Mannheim/Rhein-Neckar, 10. März 2014. (red/ms) Sexuelle Gewalt wird zunehmend diskutiert. Aber reicht das aus? Ist sie nicht eins der größten gesellschaftlichen Probleme? Die Zahl der Übergriffe, Belästigungen und Missbräuche ist dramatisch hoch. Allein in Europa soll es bis zu 83 Millionen weibliche Opfer geben. In Mannheim findet noch bis zum 30. März die Ausstellung “Was sehen Sie, Frau Lot?” statt. Zu sehen sind Werke von Maria Mathieu, Renate Bühn und Heike Pisch. Ihr Ziel: Mehr Sensibilisierung für das Thema schaffen. Denn die drei Künstlerinnen klagen nicht nur die Täter an – sondern auch unsere Gesellschaft, die nicht hinschaut, die weghört und zu oft schweigt.
Von Minh Schredle
Jede zwanzigste Frau in Europa wurde schon mindestens einmal vergewaltigt. Wo man sich fortschrittlich und aufgeklärt geben will, gibt jede dritte Frau an, mindestens einmal Opfer sexueller oder körperlicher Gewalt geworden zu sein. Das sind mehr als 83 Millionen Schicksale. Und die Dunkelziffer liegt vermutlich noch sehr viel höher. Und diese Zahl beinhaltet nicht die männlichen Opfer oder pädophile Fälle – die Statistik betrachtet “nur” Frauen ab 15 Jahren.
Mannheim ist dabei keine Ausnahme, wie gerade in der jungen Vergangenheit jedem klar geworden sein sollte. Sexuelle Übergriffe gibt es auf Frauen aller Altersgruppen, auf offener Straße wurde im Anfang Oktober 2013 eine Studentin vergewaltigt und ermordet. Kurz darauf eine weitere Studentin vergewaltigt, wieder kurze Zeit später gab es erneut Angriffe auf junge Frauen. Diese Fälle sind die, die “offizielle” werden. Sexuelle Gewalt in der Familie oder in Lebensbeziehungen bleiben häufig über Jahre unentdeckt.
Es muss offen gesprochen werden
Und obwohl so viele Verbrechen offensichtlich sind, handelt es sich beim Thema sexuelle Gewalt beinahe um ein Tabu. Nur selten wird offen darüber geredet. Gerade, wenn die Täter aus dem persönlichen Umfeld kommen. Wer will schon den eigenen Vater, Onkel, Bruder anklagen und damit eventuell ins Gefängnis bringen? Viele werden nicht nur körperlich Opfer, die Qual verlängert sich vor allem seelisch. Und in den Familien gibt es ungezählte, meist unfreiwillige Komplizen.
Genau hier will die Ausstellung “Was sehen Sie, Frau Lot?” ansetzen: Diese Denkweisen und den Umgang mit den Problemen verändern und zum offenen Diskurs anregen. Das Interesse ist groß: Zur Eröffnung am Sonntag sind gut 100 Menschen in die CityKirche Konkordia gekommen, wo ein Teil der Wanderausstellung zu sehen ist.
Unter den Gästen waren etwa gleich viele Männer und Frauen, viele verschiedene Nationen sind vertreten. Jugendliche hat die Eröffnung leider kaum welche anziehen können. Außerdem war die Bürgermeisterin Felicitas Kubala anwesend und ist als Rednerin aufgetreten. Sie sprach davon, dass ein Wandel in den Köpfen der Menschen stattfinden müsse:
Es darf nicht mehr weggeguckt werden, den Betroffenen muss eine Stimme gegeben werden.
Eine ähnliche Botschaft hatte der Leiter der Stadtgalerie, Benedikt Stegmayer. Er sagte, unser Wunschbild von einer aufgeklärten Gesellschaft sei bei dieser grausamen Realität nicht zu tragen. Von echter Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern könne keine Rede sein:
Erst wenn es keine Unterschiede mehr im subjektiven Sicherheitsempfinden zwischen Mann und Frau gibt, darf man wirklich von gleichen Rechten sprechen.
Ob das jemals erreichbar sein wird, ist zweifelhaft. In fast jeder Kultur lässt sich zu fast jedem Zeitpunkt eine Unterdrückung der Frauen feststellen, mal mehr und mal weniger offensichtlich. In der Neuzeit hat es sich vermeintlich zum Besseren gewendet. Dass sich Frauen aber irgendwann völlig sicher fühlen können, ist allein wegen biologisch bedingter Kräfteunterschiede unwahrscheinlich.
Biblische Motive
Im alten Testament wurden Frauen noch eindeutig als männlicher Besitz betrachtet. Die Geschichte von Lot, die an der Namensgebung der Ausstellung maßgeblich beteiligt war, zeigt das deutlich. Sexualverbrechen werden hier fast schon als Normalfall dargestellt.
Als zwei Engel bei Lot erscheinen, ist das erste, was den Bewohnern von Sodom in den Sinn kommt, die beiden vergewaltigen zu wollen. Lot will ihnen stattdessen seine Töchter zur Verfügung stellen. Die Geschichte inspirierte Maria Mathieu zu dem Werk, das der Ausstellung ihren namen gab.
“Was sehen Sie, Frau Lot?” ist eine Installation, mehr als zwei Meter hoch und begehbar. Die Wände sind durchlöchert und blutbeschmiert. Im Inneren findet sich nichts, außer einem konisch geformten Rohr. Erst wenn man sein Ohr direkt daran hält, hört man eine leise, zaghafte Stimme sprechen. Sie klagt ihre Mutter an, nichts getan zu haben.
Unangenehme Kunst
Kunst hat viele Formen und Funktionen. Sie kann uns erfreuen, weil sie uns ästhetisch anspricht oder Motive verarbeitet, die uns vertraut sind. Die ausgestellten Kunstwerke von Maria Mathieu, Renate Bühn und Heike Pisch sind nicht schön – sie sind unangenehm, schonungslos, manchmal verstörend. Und genau das wollen sie sein.
Sie spiegeln die Gefühlswelten der Opfer wieder. Und die sind verunsichert, traumatisiert, aus dem Lot geraten. Ein Werk namens “Väter als Täter” stellt eine Garderobe dar – etwas, das ich eng mit dem Nachhausekommen verbinde. Mit dem Gefühl, zurück zu sein, an einem Ort, an dem ich mich wohl und geborgen und sicher fühle.
Im Kunstwerk hängen allerdings keine Kleidungsstücke am Haken, sondern Krawatten aus Papier. Auf ihnen sind Zeitungsartikel abgedruckt. Sie berichten von sexuellem Missbrauch in der eigenen Familie. Bei den Haken handelt es sich nicht um Haken, die man gewöhnlicherweise zum Aufhängen von Kleidung verwenden würde – sie sind spitz und an ihnen haftet etwas, das an Blut erinnert.
Es muss ein fürchterliches Gefühl sein, sich im eigenen Heim nicht mehr sicher fühlen zu können. In ständiger Angst leben zu müssen. Und niemanden zu haben, an den man sich wenden kann.
Das muss sich verändern, finden Renate Bühn, Heike Pich und Maria Mathieu. Seit fast 14 Jahren setzen sich die drei dafür ein, mit ihrer Kunst ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein für die Problematik zu entwickeln. Ihre Wanderausstellung hat mittlerweile mehr als 40.000 Menschen erreicht.
“Die Rechtslage schützt Täter”
Sie wollen dazu auffordern, schneller aktiv zu werden, wenn es Indizien für Missbrauch gibt. Täter und Hinweise sollten immer gemeldet werden. Sobald sich Anzeichen ergeben, dass jemand missbraucht wird oder missbraucht wurde, solle man nachfragen und offen zuhören. Außerdem sprach sich Renate Bühn dafür aus, Einiges an der aktuellen Rechtslage abzuändern:
Die Verjährungsfrist für Sexualdelikte muss abgeschafft werden. Außerdem finde ich Bewährungsstrafen bei Vergewaltigungen unter keinen Umständen angebracht. Auch die langen Prozesse sind ein Problem: Wer kann einem Kind schon vorwerfen, dass etwas ein bisschen widersprüchlich wirkt, wenn der Vorfall vor vielen Jahren stattfand. Diese Gesetze schützen die Täter.
Ein Teil der Ausstellung ist gerade in der CityKirche anzusehen, der andere findet sich im Rathaus E5. Die Ausstellung wird noch bis zum 30. März zu betrachten sein, außerdem wird es bis dahin mehrere Begleittermine geben.