Mannheim, 10. Dezember 2019. (red/pro) Am Liselotte-Gymnasium lernen Schüler der Unterstufe, wie man einen „sachlichen Zeitungsbericht“ schreibt – gleichzeitig werden sie im Rahmen einer Deutscharbeit aber dazu aufgefordert „fehlende Fakten zu erfinden“. Auf ein Gesprächsangebot und Kritik reagiert der Schulleiter zurückweisend und arrogant. RNB dokumentiert das Schreiben an die Deutschlehrerin und die Antwort des Schulleiters Dr. Vogel. Offenbar sind Schulleitung wie Kollegium beratungsresistent und bringen Schülern auch künftig bei, dass es ganz normal ist, für einen „sachlichen Zeitungsartikel“ Informationen, die man nicht hat, einfach zu erfinden.
Von Hardy Prothmann
Wir dokumentieren die anonymisierte Zuschrift an die Deutschlehrerin einer Unterstufenklasse am Liselotte-Gymnasium Mannheim. Diese hatte den Kindern als Grundlage für eine Deutscharbeit die Schilderung eines Unglücks mit Happy-End ausgeteilt. Die Aufgabenstellung: Analyse der wesentlichen W-Fragen und das Verfassen eines „sachlichen Zeitungsberichts“. Sofern nötig, sollten die Schülerinnen und Schüler „Fakten erfinden“, wenn dies für den Zeitungsartikel notwendig sei. (Hinweis – die Schilderung der Geschichte ergibt sich aus den Details der Kritik. Kurzfassung: Ein Junge bricht ins Eis ein, andere Kinder retten ihn.).
Der Lehrkraft und anderen Deutschlehrern wurde das Angebot unterbreitet, sich inhaltlich kompetent mit dem Thema Journalismus, Medien und Fake News auseinanderzusetzen. Die Antwort des Schulleiters Dr. Vogel zeigt, kurz und arrogant, dass es daran überhaupt kein Interesse gibt.
email an die Lehrerin, 02. Dezember 2019:
(…) Aber allein schon die Aufgabenstellung dieser Klassenarbeit hat mir die Sprache verschlagen: Sie fordern in Zeiten von „Fake News“ die Schüler tatsächlich auf, einen Zeitungsbericht zu schreiben und „fehlende Fakten zu erfinden“? Welche Botschaft übermitteln Sie damit in Bezug auf einen „sachlichen Zeitungsbericht“? Was man nicht weiß, erfindet man halt dazu? Das kann ich gar nicht glauben, aber das steht da schwarz auf weiß.
Zu meiner Person: Ich war in Deutsch einer der besten Abiturienten, habe einen Magisterabschluss in Germanistik mit der Note 1, habe über Jahre Deutsch für Ausländer unterrichtet, bin mit mehreren Medienpreisen ausgezeichnet, Mitgründer von Netzwerk Recherche und veröffentliche regelmäßig in wissenschaftlichen Medien zum Thema Medien und Journalismus. Seit 1991 verdiene ich mein Geld als Journalist und habe auch selbst Volontäre ausgebildet. Zudem berate ich Unternehmen und Politiker in Sachen Medienkompetenz/Umgang mit Medien. Sie können also davon ausgehen, dass ich sowohl als Germanist als auch als Journalist fachlich versiert bin.
Eigentlich wäre die Aufgabenstellung dieser Klassenarbeit ein Thema, das ich sofort journalistisch aufarbeiten sollte. Mir geht es aber in erster Linie darum, das Problembewusstsein bei Ihnen und Ihren Kollegen (aller Fachrichtungen) zu schärfen, weshalb ich zunächst davon Abstand nehme und das Gespräch mit Ihnen suche.
Die „Fake News“ Problematik fängt leider bereits mit der Arbeitsgrundlage und nicht erst bei der Aufgabenstellung an:
Haben Sie sich dieses Geschehen ausgedacht oder entstammt das einer anderen Quelle? Wie auch immer – die Schilderung ist derart unglaubwürdig, dass ich als Journalist sofort erhebliche Zweifel hätte.
– „20 Minuten im eisigen Wasser“ – das überlebt kein Mensch. Bereits nach drei bis vier Minuten wäre der Junge tot gewesen.
– Nirgendwo in der Schilderung steht, welcher Fluss das sein soll. Ich bin aktuell 53 Jahre alt und habe noch nie erlebt, dass in Deutschland ein großer Fluss eingefroren wäre. Es ist vermutlich ein großer Fluss, weil sich meist nur hier Brücken finden, über die Straßenbahnen fahren. Auf dem platten Land gibt es das nicht.
– Am gesamten Ufer von Rhein und Neckar gibt es kein Sammelholz mit dem man am Nachmittag ein verbotenes offenes Feuer entfachen könnte. Und wenn, würden sofort die Sicherheitsbehörden einschreiten.
– Eine Flussströmung „brodelt“ niemals, sondern fließt. Es brodelt in Fließgewässern mit Untiefen, also Stromschnellen beispielsweise.
– Der Junge soll in den Fluss gefallen und weggeschwemmt worden sein. Der Fluss ist weitgehend zugefroren – da kann niemand „entsetzt“ erkennen, dass sich ein Mensch im Wasser befindet, denn den sieht man nicht mehr. Zudem ist die Strömungsgeschwindigkeit derart hoch, dass der Junge bereits mehrere hundert Meter abgetrieben worden wäre.
– Mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung ist eine Person in dieser Situation nicht mehr zu retten. Hier braucht es zusätzlich eine gekonnte Herzdruckmassage, die Kinder in diesem Alter wegen fehlender Kraft vermutlich nicht bewerkstelligen können. Typischerweise verfügen Kinder in diesem Alter auch nicht über solche Kenntnisse und nehmen auch nicht an Erste-Hilfe-Kursen teil, die sie dazu qualifizieren würden.
Kurzum: Ich verstehe, dass sie zur Veranschaulichung des Unterschiedes zwischen Erzählung und Bericht eine gewisse Dramatik benötigen – aber diese Schilderung wäre eher eine tolle Übung für „fact checking“ gewesen – konkret zum Bildungsplan Deutsch für Klasse 5/6 zum Thema „Medien problematisieren – Informationen aus medialen Quellen hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit prüfen“
Was ist plausibel, was nicht? Was kann stimmen, was definitiv nicht? Und weiter: Welche Informationen muss man noch recherchieren, weil sie fehlen (z.B. Name des Flusses). Dazuerfinden ist jedenfalls keine Technik, die man im Zusammenhang mit „sachlichen Zeitungsberichten“ pädagogisch empfehlen sollte!
Ich muss Sie auch ehrlich fragen, was im Unterricht in Sachen Zeitungsbericht und Journalismus thematisiert wurde. Welche Zeitung meinen Sie, wenn Sie einen Zeitungsbericht verlangen? Welche Art von Berichterstattung? Die BILD ist wie die taz oder die FAZ eine Zeitung. Oder die Schülerzeitung? Alle veröffentlichen Zeitungsberichte – aber nach sehr unterschiedlichen Methoden. Kam das im Unterricht vor? Beschreibend oder wertend? Trotz der großen Bandbreite sind das ja alles Zeitungsberichte.
Ich frage deshalb, weil Sie z.B. bei X Überschrift „Ein eisiges Erlebnis“ angemerkt haben, das passe eher zu einer Erzählung. Natürlich passt es gut zu einer Erzählung, und zu typischen Berichten wie z.B. einem Polizeibericht eher nicht, wobei sich auch das aktuell in der Praxis ändert. Aber als Überschrift zu einem Zeitungsbericht, und darum ging es ja, wäre das durchaus akzeptabel – schauen Sie nur mal die Überschriften in den Tageszeitungen durch – im Mannheimer Morgen am Wochenende z.B. „Erste Hilfe für die Seele“ oder in der RNZ „Unfallflucht mit quietschenden Reifen“ zu einem ansonsten sachlichen Polizeibericht – und von der BILD wollen wir gar nicht anfangen.
Ich gehe im Übrigen davon aus, dass kaum ein Kind in Ihrer Klasse regelmäßig eine Zeitung liest. Für X weiß ich das, weil in deren Haushalt keine Print-Zeitung abonniert ist. Sie schaut allenfalls mal in das Ortsblatt. (…)
Digitale Informationen überlagern ohnehin seit vielen Jahren die von „Zeitungsberichten“. Darüber zu diskutieren, ob das gut oder schlecht ist, ist ein weites Feld. Sie können sicher sein, dass ich kein Apologet des Digitalen, sondern eher sehr kritisch bin, obwohl ich selbst ein digitales Angebot verantworte.
Kurzum. Als Journalist bin ich, auch um meinen Beruf zu schützen, überhaupt nicht mit Ihrer Aufgabenstellung einverstanden und werde dies zumindest dann öffentlich thematisieren, sofern Sie nicht für ein Gespräch bereitstehen. Da es mir nicht um einen persönlichen Angriff auf Sie geht, sondern um die Arbeit des gesamten Kollegiums, bitte ich um ein Gespräch unter Beteiligung der Schulleitung. Denn ich erkenne eine Art von Kenntnisnotstand, um das mal motivierend zu formulieren.
Für mich bedeutet solch ein Gespräch nur privaten Aufwand, den mir niemand bezahlt. Aber das Thema ist mir wichtig. Wenn ich es journalistisch spielte, was durchaus möglich ist, würde es enorme Aufmerksamkeit erreichen. (…)
Antwort des Schulleiters, 10. Dezember 2019
Sehr geehrter Herr Prothmann,
Sie haben sich mit zwei Anliegen, die unsere Schülerin X betreffen, an Frau X, die Klassenlehrerin der Klasse X, gewandt. Grundsätzlich sind für uns ausschließlich die Erziehungsberechtigten Ansprechpartner für die Belange unserer Schülerinnen und Schüler. Das gilt sowohl für fachliche wie auch pädagogische Fragen.
Wir bitten Sie, dies zu respektieren.
Mit freundlichen Grüßen
Eberhard Vogel
Antwort an den Schulleiter, 10. Dezember 2019:
Sehr geehrter Herr Dr. Vogel,
war meine Zuschrift zu komplex?
Ich habe mich mitnichten mit zwei „Anliegen“, die eine einzelne Schülerin betreffen, an Ihre Lehrkraft gesandt. Thema ist die bedenkliche Vermittlung von „Lehrstoff“, der die gesamte Klasse betrifft und alle weiteren Schülerinnen und Schüler, die von dieser Lehrkraft unterrichtet werden. Möglicherweise sogar alle Kinder der Unterstufe, sofern die Arbeitsmaterialien auch in anderen Klassen benutzt werden. Dazu habe ich ein freundliches Angebot unterbreitet, um diesen Missstand im Fach Deutsch aus der Welt zu schaffen. Offenbar sind Sie aber der Meinung, dass es einem gymnasialen Standard entspricht, den Schülerinnen und Schülern die Produktion von Fake News beizubringen.
Das nehme ich so zur Kenntnis und dokumentiere diesen Sachverhalt wie angekündigt nun öffentlich.
Mit freundlichen Grüßen
Hardy Prothmann