Mannheim, 10. März 2016. (red/nh) 5 Minuten gegen 100 Dezibel: Die Deutsche Bahn möchte die Schienenstrecke Mannheim-Frankfurt weiter ausbauen – dies ist auch dringend notwendig: Die Rheinstrecke ist die am stärksten frequentierte Gleisstrecke. Vor allem der Güterzugverkehr macht den Menschen sorgen, die unmittelbar an der zukünftigen Trasse wohnen – der Lärmpegel ist enorm: Bis zu 100 Dezibel erreicht ein durchfahrender Güterzug – das entspricht in etwa der Lautstärke eines Presslufthammers. Bei 120 Dezibel können langfristige Gehörschäden auftreten.
Von Naemi Hencke
Wenn der Zug rollt, sind die meisten froh darüber. Schnell und ohne Verzögerungen an einem bestimmten Ziel anzukommen, hat für viele zunächst Priorität und bedeutet ein hohes Maß an Komfort.
Mannheim – Frankfurt: Bestehende Bahntrasse steht vorm Kollaps
Am Mannheimer Hauptbahnhof steigen täglich etwa 110.000 Fahrgäste ein, um oder aus. Insgesamt verkehren jeden Tag 626 Züge – davon sind 176 Fernverkehrszüge. Etwa 300 Güterzüge rauschen täglich auf der Rheinschiene zwischen Mannheim und Köln entlang.
Das ist enorm. Da verwundert es nicht, dass der Mannheimer Hauptbahnhof der zweitgrößte Verkehrsknoten in Südwestdeutschland ist – und zunehmend überlastet wird.
Im bundesweiten Vergleich gehört der Personenverkehrskorridor Mannheim – Frankfurt zu den am stärksten frequentierten ICE-Strecken Deutschlands. Die Güterstrecke entlang des Rheins gehört sogar zu den meist befahrenen Schienenwegen in ganz Europa. Auf den zweigleisigen Mischverkehrsstrecken der Riedbahn und der Main-Neckar-Bahn kommt es deshalb zunehmend zu Verzögerungen im Bahnbetrieb.
Der Verkehr brummt
Laut einer vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) in Auftrag gegebenen Studie der deutschlandweiten Vekehrsverflechtungen, prognostiziert diese einen “überproportionales Verkehrswachstum” unter anderen im Baden-Württemberg und Hessen:
Schon seit 1998 planen die DB AG und der Bund einen Entwurf für den zweigleisigen Trassenausbau Frankfurt – Mannheim. Bis zur Verwirklichung wird es wohl noch Jahrzehnte dauern.
Der 85 Kilometer lange Neubau, beziehungsweise Ausbau der bestehenden Bahntrasse soll in Zukunft die bereits ausgebauten Strecken Köln-Frankfurt und Mannheim-Stuttgart verbinden. Im besonderen ist dieser Korridor wichtig für die transeuropäische Achse Nummer 24, die Lyon-/Genua-Basel-Duisburg-Rotterdam und Antwerpen verbindet.
Schmerzgrenze erreicht?
Die Deutschen Bahn meint, der Ausbau der Strecke solle die steigenden Verkehrsmengen aufnehmen und für deutlich kürzere Fahrzeiten sorgen. Der Nahverkehr könne ausgebaut werden, weil im Zuge des Schienenneubaus Platz auf den Altgleisen frei werde. Die Anwohner an den Bestandsstrecken würden von Schienenlärm entlastet, indem der Güterverkehr nachts auf die Neubaustrecke umgeleitet werden könne.
Vergangenen Montag trafen sich Vertreter von regionalen Bürgerinitiativen mit Anton Hofreiter, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag und Wolfgang Raufelder, Landtagsabgeordneter und Stadtrat in Mannheim (Bündnis 90/Die Grünen).
Die Bewohner im Einzugsgebiet der geplanten Ausbaustrecke haben Sorge, denn der Neubau der Bahntrasse würde eine Verdopplung des Güterzugverkehrs bedeuten – und damit eine immense Mehrbelastung durch Lärm verursachen.
Wer kennt es nicht? An einem Bahnsteig zu stehen und ein Güterzug rauscht vorbei. Manche werden sich sehr wahrscheinlich instinktiv die Ohren zuhalten. Es ist laut. Sehr laut sogar. Lärmpegel von rund 100 Dezibel werden gemessen, wenn ein Güterzug mit 80 Kilometern pro Stunde vorbeifährt. Bei 120 Dezibel ist die Schmerzgrenze erreicht. Dieser Lärmpegel ist für das menschliche Gehör gefährlich und kann bereits bei kurzen Einwirkungen zu bleibendem Hörschäden führen.
Ist die Sorge der Betroffenen Menschen demnach berechtigt?
Dr. Gunther Mair von der Interessengemeinschaft Bahnregion Rhein-Neckar (IG BRN 21) nennt uns Zahlen: An einem Haus, bei dem 25 Meter entfernt ein Güterzug vorbei fährt, wurden noch etwa 70 bis 80 Dezibel gemessen.
In sogenannten “reinen und allgemeinen Wohngebieten und Kleinsiedlungsgebieten” darf beispielsweise das Maximum von 59 Dezibel am Tag und 49 Dezibel in der Nacht nicht überschritten werden, so schreibt es die Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV) vor.
Zur Zeit läuft ein Genehmigungsverfahren der DB AG, welches vor allem den genauen Streckenverlauf beschreiben soll. Zudem soll es Studien zur Unweltverträglichkeit und konkrete Schallschutz-Maßnahmen enthalten. Als Grundlage dient der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) und das Bundes-Immissionsschutzgesetz, welches beispielsweise die oben genannten Lärmgrenzwerte vorschreibt.
Lärmschutzmaßnahmen – aber welche?
Dieses Gesetz verpflichtet die Deutsche Bahn wie auch die Kommunen “beim Neubau oder der wesentlichen Änderung eines vorhandenen Verkehrsweges sicher[zu]stellen, dass Anwohner und Umwelt nicht durch den Lärm geschädigt werden.”
Wenn also die Schallimmissionen die zulässigen Grenzwerte überschreiten, müssen aktive beziehungsweise passive Schallschutzmaßnahmen eingeplant werden. Aktive Maßnahmen wären beispielsweise Schallschutzwände oder -wälle.
Passiv sind solche Maßnahmen, die schalltechnische Verbesserungen bedeuten: Zum Beispiel der Einbau von speziellen Schallschutzfenstern. Die gesetzliche Regelung sieht allerdings vor, den aktiven Maßnahmen Vorrang zu gewähren.
Nun muss verhandelt werden, denn es ist klar, dass es in irgendeiner Form Lärmschutzmaßnahmen geben muss. Sind aber Schallschutzwände die beste Lösung? Oder vielleicht doch die europaweite Umrüstung der Güterzug-Bremssohlen? Welche Maßnahmen sich die effektivsten? Und was ist am billigsten?
Anton Hofreiter spricht sich dafür aus, die gängigen Graugussbremsen an Bestandszügen zu ersetzen. Diese würden eine Hauptursache für den Lärm sein. Die Technik der Low Noise – Low Friction (auch LL-) Sohlen genannt, sei schon auf dem Markt. Eine flächendeckende Umrüstung würde für alle Beteiligten eine “”Win-Win-Situation” darstellen, selbst wenn der Bund die Umrüstung der Güterzüge aus dem Bundeshaushalt zahlen müsste. Die Kosten für die kilometerlangen Schutzwände würden dementsprechend eingespart werden können.
Ein leiserer Güterzug ist immer noch lauter als ein ICE,
wendet Ulrich Guldner ein. Denn die Oberflächenbeschaffenheit der Züge spiele bei der Lärmentstehung ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Die Oberflächen der ICEs böten kaum Angriffsfläche für Wind. Zudem würden die Güterzüge länger und langsamer vorbeifahren. Das wiederum beeinflusse die Dauer des Lärmpegels.
Jede Minute zählt
Es wird eine Debatte um Millardensummen geführt, die vor 18 Jahren ihren Anfang nahm und sehr wahrscheinlich nochmals 40 Jahre dauern könnte. Die Interessen sind auf beiden Seiten klar: Die Deutsche Bahn möchte uneingeschränkten, reibungslosen Bahnverkehr und hierbei zählt jede Minute. Denn jede Minute kostet Geld.
Entscheidend ist die Fahrplanarchitektur: Wie gut gelingen die Übergänge und Umstiege zwischen viel genutzten Zügen?
Angestrebt wird üblicherweise ein integrierter Taktfahrplan mit Taktknoten. Dieses Modell ist sehr komplex und in der Umsetzung hoch sensibel. Denn aus nur einer kleinen Abweichung im Fahrplan, ergibt sich ein „Rattenschwanz“ an Verspätungen und verfehlten Umsteigezeiten beziehungsweise längeren Umsteigezeiten für den Fahrgast.
Diesen Moment kann man auch „Symmetriezeit“ nennen – der Fahrplan wird an dieser Stelle „gespiegelt“. Demnach kommt es bei einem Stundentakt alle 30 Minuten zu einer Kreuzung von Zügen der gleichen Linie. Die Züge, egal aus welcher Richtung, treffen im Idealfall kurz vor der Symmetrieminute ein und fahren kurz nach der Symmetrieminute aus. In meisten Fällen bei Minute 58,5.
Ziel des Ganzen: Ein optimaler Taktfahrplan verkürzt Wartezeiten, verbessert die Einprägsamkeit von Fahrplänen und die Verfügbarkeit. Und spart Geld ein. Dies ist ganz im Sinne des Unternehmens und des Fahrgastes natürlich auch.
Im Fall der geplanten Neubaustrecke Mannheim-Frankfurt soll genau dieses Modell zu einer deutlichen Verbesserung im Betriebsablauf beitragen, denn aktuell hat die DB AG sehr große Probleme den Fahrplan einzuhalten.
Die Neubaumaßnahmen der Deutschen Bahn sind nicht immer unbedingt logisch,
meint Anton Hofreiter. Sollte die Zeitersparnis von wenigen Minuten aber bedeutend für die Fahrplanarchitektur sein, könne die Investition in den Streckenbau durchaus sinnvoll sein, auch wenn es um Milliardenbeträge geht – durch Einsparnisse bei Umstiegen könne sich das amortisieren.
Die Befürchtung der Anwohner der zukünftigen Bahntrasse sind hingegen starke Störungen von vorbeifahrenden Zügen. In diesem Sinne sei es wichtig, so Herr Hofreiter, dass zunächst ein länderübergreifender Projektbeirat mit Beteiligung von Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz zustande käme. Denn nur geschlossen könne dieser auf Unterstützung des Bundes hoffen.
Minuteninteressen gegen Lärminteressen – beide Ansichten müssen gleichermaßen gehört werden,
sagt Anton Hofreiter.