Mannheim, 09. September 2014. (red/cb) Der Verein „Rhein-Neckar-Industriekultur e.V.“ engagiert sich seit 2007 für die Erhaltung und den Ausbau alter Industriegebäude in Mannheim. Vergangenen Sonntag startete das Projekt „Wege zur Industriekultur“. Ziel ist es, die Geschichte der Stadt Mannheim anhand von Industriebauten im Handelshafen zu erzählen und deren Bedeutung zurück in die Köpfe der Menschen zu holen.
Von Carolin Beez
Ungefähr 50 Menschen gehen im Gänsemarsch vorsichtig hintereinander her. Sie laufen auf einem schmalen, unbefestigten Trampelpfad. Die Mauer des ehemaligen SägewerksMesserschmitt, auf der anderen Seite geht es steil gut fünf Meter hinab ins Kaiser-Wilhelm-Becken im Industriehafen. Ihr Ziel ist eine vier Meter hohe Pyramide. Sie liegt versteckt hinter dem Gebäude. Fast vergessen und jetzt wieder neu durch die Gäste entdeckt. Sie ist das älteste Bauwerk im Industriehafen – 1810 im Auftrag von Kurfürst Carl-Theodor gebaut.
Die Pyramide ist unscheinbar. Doch der fast unzugängliche Ort verleiht dem Bauwerk etwas Besonderes, nahezu Einzigartiges. Im 19. Jahrhundert war sie einer der beiden Punkte, an denen die Instrumente auf der Mannheimer Sternwarte ausgerichtet wurden. Diese zählte damals zu den bedeutendsten Sternwarten Europas. Wahrscheinlich hätte niemand der hier anwesenden Menschen sie jemals zu Gesicht bekommen – hätte Veit Lennartz sie nicht dorthin geführt.
Herr Lennartz ist ehrenamtlicher Helfer im Verein „Rhein-Neckar Industriekultur“. 31 Informationstafeln wurden an verschiedenen Gebäuden angebracht. Die Pyramide zählt eigentlich nicht zu den Stationen, die der Verein darin beleuchten will – sie ist eine Art „Zugabe“. Der schmale, unbefestigte Weg, sei den Besuchern nicht dauerhaft zumutbar, sagt Herr Lennartz.
Sehenswürdigkeiten im Mannheimer Industriehafen
Das Hobel- und Sägewerk bei der Pyramide ist die nächste Station. Die Veränderungen innerhalb des Gebäudes im Laufe der Jahre sind vielfältig. Messerschmitt verarbeitete hier ab 1902 überseeische Hölzer und verschiffte diese nach Rotterdam. Im Jahr 1936 verkaufte die Firma das Gelände an die bereits in Mannheim ansässige Chemie-Fabrik Badenia. Bereits 1933 wurde der Besitzer des Werks von der NS-Stadtverwaltung zum Verkauf gezwungen (siehe unsere Berichte zur Arisierung). Im selben Jahr wurde die Produktion auf Dachpappe in großen Mengen umgestellt.
Im Jahr 2007 zieht Badenia aus den Räumen aus und hinterlässt durch die chemischen Abfallstoffe einen verseuchten Boden – man betonierte einfach drüber. Heute haben sich auf dem Gelände mehrere Kleinunternehmer und Bastler angesiedelt. Herr Lennartz sagt:
Wenn hier mal Bodenarbeiten gemacht werden, will ich nicht dabei sein.
„Natur und Industrie verschmelzen“
Die Wege zur Industriekultur führen die Besucher aber nicht nur an großen Backsteinhäusern entlang, sondern bieten mehrere Aussichtspunkte auf Wasser und Fabriken. „Wenn man das so betrachtet, dann verschmelzen Natur und Industrie förmlich miteinander“, sagt Barbara Ritter, die Vereinsvorsitzende.
So auch bei der alten Neckarmündung. Wenn man sich dort zuerst an einer Schranke vorbei schlängelt und dann noch durch ein Stück verwildertes Gestrüpp zwängt, dann gelangt man an einen versteckten Ausblick, den nur wenige kennen. Von hier sieht man die alte Öl- und Pfalzmühle und die Genossenschaftliche Großeinkaufs-Gesellschaft (GEG), alle drei sind ebenfalls Teil der Tour.
Seinen Anfang nahm die Industriekultur Ende des 18. Jahrhunderts, als die Stadt Mannheim in einer tiefen wirtschaftlichen Krise steckte. Die Weiterentwicklung von Industrie und Handel waren der einzige Ausweg aus dieser Depression. Der Bau des Industriehafens spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die Stadt musste etwas wagen, also ging der Hafen im Jahr 1907 auf einem ungenutzten Rheinarm in Betrieb.
Geschichten von Lagerhallen und Schornsteinen
Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Teil der historischen Entwicklung Mannheims aus einem neuen Blickwinkel zu erzählen: Durch die Geschichten, die die alten Lagerhallen, Gebäude und Schornsteine miterlebt haben. Es sind Geschichten von harter Arbeit, von Kriegen, von Emanzipation und von Architektur. Auch die Schicksale einzelner Menschen werden erzählt.
Gegründet wurde der Verein im Jahr 2007 und ist seitdem, mit seinen Mitgliedern, damit beschäftigt, Gebäude zu beschreiben und ihre Geschichte zu recherchieren. Unterstützt werden sie vom Stadtarchiv, von dem sie ihre Informationen bekommen. Gleichzeitig interviewen sie Zeitzeugen, wie Arbeiter oder frühere Unternehmer. Mittlerweile wurden bereits 250 Bauwerke beschrieben.
Was gibt’s denn da heute?
Auf den Informationstafeln wird die Frage beantwortet. Von der Industrialisierung bis heute wird die Entwicklung beschrieben. Im Unterschied zu einem bewahrenden Museum entwickelt sich der Hafen beständig weiter. Man kann es live beobachten, der Verein vermittelt durch seine Informationen Hintergründe. Wo früher Tabak verarbeitet oder Federbetten hergestellt wurden, sind heute moderne Bars, Diskos, junge Start-Up-Unternehmen, Aufnahmestudios angesiedelt. Die Vielfalt ist groß.
Industriegebiete haben generell ein Schmuddel-Image und gelten als nicht vorzeigbar.
Das sagt Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz bei der Eröffnungsrede. Als die Idee der Wege zur Industriekultur entstand, merkte man schnell, dass in der Bevölkerung ein reges Interesse daran besteht – trotz des „Schmuddel-Images“.
Sichtbar wurde dieses Interesse beispielsweise bei der Langen Nacht der Museen im Jahr 2013, als gut 5.000 Menschen mit dem Verein auf Hafenrundfahrt gingen. „Der Andrang war so groß, dass wir die Straßen und Brücken teilweise absperren mussten“ sagt Veit Lennartz. Als weiterer Beleg lässt sich der einstimmige Gemeinderatsbeschluss für das Projekt „Wege zur Industriekultur“ anführen.
Bei der Eröffnung am Boulder Island, einer Kletterhalle in der Industriestraße, vergangenen Sonntag sprach Barbara Ritter davon, dass es wichtig sei, sich für die Erhaltung der Gebäude einzusetzen. Viele seien bereits zerstört – durch Bombeneinschläge in vergangenen Kriegen. Doch man rechne damit, dass diese Zerstörung in den nächsten Jahren zunehmen wird. Immer mehr Firmen setzten auf effizientere Bauten und rissen die alten Fabriken ab. Sie betreue das Projekt von Anfang an und habe mit allen Schwierigkeiten gekämpft, sagt sie – jetzt sei sie sehr zufrieden mit dem Ergebnis, auch wenn man noch nicht am Ende angekommen sei. Ein weiteres Ziel sei, auch andere Städte dazu zu bewegen, sich an diesem oder ähnlichen Projekten zu beteiligen.
„Die industriellen Gebäude im Hafen sind eine Bereicherung, nahezu die Visitenkarte der Stadt“ sagt Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz. Die Stadt biete ein neues, attraktives Angebot für Touristen und einheimische Bewohner. Das Projekt sei ein guter Versuch die Industriegebiete von ihrem schlechten Image zu lösen.
Nach den Einführungsreden können die über 400 Besucher per Bus durch die Industriestraße und über die Friesenheimer Insel touren. Manche wählen auch das Fahrrad oder erlaufen sich die Objekte. An einigen Ausstiegspunkten geht es zu Fuß weiter – beispielsweise zur Pyramide. Vor Ort bieten die Tafeln und Aussichtspunkte Informationen zu den Gebäuden. Außerdem wird es zwischen dem 25. September und dem 24. Oktober eine Fotoausstellung mit dem Namen „Industriehafen im Focus“ im Technoseum geben. Informationen über den Verein und über weitere Aktionen gibt es auf der Webseite www.rhein-neckar-industriekultur.de