Ludwigshafen/Heidelberg, 10. Juni 2016. (red/nh) Ludwigshafen ist die frauenunfreundlichste Stadt Deutschlands – so schreibt es jedenfalls Focus Online und beruft sich auf eine selbst in Auftrag gegebene Studie, die die Gleichberechtigung und Lebensqualitäten von Frauen in 77 großen deutschen Städten untersuchte. Heidelberg hingegen kommt auf den zweiten Platz und ist damit eine der frauenfreundlichsten Städte im Land – auch, weil es hier mehr „Buchgeschäfte“ und „Yoga-Lehrer“ gibt. Meint die Studie dieses „Life-Style“-Kriterium ernst? Ja, leider. Differenziert betrachtet, ergibt sich aber doch eine interessante Auswertung.
Von Naemi Hencke
Ludwigshafen und Heidelberg – nur rund 20 Kilometer voneinander entfernt. In beiden Städten leben in etwa gleich viele Einwohner. Doch was die Lebensqualität und Chancengleichheit von Frauen gegenüber Männern angeht, soll es sich um zwei völlig verschiedene Welten handeln.
Der Focus beauftragte eine umfangreiche Studie zum Thema Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Deutschland, die zum Ergebnis kommt, dass Ludwigshafen die frauenunfreundlichste Stadt Deutschlands sei. Das ist ein Brocken, den man erstmal schlucken muss. Und anscheinend von Ludwigshafen geschluckt wird – über zwei Wochen nach dieser verheerenden Meldung gibt es keinerlei Abwehrreaktionen durch die Stadt.
Kurz und knapp wird eine Agenturmeldung über Focus Online und viele weitere Online-Medien verbreitet – die der eigentlichen, ausführlicheren Studie von 168 Seiten Umfang, offensichtlich nicht gerecht wird. Was steht in dieser Studie?
Gleichberechtigung ist nicht gleich Gleichstellung
Hintergrund dieser Focus-Frauenstudie sei die Tatsache, dass seit Anfang diesen Jahres die sogenannte Geschlechterquote gilt: Rund einhundert große Unternehmen müssen gesetzlich verpflichtend seit dem 01. Januar 2016 frei werdende Aufsichtsratsposten mit mindestens 30 Prozent Frauen besetzen. In Norwegen beispielsweise, wurde bereits im Jahr 2003 eine Quote von 40 Prozent eingeführt.
„Wo geht es Frauen am besten? Und wo ist es um die Gleichstellung von Frauen und Männern am besten bestellt“? Das sind die Leitfragen dieser Studie, wie es die Verfasser, Dr. Wolfgang J. Steinle und Bettina Steinle-Vossbeck, selbst beschreiben. Anhand von fünfzehn Indikatoren hat die Studie 77 Städte ab 100.000 Einwohnern in Deutschland auf die Kriterien Gleichstellung und Lebensqualität von Frauen untersucht.
Dabei sei laut der uns vorliegenden Studie zu beachten, dass“ Gleichstellung und Gleichberechtigung zweierlei“ sei:
Nach dem Grundgesetz sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Gleiche Rechte vor dem Gesetz garantieren jedoch keine entsprechende Gleichstellung im gesellschaftlichen Alltag. Der Begriff der Gleichstellung bezieht sich auf die praktische Umsetzung gleicher Rechte von Frauen und Männern.
Sing mir ein Lied von mangelhafter Nachvollziehbarkeit
Seit der Veröffentlichung der Studie, scheint sich – nach unserer Recherche – vor allem, die an den jeweiligen Ort angepasste dpa-Meldung in den Medien zu verbreiten. Ohne Gegenrecherche und näheres Eingehen auf die Primärquelle, also die Studie selbst.
Was bleibt, ist die Frage: Wie kamen die Rankingplätze letztlich überhaupt zustande? Auf welche Kriterien stützt sich die Studie genau?
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In der dpa-Meldung auf Focus Online heißt es nur: Für die Studie wurden „Jobs und Karrierechancen, Einkommen und Qualifikation, frauenfeindliche Kriminalität sowie Spaß und Freizeit verglichen und beurteilt“. Gewinner ist Dresden.
Dass aber insgesamt 15 Indikatoren als Basis für die Auswertung der Studie dienten, findet keine Erwähnung. Der Themenschwerpunkt „Einkommen und Qualifikation“ untersucht beispielsweise die drei Indikatoren: Arbeitsentgelt, Schulabschluss und Altersarmut.
Der Faktor Freizeit und Spaß zieht seine Zahlen aus der Untersuchung der Dichte von Einkaufszielen, die Auswahl an Buchläden, dem Risikofaktor, dass die Handtasche geraubt wird und wie viele Yogalehrer in der Stadt zur Auswahl stehen. Diese Faktoren beruhen auf der Annahme, dass Frauen andere Präferenzen in der Freizeitgestaltung haben als Männer. In der Studie heißt es dazu: „Eingefleischten Feministinnen und Feministen mag es schwer fallen, sich mit solch profanen Angelegenheiten auseinanderzusetzen, aber vielleicht finden auch sie etwas Spaß daran.“
Heidelberg gewinnt, Ludwigshafen verliert
Die erstplatzierten „Gewinner“ der Gesamtwertung dieser Studie – Dresden, Heidelberg und Jena – können sich freuen. Ludwigshafen ist der Verlierer der Studie und erreicht den letzten Platz.
Dieses ernüchternde Ergebnis ist unter anderem auf scheinbar gravierende Missstände in frauenspezifischen Sicherheitsfragen zurückzuführen. Zudem sei die ungleiche Teilhabe von Frauen am Arbeitsleben ein weiterer Faktor, der sich stark auf das Ergebnis ausgewirkt habe. Im Bereich Freizeit und Spaß schafft es Ludwigshafen immerhin noch auf Platz 42.
Mannheim schafft es ebenfalls nur auf Platz 73. Kein gutes Ergebnis. Nur etwas besser als Ludwigshafen.
Reaktionen
Wie reagieren Ludwigshafen und Mannheim auf eine so negative „Beurteilung“?
Auf Nachfrage heißt bei der Stadt Ludwigshafen heißt es, die Studie sei zwar bekannt, aber ob diese auch thematisiert wurde oder wird, dazu könne man keine Auskunft geben.
Auch der Hinweis, dass es auf der Website eine Bevölkerungsumfrage der Stadt Ludwigshafen zum Thema Zufriedenheit und Sicherheitsempfinden aus dem Jahre 2011 gebe, heißt es nur, dass „es dort viele Downloads gebe, man aber nicht alle kennen könne“. Wir werden an die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt weitergeleitet – diese leitet unsere Fragen zurück zur Presseabteilung.
Das Thema Sicherheit bewegt die Bevölkerung
Laut einer Umfrage der Stadt Ludwigshafen von 2011, an der insgesamt 1.357 Bürger/innen teilgenommen haben, sei das Thema Sicherheit das wichtigste in der Wahrnehmung der Bürger/innen: 96 Prozent der Befragten liegt dieses Thema besonders am Herzen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass der „Zufriedenheitsfaktor“ in Bezug auf das Sicherheitsgefühl in der Umfrage gar nicht so schlecht erscheint: 32 Prozent der Befragten sind mit der Situation der öffentlichen Sicherheit sehr zufrieden beziehungsweise zufrieden. Zum Teil zufrieden (mit Abstrichen) sind immerhin noch einmal weitere 39 Prozent der Einwohner Ludwigshafens. Zusammen wären das immerhin 71 Prozent der Bevölkerung.
In der Umfrage heißt es weiterhin, dass „man erwarten könne, dass Frauen sich generell unsicherer als Männer fühlen. Auf die globale Frage nach der Sicherheit in der Stadt antworten beide Geschlechter jedoch ziemlich ähnlich.“
Etwas differenzierter antworteten die Bürger/innen auf die Frage nach ihrem Sicherheitsempfinden in ihrer Wohngegend und den Tageszeiten: Tagsüber fühlten sich Frauen zur Hälfte sehr sicher, nachts sinkt der Wert tatsächlich auf gerade mal nur noch zehn Prozent. Doch auch die Männer fühlen sich nachts mit nur 21 Prozent sehr sicher.
Anders sieht es im Bereich des Hauptbahnhofs aus: Dort fühlen sich Frauen zur Tageszeit nur noch zu 31 Prozent sehr sicher bis sicher. Sprich: Über zwei Drittel fühlen sich überhaupt nicht sicher.
Sicherheitsempfinden in Ludwigshafen: Ganz ok
Doch wie kann man das subjektive Sicherheitsempfinden mit statistischen Zahlen zur Kriminalität in Verbindung bringen?
Die Umfrage stützt sich nicht auf statistische Zahlen, dennoch kann sie eine „emotionale“ Tendenz aufzeigen: Das Sicherheitsempfinden der Ludwigshafener Bevölkerung ist grundsätzlich gar nicht so schlecht. Doch nachts fühlen sich Frauen hier deutlich unsicherer als am Tag.
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Die Studie kommt bezüglich dieser Thematik anhand der sogenannten Opfergefährdungszahl zu einem ganz anderen Schluss, nämlich, dass Ludwigshafen unter anderem aufgrund der schlechten „Kriminalitätswerte“ eine frauenunfreundliche Stadt sei. Dazu kommen wir etwas weiter unten.
Mangelhafte Nachvollziehbarkeit
Doch wie sinnvoll ist eine Studie zu einem berechtigten Thema, wenn die Medien die Ergebnisse nicht nachvollziehbar und differenziert kommunizieren? Wenn nur eine knappe dpa-Meldung verbreitet wird, in der nicht einmal die Namen der Verfasser der Studie korrekt geschrieben sind?
Beim Lesen dieser kurzen Meldung erscheint die Studie nicht beachtenswert – ist sie doch scheinbar nur ein „Lifestyle-Fact“ mit buntem Charakter.
Vielleicht erscheint es der Stadt Ludwigshafen deshalb nicht relevant, auf diese Studie zu reagieren? Nach dem Motto: Die Studie ist nicht ernst zu nehmen. In einer schriftlichen Stellungnahme der Stadt Ludwigshafen äußert sie, dass es eben nicht nachvollziehbar sei, auf welcher Grundlage das Ranking zustande gekommen sei. Weiterhin heißt es wie folgt:
Die Anzahl der Schuhgeschäfte oder die Zahl der Yoga-Lehrer werden als Kriterium dafür herangezogen, wie frauenfreundlich eine Stadt ist – da muss man sich fragen, welches Frauenbild der Studie zugrunde liegt.
Diese Frage ist berechtigt und nachvollziehbar. Doch beim näheren Hinsehen ist das Ergebnis der Studie vielleicht doch nicht so abwegig.
Dass nämlich im Schnitt Frauen tatsächlich nur 72 Prozent des Gehalts der Männer (Stuttgart nur 71 Prozent) verdienen, das entspricht den Tatsachen – diese Zahl hat uns das Bundesamt für Arbeit bestätigt.
Frauen sind im Bezirk der Agentur für Arbeit Ludwigshafen am häufigsten in den Gesundheits- und Sozialberufen beschäftigt, Männer eher in Stellen in Industriebereichen, die deutlich besser bezahlt sind.
Industrieunternehmen (wobei die Chemiebranche zur Spitzengruppe gehört) zahlen im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen mit die höchsten Gehälter und beschäftigen zugleich in der Regel erheblich mehr Männer als Frauen. Daraus leitet sich der große Abstand zwischen den Geschlechtern ab.
Daher ist es auch kein Zufall, dass neben Ludwigshafen, das bei den Bruttolöhnen am Arbeitsort in anderen Rankings zur Spitzengruppe zählt, auch einige große Autostädte wie Wolfsburg und Ingolstadt bei diesem Indikator ebenfalls schlecht abschneiden,
erklärte die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Ludwigshafen.
Opfergefährdungszahl
Ludwigshafen sei frauenunfreundlich – diesen Schluss zieht die Studie unter anderem aus der Betrachtung von Opfergefährdungszahlen des Bundeskriminalamtes. In Deutschland läge die Bevölkerungsgefährdungszahl bei 117 Opfern pro 10.000 Einwohnern. In Großstädten (ab 10.000 Einwohnern) bei 172 Opfern – damit deutlich höher.
Die Gefährdungszahl für Frauen, die Opfer einer Straftat werden, läge im Bundesdurchschnitt bei 93 Opfern je 10.000 Einwohner, in Großstädten durchschnittlich bei 132. Daraus ziehen die Verfasser der Studie den Schluss, dass Frauen in Großstädten gefährdeter seien, Opfer einer Straftat zu werden.
Schauen wir uns Ludwigshafen an, dann steigt die Opfergefährdungszahl auf 203 weibliche Fälle pro 10.000 weiblicher Einwohnerinnen. Das ist die höchste Opfergefährdungszahl aller 77 untersuchten Großstädte. Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Ludwigshafen nimmt dazu wie folgt Stellung:
Was uns wichtig ist und was die Focus-Studie außer Acht lässt, sind präventive Maßnahmen. Wir haben in Ludwigshafen zum Beispiel sehr erfolgreiche Projekte, die eine Sensibilität und eine Aufmerksamkeit schaffen für das Thema Gewalt gegen Frauen (Stichwort Rat für Kriminalitätsverhütung, AK Gewalt gegen Frauen).
Dadurch sind betroffene Frauen hier vielleicht eher gewillt, eine Straftat zur Anzeige zu bringen. Das ist ein Feld, bei dem es normalerweise eine sehr hohe Dunkelziffer gibt. In Ludwigshafen werden solche Taten vergleichsweise oft zur Anzeige gebracht, eben weil es diese hohe Aufmerksamkeit für dieses Thema gibt. Dadurch ist die Zahl der statistisch erfassten Taten vielleicht höher als anderswo, aber in Wirklichkeit ist vor allem die Dunkelziffer geringer.
Im Vergleich dazu Heidelberg – die Stadt ist nach der Anzahl der Einwohner mit 155.000 etwa gleich groß wie Ludwigshafen mit 164.000 Einwohnern: Die Opfergefährdungszahl liegt bei 67 weiblichen Opfern pro 10.000 Einwohnerinnen. Interessant ist hierbei, dass in Heidelberg fast doppelt so viele Männer Opfer von Straftaten werden. In Heidelberg leben Frauen demnach wesentlich sicherer.
Die größten deutschen Städte verlieren
Die Ergebnisse der Studie zeigen, „dass die Großstädte keineswegs durchgängig als Vorreiter der Gleichstellung in Erscheinung treten. Die Arbeitswelt ist nach wie vor durch Männer dominiert; In den wirtschaftsstärksten Großstädten verdienen Frauen zwar deutlich mehr als anderswo, aber ebenso deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen“, so heißt es auf der Website des herausgebenden Verlags der Studie zu den Ergebnissen.
Laut der Studie ist da grundsätzlich tatsächlich etwas dran. Keine der fünf größten deutschen Großstädte, gemessen an deren Einwohnerzahl, schaffte es auf die ersten Plätze – München als drittgrößte deutsche Stadt immerhin auf Platz sechs. Gefolgt von Berlin (10), Hamburg (16), Frankfurt am Main (30) und Köln (59). Das würde bedeuten, dass eigentlich die größten deutschen Städte insgesamt verlieren. Denn im Bezug auf das Ziel der Studie, aufzuzeigen, wo die Gleichstellung von Frauen bislang am besten umgesetzt werde, belegen die fünf größten Städte keinen der ersten fünf Plätze.
Wie aussagekräftig die Studie aber wirklich ist, dass lässt sich bezweifeln. Denn es werden einige wichtige Tatsachen und Faktoren außer Acht gelassen, die eventuell Auswirkungen auf das Gesamtergebnis gehabt hätten. Und die Indikatoren des herangezogenen Faktors „Freizeit und Spaß“ sind so weit an den Haaren herbeigezogen, dass die Studie deutlich an Wert verliert.
Letztlich also doch nur eine weitere „Life-Style-Studie“, die keine handfesten Ergebnisse präsentiert, sondern letztlich nur auf Stimmungsmache aus ist?
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