Rhein-Neckar, 09. November 2015. (red/pro) Die Flüchtlingskrise ist noch längst nicht auf dem Höhepunkt angelangt, aber das Theater ist übers Vorspiel hinaus und langsam wird der Knoten geschürzt. Das Drama heißt: Wollt Ihr den totalen Vertrauensverlust? Die Bösewichter sind Politik und Medien – die Opfer die Bürger? Das Problem bei diesem Trauerspiel: Es gibt keine Helden. Jeder steht im Verdacht, ein Bösewicht zu sein – und keiner weiß, wer der Held sein soll. Und daran wird sich auch sobald nichts ändern.
Von Hardy Prothmann
Was ist eigentlich mit diesem Deutschland los? Haben wir eine rechtsstaatliche Ordnung – oder haben wir keine? Kennen sich Politiker und Medien noch damit aus oder ist alles nur noch “Stimmungsmache”? Dafür vs. Dagegen. Dazwischen gibt es genau nichts?
Unabhängig davon werden Sie hier nicht von „plakativen Bildern“ belästigt. Sie werden auch keine stripende „Blue-Vista-Girls“ sehen, keine „Crash-Schock-Fotos“, sondern nur Text. Eine „Bleiwüste“.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser des Rheinneckarblog, lesen einen Text eines ehrlichen Journalisten, einem, der sich redlich müht, „noch mitzukommen“. Einem, der Leser/innen mit seinem Team gut, ehrlich und transparent unterrichten will, aber seit Wochen das Gefühl hat, „kapitulieren“ zu müssen. Weil offenbar vieles nicht mehr gilt, was vorher „Gesetz“ war. Wir verzichten teils auf Berichte, weil wir keine „Gerüchte“ streuen wollen und uns eine „Verifizierung“ nicht mehr gelingt.
Um es klar zu sagen: Wir schaffen viele Berichte nicht mehr, weil wir nur veröffentlichen, was wir verantworten können. Und wir sind wie alle auch Medienkonsumenten und trauen unseren Augen kaum, was alles an „unausgegorenem Zeugs“ als „Nachrichten“ veröffentlicht wird.
Wir würden der Kanzlerin gerne das „Wir schaffen das“ glauben – tatsächlich sind wir so dermaßen „geschafft“, dass kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Und wir erleben eine Bundesregierung, die sich zunehmend verantwortungslos präsentiert.
Wir bekommen bei unseren Recherchen immer mehr Widerstände und immer weniger Auskünfte – teils auf vermeintlich „einfachste Fragen“, die aber aktuell mehr denn je „rechtlich abgesichert“ werden – von monströsen Beamtenapparaten. Umgekehrt müssen wir aufpassen wie nie, dass wir bei Veröffentlichungen nicht sofort von diesen Apparaten rechtlich angegriffen werden.
Fest steht – wir haben keinen „Hausjuristen“. Nicht einmal einen – die anderen haben sehr viele. Und wenn es streng wird auch solche, die viel, viel Geld Kosten, das wir uns nicht leisten können.
Es herrscht der Ausnahmezustand – aber psst… nicht zu laut
Die aktuelle Debatte über “subsidiären Schutz” und “Einzelfallprüfung” ist ein Klamauk sondergleichen. Ich lasse mich ja gerne eines besseren belehren, aber nach meinem Rechtsverständnis kann die Kanzlerin Dr. Angela Merkel sagen, was sie will, es herrscht Meinungsfreiheit, auch die Koalition aus CDU und SPD kann sich einigen, auf was sie will – aber ohne Anträge und Beschlüsse geht in diesem Rechtsstaat mal gar nichts, außer, es herrscht der Ausnahmezustand. Und auch der muss bekannt gegeben werden und hat sich später einer rechtlichen Prüfung zu unterziehen. Aber keiner sagt bislang auf Bundesebene, das Ausnahmezustand ist. Auch, wenn das schon lange so ist.
Wenn also die Regierungskoalition am vergangenen Donnerstag etwas beschließt, was der Bundesinnenminister am Freitag zur Farce macht – dann ist das Theater. Rechtlich relevant ist da noch nichts – auch, wenn große Medien so tun als ob.
Recht, Recht haben, geltendes Recht
Sind in diesem Land eigentlich alle komplett verrückt geworden? Selbstverständlich hat der Bundesinnenminister Thomas de Maizière Recht, wenn er eine “Einzelfallprüfung” statt einer pauschalen “wir-winken-alle-durch-Politik” fordert. Moralisch macht ihn das zum Buh-Mann und jeder, der das so sieht, hat auch Recht – immerhin hat die Kanzlerin vor kurzem erst alle durchgewunken. Insbesondere aus Syrien. Das war als “Geste groß” – tatsächlich ohne rechtliche Grundlage.
Jetzt sind sie da – die vielen hunderttausend syrischen Männer. Die Vorhut, die ihre Familien nachholen will. Zu Recht. Sie glauben daran, dass das möglich ist, weil ihnen niemand gesagt hat, dass es rechtlich mit großer Sicherheit nicht “so einfach” möglich ist.
Und die Bundesregierung verschärft mal eben das Recht -auf Asyl. Mit dabei, die SPD.
Schlagzeilenaufgegeiltedurchsdorftreibenqualitätsmedien
Ich bin nachhaltig entsetzt über die “Qualitätsmedien”, die jeden Tag eine neue “Story” durchs Dorf treiben – vollständig enthemmt auf der Suche nach Schlagzeilen und ohne Gespür dafür, wo es gerade überall einschlägt.
Die Deutschen wollen helfen. Aber sie suchen Orientierung. Etwas, an das sie sich halten können. Und wo sie hinschauen und was sie lesen, regiert das Chaos. Alle, die an den Rechtsstaat glauben, werden gerade vorgeführt, weil sich täglich, teilweise im Stundentakt, die “Rechtslage” ändert – das tut sie nicht, aber Politiker und schlagzeilengeile Medien tun so, als ob das so wäre.
Faktencheck – Phantomdebatte
Tatsache ist, dass die “Familienzusammenführungsdebatte” eine Schein-Debatte ist – weil sie vollständig frei von Tatsachen geführt wird. Nach unseren ersten Recherchen hat die Deutsche Botschaft in Beirut 2014 insgesamt rund 6.000 Asyl-Anträge bearbeitet. In diesem Jahr – nach erheblichen Aufstockungen – bereits über 30.000 Anträge. Und sie ist am Ende aller Kapazitäten angelangt. Nehmen wir die Türkei dazu und ein paar andere Länder, dann kommen pro Jahr vielleicht 100.000 zu bearbeitende Asyl-Anträge zusammen. Lassen Sie uns großzügig sein, wir verdoppeln ins Blaue auf 200.000. Um die angeblich zwei Millionen “Nachzügler” zu bearbeiten, bräuchte es also mindestens zehn, eher 20 Jahre, um in “geordneten Verfahren” einen Familiennachzug zu regeln. Das ist eine Phantomdebatte.
Hey, next year is better?
“Subsidiärer Schutz” für “ein Jahr” – was soll diese Veräppelung? Glaubt der Bundesinnenminister wirklich daran, in einem Jahr könne man darüber nachdenken, dass man Syrer abschiebt, weil es vor Ort “nicht mehr ganz so schlimm ist”?
Es gibt für das Verhalten Thomas de Maizières und Wolfgang Schäubles ein Wort: Putsch.
Das ist Schnappatmungs-Journalismus, nichts weiter. Ich habe Wolfgang Schäuble zwei Mal persönlich intensiv erlebt – mein Eindruck ist, der Mann ist ein Staatssoldat und kein Illusionist. Der größtmögliche Schaden wäre ein Putschversuch gegen die Kanzlerin.
Blitzableiter-Story
Das Gegenteil ist meiner Auffassung nach richtig – die Minister ziehen die Aufmerksamkeit und die Prügel auf sich, um der Kanzlerin Luft zu verschaffen, denn ihr “Wir schaffen das” ist dabei, passé zu werden.
Was aktuell passiert, ist der Versuch der Wiederherstellung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Bundesrepublik Deutschland gewährt Asyl – unter brutal scharfen Konditionen – aber eben nur unter “rechtlich einwandfreien” Kondidtionen.
Die aktuelle Debatte versucht eine vollständig aus dem Ruder gelaufene Entwicklung in “geordnete Bahnen” zu lenken. Das passiert nicht aus “Mitmenschlichkeit”, sondern aus Angst vor “Konsequenzen für verantwortliche Personen”.
Boris bringt alle auf die Palme
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer wird von den Medien gejagt und von seiner Partei – der Mann ist Mathematiker und kann 1+1 zusammenzählen. Seine über Facebook in schneller Schlagzahl geposteten Kommentare bringen die grüne Jugend in Rage und verleiten schlagzeilengeile Medien zu schnellen “Aufreger-Artikeln”.
Boris Palmer hält das aus – er legt ein ums andere Mal nach und führt vor allem “die Medien” vor, indem er nachweist, dass es um “Aufreger-Journalismus” geht. Auch das ist ein Trauerspiel, das ich nur ungern beobachte, weil große Titel wie Stuttgarter Zeitung und Handelsblatt vollständig besabbert dastehen – wie pawlowsche Hunde, denen man den Gong schlägt.
Das größte Versagen des “Qualitätsjournalismus” ist, dass die “Experten” null Plan über den Tag hinaus haben. Sie fokussieren sich auf die Bundes- und auf die Landespolitik.
Was keiner sieht, ist, dass wenn all die Verfahren immer schneller laufen, am bitteren Ende die Kommunen für die “Integration” gerade stehen müssen.
Diese sind komplett unvorbereitet und außerstande, dies zu leisten.
Was wir aktuell erleben, ist das “Vorspiel” und der Knoten wird sich schürzen, brutal, unaufhörlich und so dramatisch, wie sich das niemand bislang ausmalen kann.
Um es klipp und klar zu formulieren – viele Politiker und Medien trauen sich das nicht. Es werden noch sehr, sehr viel mehr Menschen auf der Flucht sterben.
Angesichts der mangelnden Kapazitäten werden immer mehr Menschen auch die brutalsten Routen suchen, um dahin zu fliehen, wo sie auf Frieden hoffen.
Sie werden Sammellager vorfinden, die elendig sind. Sie werden ankommen und keine Hoffnung finden. Sie werden wütend werden und je öfter sie das werden, werden andere wütend werden, die ihnen die Wut nicht zugestehen, sondern sagen: “Ihr müsst Euch aber an die Regeln halten.”
Was für Regeln? Einen Tod muss man sterben
Regeln, die diesen Menschen nie jemand erklärt hat und Regeln, die keine Rolle spielen, wenn es ums Überleben geht.
Und jeder Flüchtling hat Recht, wenn er sagt: “Die einzige Regel, der ich folge ist: Ich will überleben. Ober wenigstens einer aus meiner Familie.”
Darauf hat Europa keine Antwort. Auch nicht der Bundesinnenminister. Auch nicht die Kanzlerin.
Und möglicherweise auch nicht unser Rechtsstaat – das Dilemma ist “brutalstmöglich”.
Wenn ordentliche Rechtsstaatlichkeit auf ungeordnete Nichtrechtsstaatlichkeit trifft, ist das Dilemma unvermeidbar. Und Dilemma heißt – einen Tod muss man sterben.
Darum wird die Öffentlichkeit nicht herumkommen – ob in Deutschland oder in anderen Ländern.
Grausam ist – wenn die Gesichter mit den Masken abgerissen werden
Das ist grausam. Für jeden einzelnen Menschen, der stirbt. Grausamer ist weltweit der Verlust der Rechtsstaatlichkeit – denn dort sterben die meisten Menschen.
Ich denke an Büchner, diesen ganz großartigen Denker und sein Stück „Dantons Tod“:
Danton. Und Robespierre?
Lacroix. Fingerte auf der Tribüne und sagte: die Tugend muß durch den Schrecken herrschen. Die Phrase machte mir Halsweh.
Danton. Sie hobelt Bretter für die Guillotine.
Lacroix. Und Collot schrie wie besessen, man müsse die Masken abreißen.
Danton. Da werden die Gesichter mitgehen.
Meinen Lesern möchte ich Geschichts- und Literaturbewusstsein empfehlen. Lesen Sie Pirandello, denken Sie an Theater, nicht nur das auf der Bühne – strengen Sie Ihren Geist an. Ich habe keine Lösung für Sie. Ich bin nur ein Journalist, der sich bemüht, Meinungsbildung in die Welt zu bringen. Dabei erinnere ich mich an Luigi Pirandello. Auf Wikipedia heißt es über „Sechs Personen suchen Ihren Autor“:
Ohne es zu wollen, drückt jeder von ihnen in höchster Erregung, um sich gegen die Anschuldigungen des anderen zu verteidigen, als sein tiefstes Leid und seinen Kummer das aus, was so viele Jahre die Not meines Geistes gewesen ist: die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verstehen.
Und weiter:
Das Stück entfachte bei seiner Uraufführung 1921 durch die Compagnia di Dario Niccomedi im Teatro Valle in Rom einen handfesten Skandal, bevor es seinen Siegeszug durch die europäischen Theaterhäuser antrat. Das Publikum in der Premiere war gespalten zwischen Anhängern und Gegnern, welche lauthals „Irrenhaus! Irrenhaus!“ riefen. Pirandello und seine Tochter Lietta, die bei der Premiere anwesend waren, mussten das Theater durch einen Seiteneingang verlassen, um der Aggression des Publikums zu entgehen. Einer späteren Aufführung in Mailand war dann großer Erfolg beschieden.
Durch seine Trilogie des Theaters auf dem Theater und vor allem durch das Stück Sechs Personen suchen einen Autor wurde Pirandello in kurzer Zeit zum führenden Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Er revolutionierte das Theater und konfrontierte das Publikum mit einer bis dahin unbekannten Perspektive, in der jegliche Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren aufgehoben wurde und mit dem er den Inbegriff des modernen Dramas schuf (Péter Szondi).
Denken Sie bitte für sich nach – suchen Sie zuerst nach Fragen, dann nach Antworten. Aktuell gibt es leider zu viele Antworten auf Fragen, die nie gestellt worden sind.
Unsere Helden sind die vielen Menschen, die einfach nur helfen, ohne sich zu inszenieren, ohne Helden sein zu wollen. Diese Menschen müssen auch nicht in die Öffentlichkeit – sie sind einfach da. Und das ist gut so.
Anm. d. Red.: Dieser Text hat kein „vier-Augen-Prinzip“ erfahren, wie sonst üblich bei unserem Angebot. Wenn Sie einen Rechtschreibfehler finden, schicken Sie uns einen freundlichen Hinweis, sonst behalten Sie ihn bitte. Wenn Sie diskutieren wollen, dann tun Sie das hier über die Kommentare – auf Facebook werden wir das nicht tun. Inhalte müssen zum Inhalt. Debatten müssen zuzuordnen sein. Wir bitten gerne um Meinungen. Halten Sie sich bitte an unsere Netiquette. Und noch ein Wort, ganz nett – wir haben jeden Tag tausende von Lesern. Nur etwa 100 bezahlen bislang für unsere Arbeit. Glauben Sie, dass wir Pflanzen sind? Zahlen Sie was an uns, verdammt noch mal – Sie nutzen eine Dienstleistung, die viel Geld kostet, um sie herzustellen. Ohne Geld wird diese möglicherweise nicht überleben können – und was lesen Sie dann an unabhängigem Journalismus? Maulen Sie dann, dass es den nicht mehr gibt? Denken Sie nach. Für sich. Für andere.
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