. Weitergereicht werden zu einem Punkt, den man nicht sieht.
Sich auf Händen tragen lassen von einer jubelnden Menge – Crowdsurfen ist ein Erlebnis, das zu jedem größeren Festival gehört. Für viele Metal-Fans ist Crowdsurfen auf dem Wacken Open Air das größte. Beim einem der größten Metal-Festivals der Welt lassen sich jedes Jahr hunderte Menschen von der Menge tragen.
Eine große Familie
Aber nicht nur körperlich. Die Konzerte auf Wacken sind legendär. 60.000 oder 70.000 Menschen, die das gleiche Lied singen, die gleichen Bewegungen machen, im selben Takt klatschen. Und man ist einer von ihnen. Irgendwo in der Masse, Menschen soweit das Auge reicht. Vor den Bühnen, auf dem Wegen, sogar in der Schlange zum Klo wird mitgesungen.
In solche Momenten sind alle eine große Familie. Alle haben die gleiche Musik im Herzen. Und Gänsehaut am ganzen Körper.
Wacken ist nicht nur ein ziemlich großes Festival – eines der größten Open Airs in Deutschland. Es hat einen besonderen “Spirit” Das liegt vor allem an den Besuchern.
Denn die machen ein Festival aus. Im Fall von Wacken fällt besonders auf: Sie sind älter als bei vergleichbaren Events. Natürlich überwiegen die Jungen. Doch Besucher über 40 sind auch keine Seltenheit.
Wacken ist anders
Alex etwa, Ende 40, hatte es schon aufgegeben, die Sache mit den Festivals. Er erzählt, auf Rock am Ring etwa “wurden uns Stühle untern Hintern weg geklaut”. Ständig überall Halbstarke, die weder wissen, wie man einen Gaskocher verwendet, noch, wie viel Alkohol sie vertragen.
Doch dann hätte sein Bruder ihn ermutigt.
Wacken ist anders,
hatte er gesagt. Das ist drei Jahre her. Seitdem kommt Alex nach Wacken. Und dankt seinem Bruder.
Hier trinken die Leute wie die Bienen und nehmen vielleicht auch andere Sachen. Aber sie können damit umgehen und wissen, wann Schluss ist.
Wacken als Familienausflug
Auf sich aufpassen, das können auch die drei Söhne von Bernd und Jutta. Die Familie ist zusammen auf Wacken. Allerdings in getrennten Camps. Bernd, 61, und seine Frau Jutta, 53, lassen es etwas ruhiger angehen.
Meine Frau hält mich fit,
sagt Bernd. Er hätte nie gedacht, dass er in seinem Alter noch anfangen würde, “auf Wacken” zu fahren. Die Söhne waren schon öfter da. Sie campen näher am Festivalgelände, wo man nachts noch Gitarren und den Bass hört.
Sie sind “richtige Profis” und haben jeden Tag ein Motto: Dienstag ist Absinth-Abend, Mittwoch Einhorn-Tag, am Donnerstag werden goldene Pailletten-Leggings getragen.
Manchmal hilft Vergessen
Irgendwo in einem Pavillon auf dem Zeltplatz. Patrick scheint sehr müde zu sein. Ob zu viel Alkohol oder zu viel Feiern ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall müde. Wahrscheinlich ist es ziemlich spät. Das weiß keiner so genau. Auf jeden Fall ist es schon dunkel.
Uhrzeiten sind nur wichtig, wenn man eine Band sehen will. Ansonsten isst man, wenn man Hunger hat oder gerade gegrillt wird und schläft, wenn man müde ist. Und Patrick ist so müde, dass sich sein Kopf zunehmend der Tischplatte nähert. Schließlich schläft er auf der Bierbank ein.
So schnell bekommt ihn keiner wach. Für seine Kumpels ein großer Spaß. Als Kopfkissen bekommt er noch eine Packung Toastbrot. Und am nächsten Morgen ausführliche Berichte, denn er selbst kann sich an gar nichts erinnern.
“Wir sind deine neuen Freunde”
Dass ein Zelt nachts leer bleibt, ist keine Seltenheit. Ob man es nicht mehr zurückschafft, nicht mehr findet oder einfach durchmacht. Oder sich das Zelt einer hübschen Bekanntschaft “mal von innen angucken” geht.
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Leute kennenlernen – das ist auf Wacken kein Problem. Egal wie schüchtern man ist. Zumal niemand davon ausgeht, dass irgendjemand nüchtern ist. “Eigentlich wollte ich nur mal kurz aufs Klo” – so fangen viele lustige Geschichten an.
Man trifft auf eine Gruppe von Leuten, die einen zu einer Party einlädt und man “schaut nur kurz vorbei”. Oder Freunde, die man vom letzten Jahr kennt. Oder man will nur schauen, wer so eine hübsche Lichterkette in seinem Camp hat. Und schon sitzt man mit einer Dose Bier in einem Campingstuhl und redet über Gott und die Welt. Über Bands, Metal und immer wieder den Matsch.
Gute Ausrüstung ist alles
Gastfreundlichkeit wird auf Wacken groß geschrieben. Wenn man sich die Camps und ihre Bewohner einmal genauer ansieht, fällt eines auf: Je älter die Festivalbesucher, desto professioneller sind sie ausgerüstet.
Das Camp von Jan und seinen Kumpels etwa umfasst unter anderem neben einigen Zelten und Pavillons zwei Wohnwägen mit einem festen Vordach, eine relativ gut ausgestattete Cocktailbar inklusive Getränkekarte, Fackeln für die Stimmung und mehrere Grillplätze. Zum Duschen fährt er nach Hause, denn er wohnt nur fünf Kilometer entfernt.
Auch wir haben klein angefangen, aber jedes Jahr kommt etwas Neues dazu.
Sein Tipp als alter Wacken-Hase: Einfach ganz viel Spaß haben. Egal, ob man den ganzen Tag im Matsch steht und Bands abfeiert oder auf dem Campingplatz gemütlich sein Bierchen trinkt. Spaß hat jeder anders – für manche strukturieren eine Woche lang lediglich verschiedene Phasen der Trunkenheit das Leben. Andere stehen den ganzen Tag am selben Fleck, um am Abend bei Iron Maiden in der ersten Reihe abzugehen.
Dem Wetter ausgeliefert
Manche verkleiden sich, wobei nie ganz klar ist, ob diese Menschen einfach nur auffallen wollen oder extrem oft verloren gehen. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Wobei diese Spezies wohl auf Wacken seltener auftritt als auf anderen Festivals. Denn prinzipiell geht alles. Man wird jedoch wesentlich mehr respektiert, wenn man Heavy Metal ist.
Das fängt bei der schwarzen Kleidung an und geht von der Musik, die auf dem Zeltplatz gehört wird bis zum bekannten Slogan “Duschen ist kein Heavy Metal”. Darunter fällt auch die Einstellung zum Schlamm.
Wacken ist ein Open Air Festival. 2014 war es sehr heiß und trocken, 2015 extrem regnerisch mit überfluteten Arealen und knietiefem Schlamm. Dieses Jahr war ebenfalls matschig. Doch wer das vergangene Jahr miterlebt hat, der konnte sich in diesem Jahr über einige Stunden Sonne freuen. Und über Matsch, der meist nicht einmal knöcheltief war.
Matsch so weit das Auge reicht
Klar bringt eine Schlammwüste viele Probleme mit sich. Es ist zum Beispiel ziemlich anstregend irgendwo hin zu laufen, weil man seine Füße bei jedem Schritt aus einem gefühlt metertiefen Loch zerren muss. Wer nicht vorbereitet ist, muss sich überteuerte Gummistiefel kaufen. Und und und.
Aber derselbe Matsch kann auch sehr viel Spaß bedeuten. Man fährt nicht auf Wacken, um wegen so einer Kleinigkeit Frust zu schieben. Nein, die allermeisten Metalheads sind kreativ und passen sich an.
Natürlich gibt es da die richtigen Matsch-Freaks, die sich vor Publikum, möglichst während eines Konzerts, möglichst gegenseitig, möglichst dramatisch in große Pfützen werfen. Von diesem doch recht unterhaltsamen Spektakel haben auch die Umstehenden etwas.
Spaß hat, wer Spaß will
Zum einen sehr wahrscheinlich ein dekoratives Muster aus Schlamm an Körper und Kleidung. Zum anderen bietet sich ein sehr beliebtes Fotomotiv. Fotos von Fremden beim Schlammbad sind ein beliebtes Andenken.
Abgesehen davon kann man auch mit kleineren Mengen an Matsch viel Spaß haben. Kreative Körperbemalungen etwa sind sehr beliebt.
Mit der richtigen Einstellung geht alles. Und die muss man auf Wacken haben. Um sich das Festivals verderben zu lassen, von was auch immer, ist es einfach zu viel Aufwand. Sowohl finanziell als auch organisatorisch.
Einkauf für ein ganzes Jahr
In diesem Jahr hat ein Ticket für Mittwoch bis Sonntag inklusive Camping-Gebühr 180 Euro gekostet. Dazu kommen Kosten für An- und Abreise, Campingausrüstung und Verpflegung. Zusätzlich Fan-Artikel; kaum jemand verlässt das Festival ohne mindestens ein Wacken-Shirt. Die meisten kaufen wesentlich mehr, einige haben sogar “Einkaufszettel” und kaufen für Freunde und Verwandte ein.
Es gibt kaum etwas, dass es nicht als Fan-Artikel gibt: Babykleidung reiht sich neben Kuscheltiere und Fliegenklatschen. Doch nicht nur beim Merchandising wird kräftig Geld ausgegeben. Auf dem Festivalgelände reihen sich verschiedenste Stände aneinander. Es gibt sogar eine richtige Shopping-Meile, auf der bekante Marken der Szene vertreten sind.
Nicht nur shoppen, auch essen kann man auf dem Gelände sehr gut. Für alle, die nicht auf den Klassiker Dosenravioli zurückgreifen wollen oder die Nase voll haben vom Grillfleisch gibt es exquisiten Genuss.
Wacken als Kommerzfest
“Wacken-Nacken”, Burger für knapp zehn Euro, Hirsch, Wacken-Eis oder anderes Exotisches – die knapp fünf Tage, in denen das eigentliche Festivalgelände geöffnet ist und Bands spielen, reichen nicht, um sich durch das große Angebot zu futtern. Allerdings dürfte das auch kaum ein Geldbeutel mitmachen. Klar kann man sparsam leben, viel teilen und für etwa 300 Euro das Festival erleben.
Doch für viele ist Wacken wie ein Jahresurlaub (ohne Familie) oder zumindest eine Gelegenheit, bei der man sich “mal etwas gönnt”. Schließlich ist es nur einmal im Jahr. Hinter dem ganzen Matsch und dem Gefühl der Freiheit beim Campen ist das nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber Wacken ist ein Kommerzfest. Und das ist seinen Besuchern bewusst.
Dazu noch die ganze Organisationsarbeit. Wer kommt mit? Wer bringt was mit? Was brauchen wir überhaupt – also wirklich? Reichen uns Ravioli und Fertiggerichte oder muss es Grillfleisch sein? Dosen- oder Fassbier? Wer reist wann an und wie? Wie viel Platz brauchen wir? Und wer hat eine Musikanlage, die auf jeden Fall lauter ist als die der Nachbarn?
Campen als Überlebenskampf
Eine endlose Liste, die in Gruppen in sozialen Medien, in Excel-Tabellen und bei Planungstreffen diskutiert wird. Und wenn man alles geplant und abgesprochen hat, kommt sowieso alles anders.
Dafür ist es eine Woche Auszeit aus dem Alltag. Kaum Verpflichtungen, feiern mit coolen Leuten und guter Musik. Und ein bisschen Gefühl von Wildnis und Überlebenskampf, man ist ja “in der Natur”. Keine befestigten Straßen und nur Dixis auf dem Acker, der als Zeltplatz dient.
Bei Sturm und Regen muss man Zelte und Pavillons verteidigen und notfalls flicken. Wenn Gaffa-Tape nicht mehr reicht, muss eben ein Campingstuhl dran glauben – oder eine Flasche Wodka. Natürlich nur zur Befestigung.
Große Szene in Deutschland
Nicht nur in solchen Fällen ist eine gute Nachbarschaft wichtig. Egal woher man kommt und welche Sprache man spricht, erstmal wird zusamen ein Bier getrunken. Oder fünf. Dann kann auch jeder ein bisschen Englisch. Die meisten Besucher kommen aus Deutschland. Aber ab und an trifft man auch auf ausländische Metalheads. Etwa auf Niederländer.
Jakoline und Nils kommen direkt von einem anderen Festival, den Metaldays in Slowenien. Das ist im Vergleich zu Wacken klein – es zählt 12.000 Besucher. Für Wacken werden 75.000 Tickets pro Jahr verkauft.
Sie erzählen, dass sie bei dem slowenischen Festivals recht viele Deutsche gesehen haben. Und schwärmen von der großen Metal-Szene in Deutschland – bei ihnen zu Hause würde man mit einem entsprechenden Band-Shirt schief angeschaut.
Sicherheit für 75.000 Besucher und Moshpits
Wie viele andere haben sie nichts von der Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen gehört. Als Reaktion auf das allgemeine gestörte Sicherheitsempfinden in Deutschland durften im diesem Jahr erstmals keine Taschen und Rucksäcke auf das Festivalgelände mitgenommen werden. So wurden vor den Einlasskontrollen einige Taschen zurückgelassen.
Wacken ist ein sehr friedliches Festival. Securities begegnen den meisten Besucher hauptsächlich beim Abtasten am Einlass und wenn sie Crowdsurfer sicher auffangen. Bei der Musik und dem Feiern treten sie meist in den Hintergrund. Doch wenn plötzlich etwas weniger spaßiges passiert, müssen sie schnell in Aktion treten.
Man ist auf einem Konzert und feiert eine Band. Die Musik ist so geil, dass sich ein Moshpit bildet – eine Art Kreis in der Menge, in der die Leute so exzessiv tanzen, dass sie sich gegenseitig schubsen. Dabei bekommt man blaue Flecken, aber in der Regel keine ernsthaften Verletzungen. Wenn jemand hinfällt, wird der sofort wieder hochgezogen – man passt gegenseitig auf sich auf.
Kurzer Schockmoment
Bis auf einmal einer nicht hochgezogen werden will und liegen bleibt. Sofort hören die Menschen auf zu tanzen und winken den Securities. Alle zeigen wild auf die Stelle, an der der verletzte Mann liegt.
Drei Securities klettern über die Absperrung, das Publikum bildet ihnen eine Gasse. Sie tragen den Mann aus der Menge heraus. Ein Sanitäter steht schon an der Absperrung und trommelt im Takt der Musik.
Als er den Verletzten in seine Obhut nimmt, jubelt und klatscht die Menge. Dann geht es weiter. Allerdings sind jetzt alle daran erinnert, dass eine ganz normale Situation plötzlich gefährlich werden kann. Nur weil alle aufgepasst oder andere festgehalten haben ist niemand auf den Mann am Boden getreten oder gefallen. Das wäre gar nicht Heavy Metal gewesen.
Nach Wacken ist vor Wacken
Wo viele Menschen zusammenkommen, kann so etwas immer passieren. Es läuft immer irgendetwas anders als geplant: Man verstaucht sich den Fuß, verliert seine Freunde aus dem Augen oder verpasst die Band, die man unbedingt sehen wollte.
Dafür erlebt man aber auch immer wieder Schönes, das man nicht geplant hatte: Man bekommt die Handynummer von der hübschen Sanitäterin, findet neue Freunde und entdeckt neue Bands. Und lernt dazu für nächstes Jahr.
Schließlich ist nach Wacken auch immer vor Wacken. Für Wacken 2017 sind aktuell nur noch weniger als 10.000 Tickets verfügbar.
Anm. d. Red.: Das ist die Auftakt-Story von Christin Rudolph beim Rheinneckarblog. Sie hat zuvor ein Jahr als Kulturfreiwillige bei uns verbracht – hier standen abendliche Termine im Theater oder der Oper auf dem Programm. Einen so langen Text hat sie allerdings bislang nie geschrieben – wir vermuten, dass Heavy Metal doch eher ihre Leidenschaft ist statt der Zauberflöte… 😉
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