Mannheim/Brüssel/Straßburg, 10. Februar 2016. (red/ms) Daten sind das neue Öl und der Handel mit personenbezogenen Informationen brummt. Die Personen selbst profitieren davon aber nur selten – in erster Linie verdienen Unternehmen mit unseren Daten. Die Gesetzgebung weist Lücken auf, die ausgenutzt werden. Jan Philipp Albrecht, Europaparlamentabgeordneter für die Grünen, ist Verhandlungsführer für die neue Datenschutz-Verordnung. Diese wird für alle Mitgliedsstaaten der EU gelten und soll einen einheitlichen Standard. „Das Gesetz hat scharfe Zähne,“ sagt Herr Albrecht. Wir haben ihn zum Interview getroffen.
Interview: Minh Schredle
Herr Albrecht, warum ist Datenschutz überhaupt wichtig? Und ist es schlecht, wenn Unternehmen Informationen über uns Konsumenten haben? Das hilft doch, Angebot und Nachfrage besser auf einander abzustimmen.
Jan Philipp Albrecht: Wir wollen niemandem verbieten, seine oder ihre Daten preiszugeben, um bessere Angebote zu erhalten. Im Gegenteil. Genau dafür ist der Datenschutz ja eigentlich da: Wenn wir unsere Daten herausgeben, muss klar sein, dass damit kein Humbug passiert. Und wir müssen uns sicher sein können, dass Absprachen eingehalten werden. Wichtig ist uns, dass es hierbei eine Entscheidungsfreiheit gibt. Wir müssen damit einverstanden sein, was mit unseren eigenen Informationen passiert – und sie nicht einfach wie Geldscheine aus der Hosentasche gezogen bekommen.
„Riesiges Potenzial für Diskriminierung“
Sie wollen also keine Bevormundung bei der Datenverarbeitung?
Albrecht: Genau darum geht es. Die Privatsphäre ist ja nicht umsonst ein Grundrecht. Es ist nicht nur für die einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft wichtig, dass wir mit Blick auf unsere Daten unsere Entscheidungen und unser Leben bestimmen können. Gerade in Zeiten, in denen wir davon reden, dass Daten das neue Öl sind, sollte man noch einmal darüber nachdenken, wie leichtfertig wir die eigenen Informationen hergeben. Mit dem eigenen Geld würden die meisten vermutlich nicht so freigiebig umgehen.
Was ist denn problematisch daran, wenn die privaten Daten in Umlauf geraten? Im Alltag bekommt man ja nur recht wenig mit von einem möglichen Missbrauch, abgesehen vielleicht von speziellen Werbeanzeigen im Internet. Warum sollte man sich also überhaupt darum kümmern?
Albrecht: Besonders wichtig ist die Aufklärung über mögliche Konsequenzen. Heute passiert mit unseren personenbezogenen Daten viel mehr, als die meisten sich vorstellen können und sehr viel mehr Relevantes als noch vor 20 Jahren. Heute werden Versicherungsverträge auf ihr privates Profil zugeschnitten – oft, ohne dass sie davon wissen. Teilweise werden Preise beim online-Shopping daran festgemacht, wie zahlungskräftig Sie möglicherweise sind. Hier gibt es ein riesiges Potenzial für Diskriminierung. Und vielleicht bekommt der Verbraucher oder die Verbraucherin nicht einmal etwas davon mit. Das wollen wir verhindern.

Foto: Fritz Schumann.
Im Europaparlament sind Sie Verhandlungsführer für die neue Datenschutzverordnung. Die ist noch nicht verabschiedet…
Albrecht: Aber schon fertig verhandelt.
Die Abstimmung ist also nur noch Formsache?
Albrecht: So ist es. Vor wenigen Wochen, kurz vor Weihnachten, haben sich das Europaparlament und die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Position geeinigt. Damit ist das Gesetz unter Dach und Fach, es fehlt nur noch die formelle Verabschiedung. Danach beginnt eine zweijährige Übergangsphase, bis es angewendet wird, und zwar unmittelbar für die ganze Europäische Union: Es ist keine Richtlinie, sondern eine Verordnung und wenn sie in Kraft getreten ist, ersetzt sie alle nationalen Datenschutzgesetze.
Klare und einheitliche Regeln
Was wird sich dann verändern?
Albrecht: Das wichtigste ist, dass in Zukunft in allen Ländern der Europäischen Union die absolut gleichen Standards gelten. Heute sind viele große Unternehmen, deren Produkte wir hier nutzen, nicht aus Deutschland heraus tätig, sondern beispielsweise wie Google aus Irland oder wie Amazon aus Luxemburg. Die Regeln in den verschiedenen Ländern sind teilweise völlig unterschiedlich und das wird ausgenutzt, um uns Verbraucher und Verbraucherinnen in unseren Rechten zu beschneiden. Das wird mit einem einheitlichen Gesetz in Zukunft nicht mehr möglich sein.
Wenn man sich Anwendungen wie beispielsweise WhatsApp herunter lädt, dann sind die Nutzungsbedingungen ja eigentlich klar definiert und wenn man sie sich durchlesen würde, wüsste man ja, worauf man sich einlässt. Was soll eine Verordnung daran verändern können?
Albrecht: Es liest sich ja eigentlich niemand die ganzen Datenschutzbestimmungen und AGBs durch, wenn er oder sie einen Dienst oder ein Produkt nutzen will. Deswegen ist mit der Verordnung klargestellt worden, dass der Rahmen verengt wird, was überhaupt mit den Daten angestellt werden darf.
300Hier müssen jetzt konkret festgelegte Zwecke genannt werden und zwar in einer klaren und einfachen Sprache, damit niemand mehr über den Tisch gezogen wird.
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„Keine Knebelbedingungen“
Das heißt?
Albrecht: Ein Beispiel: Wenn ich mir ein Auto kaufe, das personenbezogene Daten verarbeitet, um schneller zur nächsten Werkstatt zu kommen, darf das nicht mehr mit der Bedingung verknüpft werden, dass mir auf Basis dieser Daten Unterwäschewerbung nach Hause geschickt werden darf. So absurd das klingt, aber solche Knebelbedingungen beobachten wir immer häufiger und das wollen wir verhindern. Künftig muss es einen ersichtlichen Sinnzusammenhang zu dem Zweck geben, für den die Daten erhoben werden sollen.
Eine Taschenlampen-App, die als Nutzungsvoraussetzung auf alle meine Bilder und Nachrichten zugreifen will, wird dann also gar nicht mehr zugelassen?
Albrecht: Genau.
„Das Gesetz hat scharfe Zähne“
Nun ist der Handel mit Daten ein riesiges Geschäft. Jetzt soll das strenger reguliert werden. Besteht dadurch nicht die Gefahr, dass Unternehmen aus der EU abwandern und sich Standorte mit einer liberaleren Gesetzgebung suchen?
Albrecht: Auch das ist eine große Neuerung: Mit der Datenschutzverordnung bedienen wir uns des sogenannten Marktortprinzips. Egal woher jemand kommt und von wo aus er oder sie tätig ist: Alle, die auf dem europäischen Markt Produkte und Dienstleistungen anbieten wollen, müssen sich an die Regeln des europäischen Marktes halten. Und das ist der größte Binnenmarkt der Welt, kein Global Player wird darauf verzichten wollen. Also können wir selbstbewusst vorgehen.
Und was passiert, wenn die Regeln doch gebrochen werden?
Albrecht: Dann drohen empfindliche Strafen – bis zu vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes eines Konzerns sind möglich. Im Falle von Google oder Microsoft wären das zum Beispiel mehrere Milliarden Euro, die als Strafe durch europäische Datenschutzbehörden verhängt werden können. Das Gesetz hat also wirklich scharfe Zähne und Unternehmen müssen mehr als nur einen Eingriff in die Portokasse befürchten.

MdB Dr. Gerhard Schick (links) hatte MdEP Jan Philipp Albrecht nach Mannheim zur Filmvorführung eingeladen.
Hintergrund:
Vier Jahre lang wurde die neue Datenschutz-Grundverordnung verhandelt. Der Film „Democracy – Im Rausch der Daten“ begleitet diesen Prozess und zeigt hautnah die Arbeit im Europaparlament. Interviews und Szenen aus Sitzungen zeigen Grundsatzdiskussionen, den Umgang mit Lobbyisten und das Ringen um Kompromisse, bis endlich ein mehrheitsfähiges Gesetz zu Stande kommt. Im Fokus steht Jan Philipp Albrecht als Verhandlungsführer.
Die Dokumentation ist seit dem 12. November in den Kinos. Vergangene Woche wurde der Film im Mannheimer Odeon vorgeführt. Herr Albrecht folgte der Einladung des grünen Bundestagsabgeordneten Dr. Gerhard Schick und war vor Ort anwesend, um Zuschauerfragen zu beantworten. Etwa 150 Besucher waren anwesend. (cr)
Klingt nicht gerade danach, als hätte die Wirtschaft viel zu frohlocken. Wie groß werden denn die Verluste für Unternehmen voraussichtlich ausfallen?
Albrecht: Ich bin der Auffassung, dass die allermeisten Unternehmen in der Europäischen Union von der neuen Verordnung sogar profitieren werden. Immerhin gibt es einen massiven Abbau an Bürokratie: Statt 28 individueller nationaler Gesetze gilt jetzt nur noch eine allgemeine Regelung. Das ist auch für international agierende Unternehmen interessant, weil der Zugang zum Markt erleichtert wird. Die Unternehmen, die versucht haben, durch das Ausnutzen von Rechtslücken Gewinne zu machen, werden natürlich einbüßen müssen. Aber es kann auch nicht sein, dass andere Unternehmen im Wettbewerb benachteiligt werden, weil sie hohe Verbraucherstandards einhalten. Außerdem gibt es immer mehr Interesse an datenschutzfreundlicher Technologie, die Privatsphäre berücksichtigt.
Sehen sie hier einen Markt, dessen Potenzial noch nicht ausgeschöpft wird?
Albrecht: Absolut. Ich glaube sogar, dass es einer der größten Wachstumsmärkte ist, die wir derzeit haben. Sichere IT-Technologien und individuelle Verbraucherkontrolle im Netz sind ein Trumpf für alle, die jetzt mit neuen Produkten einsteigen wollen. Und wenn es uns gelingt, einen hohen Standard zu setzen, kann ein garantierter europäischer Datenschutz als Premiumprodukt überall auf der Welt Beachtung finden. Das großartige an der europäischen Politik ist: Wenn wir uns auf einen gemeinsamen Standard einigen, dann können wir auch sehr scharf einfordern, dass dieser Standard eingehalten wird. International und global.
„Datenschutz ist der neue Umweltschutz“
Diese Argumentation erinnert mich ein Stück weit an TTIP-Befürworter, die meinen, man müsse die Chance nutzen, internationale Standards zu setzen, die anderen als Orientierung und Vorbild dienen sollen. Sehen Sie das genauso?
Albrecht: Grundsätzlich bin ich schon der Auffassung, dass wir uns weiterhin Gedanken darüber machen müssen, wie wir unsere Wertvorstellungen und Standards anderen Ländern schmackhaft machen können. Das ist natürlich einfacher, wenn wir uns international mit Partnern wie den USA auf ein gemeinsames Mindestmaß einigen. Nur beinhalten die TTIP-Verhandlungen eben leider nicht diese gemeinsamen Standards. Da geht es eher um die Frage: Wie können Produkte ohne jegliche Standards auf dem jeweils anderen Markt angeboten werden? Also etwa, dass Chlorhühnchen aus den USA auch in Europa verkauft werden dürfen und dass die europäischen Antibiotika-Hühnchen auch in den USA auf den Markt kommen. Am Ende läuft das auf die die Absenkung von Standards auf beiden Seiten hinaus und das kann ja wohl nicht das Ziel sein. Wenn wir mehr Freihandel wollen, brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte, um die Regel festzulegen – aber keine intransparenten Beratungen in irgendwelchen Hinterzimmern, bei denen Informationen immer nur häppchenweise an die Öffentlichkeit geraten.
Was genau ist eigentlich „grün“ am Thema Datenschutz?
Albrecht: Die Grünen haben – gerade mit ihrem Einsatz für die Umweltpolitik – immer wieder deutlich gemacht, dass es in der öffentlichen Debatte auch um vorausschauende und nachhaltige Regulierungen gehen muss. Damit wir auch morgen noch eine lebenswerte Umwelt haben. Und im Grunde ist das beim Thema Datenschutz ganz ähnlich. Wir wollen auch morgen noch eine Gesellschaft, in der die Menschen selbstbestimmt sind und in der wir als Gesellschaft nicht unsere Würde und unsere Privatsphäre auf der Eintrittsschwelle abgeben müssen. Wir brauchen bestimmte Grundlagen, um das, was uns wertvoll ist, bewahren zu können. Gerade wenn Daten das neue Öl sein sollen, liegt es nahe, dass Datenschutz der neue Umweltschutz ist. Und das passt sehr gut zu den Grünen, die außerdem ihre Wurzeln in einer Bürgerrechtsbewegung haben.
Als Europaparlamentsabgeordneter kümmern Sie sich ja nicht nur um Datenschutz, sondern insbesondere auch um Innenpolitik. Sie sprechen sich dabei für Kriminalitätsbekämpfung ohne Überwachung der Bürger aus. Wie soll man sich das denn vorstellen? Und ist das vor dem Hintergrund der Bedrohung durch Terrorismus nicht leichtsinnig?
Albrecht: Die Wahrheit ist: 100-prozentige Sicherheit kann niemals gewährleistet werden. Aber wir können eine Gesellschaft möglichst sicher machen. Wie schafft wir das, ohne unsere eigenen Werte aufzugeben? Genau das wäre nämlich in Anbetracht der Bedrohung durch Terrorismus absurd – Terroristen wollen ja gerade diese liberale und demokratische Gesellschaft bedrohen, die wir uns geschaffen haben. Ich glaube, es wurde der Fehler gemacht, aus Angst nicht die guten und wirksamen Wege eines starken Rechtsstaats zu gehen, sondern überzureagieren und dabei auch ineffektive Methoden zu wählen. Die anlasslose Speicherung aller Kommunikationsdaten und Reisedaten aller Personen ist eigentlich ein Vorhaben, das ein Rückschritt ist.
„Unverhältnismäßige Eingriffe in die Privatsphäre“
Warum?
Albrecht: Weil wir uns damit eben nicht mehr auf Verdächtige und Risikobereiche konzentrieren, sondern eine ganze Bevölkerung unter Generalverdacht stellen. Dadurch wird natürlich auch bei Polizei und Co. Personal gebunden, das vielleicht an anderer Stelle fehlt. Und wenn wir uns zurücklehnen und Computer die Analyse übernehmen lassen, dann ist das eine sehr oberflächliche Analyse ins Blaue hinein.
Wenn etwas passieren sollte, kann die Strafverfolgung durch die Auswertung dieser Daten erleichtert werden und potenzielle Täter haben mit höheren Risiken zu rechnen, gefasst zu werden. Hat das nicht auch eine präventive Funktion?
Albrecht: Die präventive Wirkung einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ist denkbar gering – und meines Erachtens für diesen breiten und tiefen Eingriff in die Bürgerrechte überhaupt nicht verhältnismäßig. Für die Verfolgung von Straftaten ist es natürlich gut, zu wissen, wer wann was gemacht hat. Aber sind dafür wirklich diese riesigen Datenmengen nötig? Mir kann niemand wirklich glaubhaft machen, dass sich jemand im Internet bewegt, ohne Spuren zu hinterlassen. Anstatt auf schiere Datenmasse zu setzen, sollten wir eine Debatte darüber anstoßen, wie wir im digitalen Zeitalter unsere Polizei mit besseren Spürnasen ausstatten können.
Mehr Transparenz in der Politik
Sie selbst haben, seitdem Sie 2009 ins Europaparlament eingezogen sind, alle ihre Redebeiträge online zugänglich gemacht und gelten als großer Befürworter von mehr Transparenz in der Politik. Wie passt das mit ihrem Einsatz für den Datenschutz zusammen? Ab wann fängt eine Information an, schützenswert zu sein?
Albrecht: Eigentlich finde ich den Begriff „Datenschutz“ nicht besonders gut gewählt, denn das, was wir schützen wollen, sind ja die Menschen. Deswegen ist es wichtig, zu verstehen, dass es beim Datenschutz nur um personenbezogene Informationen geht. Wir wollen nicht generell möglichst viele Daten geheim halten oder schützen, sondern eben nur, was privat ist. Bei öffentlichen Verwaltungen und Politik sollte bis auf ein paar Ausnahmen größtmögliche Transparenz gelten, etwa nach dem Vorbild von Hamburgs Open Data Portal.
Sie haben als Verhandlungsführer für die neue Datenschutzverordnung etwa vier Jahre lang mit hohem persönlichen Einsatz gegen großen Widerstand gekämpft und haben jetzt einen Kompromiss erreicht, mit dem Sie zufrieden sein können und ihr Ziel ist in greifbarer Nähe. Reizt Sie die Tätigkeit als MdEP noch immer oder könnten Sie sich auch vorstellen, in der nationalen Politik mitzumischen?
Albrecht: Die Frage habe ich schon sehr häufig gestellt bekommen und ich kann sie ehrlich gesagt nicht ganz verstehen. Mein Job als Abgeordneter ist unfassbar spannend und eine sehr machtvolle Position. Die MdEPs haben nach den Vertragsänderungen der vergangenen Jahrzehnte deutlich mehr Einfluss auf den Großteil der Aspekte, die sich auf unser Leben bemerkbar prägen, als die meisten nationalen Parlamentarier. Viele Gesetze werden mittlerweile auf EU-Ebene verabschiedet. Und ich bin von Anfang an gezielt in das Europäische Parlament gegangen. Ich habe gesagt: Ich mag Politik und möchte mich engagieren. Aber wenn ich bereit bin, für ein Parlament zu kandidieren, dann für das europäische. Daran hat sich nichts geändert. Und ich habe gesehen, dass gerade bei meinen Themen immer noch sehr viel Engagement nötig ist und dafür will ich mich weiter einsetzen. Wer Regeln für das Internetzeitalter verabschieden will, braucht auf nationaler Ebene gar nicht damit anzufangen. Das ist ja geradezu absurd, wenn man über ein Worldwide Web redet, das per se grenzüberschreitend funktioniert.
„Alleine wird es nicht funktionieren“
Wegen der Flüchtlingsbewegungen scheint die Stimmung im Europaparlament momentan sehr angespannt zu sein. Viele befürchten, die europäische Gemeinschaft könne auseinanderbrechen. Empfinden Sie das auch so? Sehen Sie die Idee Europa bedroht?
Albrecht: Es ist ohne Zweifel so, dass wir in einer tiefen Krise stecken. Das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit einer gemeinsamen europäischen Politik und Demokratie ist stark beschädigt. Nicht nur wegen der Unfähigkeit der Länder, sich auf eine solidarische und umsetzbare Lösung für die Flüchtlingssituation zu einigen. Schon vorher wurde im Rahmen der Eurokrise und anderer Herausforderungen deutlich, dass es mit der Art, wie wir heute europäische Politik betreiben, so nicht richtig weitergeht. Ich glaube, das liegt auch daran, dass die nationalen Staats- und Regierungschefs fast ausschließlich für ihre nationale Politik gewählt werden, aber nicht dafür, wie sie europäische Politik betreiben. Ich glaube, das müssen wir ändern. Wir müssen eine Zivilgesellschaft entwickeln, die von den Spitzen ihrer politischen Institutionen einfordert, Antworten auf die großen Krisen unserer Zeit zu formulieren. Die Politik hat in den vergangenen Jahren einen großen Fehler gemacht: Sie hat den Eindruck erweckt, sie könne alle Probleme auf nationaler Ebene und mit Abschottung lösen. In diesem Dilemma stecken wir noch immer, weil ein großer Teil der Öffentlichkeit genau das erwartet. Ich glaube aber, die Politik muss hier reinen Wein einschenken: Denn alleine wird das – auch für Deutschland – nicht funktionieren.
Zur Person:
Jan Philipp Albrecht, geboren 20. Dezember 1982 in Braunschweig, ist Europaparlamentsabgeordneter für die Grünen. Herr Albrecht hat einen Doppelmaster in Europäischer Rechtsinformatik (Uni Hamburg, Uni Oslo) und ist auf Datenschutz und Innenpolitik spezialisiert.
Im Europäischen Parlament ist er stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses und Verhandlungsführer für die neue Datenschutz-Grundverordnung.
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