Mannheim/Leipzig, 08. April 2016. (red/ms) Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden: Für einen 52-jährigen Mannheimer, der an Multipler Sklerose leidet, ist der Anbau von Cannabis eine „alternativlose Therapie“. Womöglich ist das ein historisches Urteil – oder aber der Auftakt für die Fortsetzung eines gesetzgeberischen Trauerspiels. Denn nüchtern betrachtet wirkt die Cannabis-Politik reichlich nebulös: Ohne triftigen Grund lässt sich die Staatskasse Jahr um Jahr Milliardenbeträge entgehen.
Kommentar: Minh Schredle
Vor mehr als 30 Jahren ist ein heute 52-Jähriger Mannheimer an Multipler Sklerose erkrankt. Die Symptome der schweren Erkrankung umfassen neben Schmerzen unter anderem Gehbehinderungen, Spastiken und depressive Störungen.
Die klassische Medizin kann dem Mann kaum helfen, denn sie zeigt sich wenig wirksam. Seit 1987 behandelt er sich durch die Einnahme von Cannabis und züchtet sein Heilmittel aus Kostengründen selbst – wie ihm das Bundesverwaltungsgericht aktuell höchstrichterlich bestätigt, handle es sich dabei sogar um eine „alternativlose Therapie“.
Einen Moment bitte. Wie kann das denn sein?
Der Anbau einer illegalen Droge ist nun als Therapie nicht nur tauglich, sondern „ohne Alternative“? Und zu dieser Einschätzung kommt nicht irgendein benebelter Junkie, der sich seinen Konsum schönreden will – sondern das Bundesverwaltungsgericht, also die höchste Instanz, die auf diesem Gebiet zu entscheiden hat. Das Urteil hat sogar rechtsgestaltende Wirkung. Das bedeutet: Jeder, der nicht anders therapiert werden kann, wird sich in Zukunft darauf berufen können.
Doch während Hanffreunde in der ganzen Republik schon aufjubeln, muss dazu ganz klar betont werden: Noch ist das Urteil nur eine Einzelfallentscheidung mit sehr spezifischen Umständen.
Bereits 2000 hatte der 52-Jährige bei dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung gestellt, Cannabis selbst anzubauen. Nach einer Wartezeit von sieben Jahren wurde das abgelehnt.
Als einer von gut 600 Bürgern in Deutschland hat der 52-Jährige außerdem eine Erlaubnis, Cannabis in der Apotheke erwerben zu dürfen. Das ist für den Erwerbsunfähigen allerdings nicht zu finanzieren – denn ein Gramm medizinisches Marihuana kostet in der Regel zwischen 15 und 20 Euro. Unbezahlbar für den Kläger – denn er benötigt für seine Therapie drei bis vier Gramm pro Tag. Wie höchstrichterlich festgestellt worden ist.
„kein gleich wirksames und für ihn erschwingliches Medikament“
Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung beträgt die Erwerbsunfähigenrente des Schwerkranken etwa 900 Euro. Bei drei Gramm am Tag zum Preis von 15 Euro entstünden hochgerechnet Ausgaben von mindestens 1.300 Euro pro Monat – und das ist noch konservativ kalkuliert. Die Krankenkasse des Klägers hat eine Beteiligung an den Kosten abgelehnt. Vor diesem Hintergrund kam das Bundesverwaltungsgericht zu folgendem Urteil:
Nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) kann das BfArM eine Erlaubnis zum Anbau von Cannabis nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen. Die Behandlung des schwer kranken Klägers mit selbst angebautem Cannabis liegt hier ausnahmsweise im öffentlichen Interesse, weil nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts die Einnahme von Cannabis zu einer erheblichen Linderung seiner Beschwerden führt und ihm gegenwärtig kein gleich wirksames und für ihn erschwingliches Medikament zur Verfügung steht. Der (ebenfalls erlaubnispflichtige) Erwerb von so genanntem Medizinalhanf aus der Apotheke scheidet aus Kostengründen als Therapiealternative aus.
Rechtliches zwingendes Urteil wegen „körperlicher Unversehrtheit“
Damit wurde das BfArM dazu verpflichtet, dem Kläger eine explizite Ausnahmegenehmigung für den Anbau zu erteilen. Aus „Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit“ des Klägers sei dieses Urteil „rechtlich zwingend vorgezeichnet, so dass das der Behörde eröffnete Ermessen ‚auf Null‘ reduziert ist“. Deutlicher kann ein Urteil zu Lasten einer staatlichen Institution kaum ausfallen. Weiterhin kommt das Gericht zu der Einschätzung:
Mit den vom Kläger vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen in seiner Wohnung sind die Betäubungsmittel ausreichend gegen eine unbefugte Entnahme geschützt. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Verwendung durch ihn selbst. Des Weiteren verfügt der Kläger aufgrund der jahrelangen Eigentherapie inzwischen über umfassende Erfahrungen hinsichtlich Wirksamkeit und Dosierung der von ihm angebauten Cannabissorte.
Unsere Redaktion hat nicht in Erfahrung bringen können, wie viele Stunden der Kläger insgesamt vor Gericht verbringen musste, bis ihm das zugestanden wurde.
Allein der aktuelle Rechtsstreit wurde seit 2010 vor drei verschiedenen Instanzen behandelt. Doch immer noch ist unklar, ob seine Leidensgeschichte nach drei Jahrzehnten der bürokratischen Zumutungen ein Ende haben wird.
„Alternativen kommen nicht in Betracht“
Denn das Bundesministerium für Gesundheit hat bereits im Januar dieses Jahres einen Gesetzesentwurf erarbeitet, der gesetzliche Krankenkassen in „eng begrenzten Ausnahmefällen“ dazu verpflichten soll, eine Versorgung mit medizinischem Marihuana sicherzustellen. Unter dem Punkt „Alternativen“ heißt es dazu:
Keine. Ein Eigenanbau von Cannabis durch Patientinnen und Patienten kommt aus gesundheits- und ordnungspolitischer Sicht nicht in Betracht.
Was für eine Farce. Es ist also aus Sicht des Ministeriums nicht einmal eine Alternative, auch nur in Betracht zu ziehen, den Anbau einer Substanz, die für diese Patienten nachgewiesenermaßen und höchstrichterlich bestätigt die einzig wirksame Medizin ist, einem Kreis von aktuell etwa 600 Personen in der gesamten Republik unter Auflagen zu ermöglichen.
Wer findet das denn bitte sinnvoll?
Da möchte man fast sagen: Diese Drogenpolitik lässt sich nur zugedröhnt ertragen.
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Denn stattdessen werden lieber die gesetzlichen Krankenkassen auf Kosten aller Steuerzahler verpflichtet, ebenfalls zu bezahlen – und zwar Cannabis aus den Niederlanden, das nach Angaben des Ministeriums im Mittel für 18 Euro das Gramm importiert wird. Was für eine Gewinnmarge für die Apotheken, beträgt der „Straßenpreis“ doch zwischen sechs und zehn Euro – je nach Menge.
Die Kosten für den Eigenanbau liegen hingegen je nach Größe und Effizienz der Anlage nach unseren Recherchen nur zwischen 20 Cent und 1,50 Euro pro Gramm. Am teuersten schlagen die Stromkosten zu Buche – die Pflanzen werden mit speziellen Lampen bestrahlt.
Außerdem wird den schwer kranken Patienten lieber weiterhin ein immenser bürokratischer Aufwand zugemutet, bis ihnen überhaupt der Zugang zu ihrer Medizin ermöglicht wird – das ist nämlich nur dann gewährleistet, wenn ein entsprechender Antrag vom BfArM bewilligt wird. Und das kann Monate dauern.
Der Schwarzmarkt hat immer offen und verlangt keine Dokumente
Währenddessen ist fast überall in Deutschland rund um die Uhr Cannabis verfügbar – auf dem Schwarzmarkt. Und zwar zu deutlich günstigeren Preisen als 18 oder 15 Euro pro Gramm. Hier fehlt zwar jede medizinische Kontrolle – aber der „Einkauf“ ist deutlich weniger aufwändig als „über Amtswege“.
Ob man nun selbst konsumiert oder nicht – fast jeder kennt jemanden, der einen kennt, der Kontakte zu jemandem hat, der irgendwo „was zu rauchen“ auftreiben könnte. Im Zweifel braucht man nur abends am Neckarufer darauf zu warten, dass man von einem Dealer angesprochen wird, zum Beispiel von einem „Joe“.
Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben 37,5 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland die Droge zumindest schon einmal ausprobiert, in Großstädten liegt der Wert teils noch deutlich höher. Und das ist nur das Hellfeld derer, die den Konsum in der Befragung offen eingestehen.
Allein der Schwarzmarkt in Deutschland hat wahrscheinlich ein mehrstelliges Milliardenvolumen und nach Schätzungen des Deutschen Hanfverbands werden jedes Jahr mehrere hundert Tonnen Cannabis konsumiert – und dann tut sich die Politik allen Ernstes so schwer, 600 Patienten eine Reihe völlig unnötiger Zumutungen zu ersparen, indem man ihnen den Eigenanbau genehmigt?
Ach stimmt. Es ist ja nicht einmal eine Alternative, das auch nur „in Betracht“ zu ziehen…
Man könnte ja zumindest damit anfangen, sich Gedanken zu machen, ob man vielleicht wissenschaftlich untersuchen sollte, wie gefährlich Cannabis denn nun wirklich ist. In anderen Ländern wurden entsprechende Studien nämlich schon lange in Auftrag gegeben.
„Ein Glas Wein kommt aus gesundheits- und ordnungspolitischer Sicht nicht in Betracht“
Die kommen weitgehend einhellig zu dem Ergebnis: Zwar ist der Konsum von Cannabis ganz klar mit Risiken behaftet, schadet auf Dauer der Intelligenz und insbesondere dem Erinnerungsvermögen und soll hier in keiner Form verharmlost werden. Im direkten Vergleich ist Alkohol aber deutlich schädlicher. Dieser wird aber weitestgehend als unbedenklich eingestuft und keiner kauft den zu überhöhten Preisen in der Apotheke. Der gefühlte Konsens:
Klar, wer es übertreibt, wird Schäden davon tragen – aber gegen ein Bier zum Feierabend gibt es doch nichts einzuwenden, oder?
Sinnbildlich ist auch die Drogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU), die sagt, Cannabis müsse wegen der gesundheitsschädlichen Wirkung unbedingt verboten bleiben, aber offen eingesteht, dass sie gerne mal ein Glas Wein trinkt und Bilder von Schnapsflaschen auf Twitter postet. Ein Prosit auf die dahinter vermutete Kompetenz.
Was die alten Griechen schon wussten…
Die antiken Griechen waren da etwas weiter: Ihr Wort Pharmakos bedeutet nicht nur Medizin – sondern auch Gift. Es kommt immer auf die Menge und den Konsumenten an.
Und nach dem gegenwärtigem Stand der Wissenschaft gibt es keine Belege dafür, dass maßvolle und verantwortungsvolle Cannabis-Konsumenten für die Gesellschaft eine in irgendeiner Form größere Bedrohung darstellen würden, als maßvolle und verantwortungsvolle Trinker. Das Abhängigkeitsrisiko ist laut Studien beim Alkohol übrigens deutlich höher, ebenso wie das Aggressionspotenzial.
Vor diesem Hintergrund ist die deutsche Drogenpolitik nüchtern betrachtet reichlich vernebelt. Denn dadurch, dass sie gegebene Realitäten völlig verkennt, entsteht eine aberwitzige Rechtslage, die zu geradezu lachhaft absurden Resultaten führt: Nicht nur, dass man Patienten ihre Medizin nur schwerstmöglich zugänglich macht und weitgehend völlig harmlose Konsumenten in die Kriminalität treibt – nein, die Staatskasse lässt sich auch noch freiwillig Milliardenbeträge entgehen.
Milliardengrab Drogenpolitik
Pro Jahr gibt es in Deutschland etwa 250.000 registrierte Rauschgift-Delikte, mehr als die Hälfte davon hängen mit Cannabis zusammen. Die Kosten für die Strafverfolgung belaufen sich nach einer Schätzung der Friedrich-Ebert-Stiftung auf etwa 3,3 bis 4,3 Milliarden Euro. 3.300.000.000 – 4.300.000.000. Und das Jahr für Jahr. Dabei werden etliche Verfahren wieder eingestellt – wegen Geringfügigkeit.
Bis es so weit kommt, sind aber Kräfte gebunden: Die Polizei ist verpflichtet, jeden noch so kleinen Verstoß aufzunehmen und an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, damit diese feststellen kann, dass eine beschlagnahmte Menge von beispielsweise 0,5 Gramm nicht den Aufwand eines Ermittlungsverfahren rechtfertigt und selbiges einstellt.
Was für eine irrsinnige Zeit- und Geldverschwendung. Gerade vor dem Hintergrund der ansteigenden Kriminalitätsrate und der zunehmenden Belastung für die Behörden hätten diese Mannstunden so viel sinnvoller verwendet werden können.
Denn die Repression ist trotz großer Anstrengungen nicht einmal sonderlich effektiv: Nach Angaben der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Strafverfolgung kaum Auswirkungen auf das Konsumverhalten. So ist der durchschnittliche Konsum in den Niederlanden, wo Cannabis in Coffee-Shops für jeden Volljährigen frei zugänglich ist, laut Statistik niedriger als in Deutschland.
Monatliche Millioneneinnahmen
Dort, wo Cannabis legal oder rechtlich geduldet ist, gibt es auch keinen drastischen Anstieg der Kriminalität. Im US-Bundesstaat Colorado kann seit dem 01. Januar 2014 jeder ab 21 Jahren legal Cannabis erwerben. Laut einem Bericht des kanadischen Nachrichtensenders CNC habe die Polizei „keine Veränderungen“ feststellen können, was die Sicherheitslage betrifft. Keine!
Allerdings gebe es ein deutliches Plus bei den Steuereinnahmen – und zwar etwa vier Millionen Dollar auf fünf Millionen Einwohner. Und das Monat für Monat. Eine kleine Milchmädchenrechnung: Bezogen auf Deutschlands Einwohnerzahl entspräche das 880 Millionen Dollar pro Jahr. Geld, was insbesondere zunehmend verarmende Kommunen dringend gebrauchen könnten. Man könnte das ja auch mal für Mannheim und sein schmales Stadtsäckel ausrechnen. Eine bekiffte Idee, den Sanierungsstau über „Tütchen“ zu finanzieren? Mag sein.
Interessant ist aber, dass die Staatskasse trotz der aktuellen Finanzlage darauf verzichten will. Zumal die Kosten für die Strafverfolgung entfallen würden. Nach dem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Bundesrepublik seit Bestehen etwa 200 Milliarden Euro (200.000.000.000) für die Strafverfolgung von Drogenkriminalität ausgegeben – ohne dass Angebot und Nachfrage signifikant zurückgegangen wären. Vermutlich ist der „Kampf gegen die Drogen“ der historisch größte kriminologische Misserfolg seit Fred Feuerstein.
Es fehlen Gegenbeispiele
Diesen Kurs kann man beibehalten und weiter verschwenden. Oder man akzeptiert: Das Ideal einer rauschfreien Gesellschaft ist unrealistisch und Prohibition war und ist zum Scheitern verdammt. Das kann einem jetzt gefallen oder nicht – aber es gibt kein einziges Gegenbeispiel.
Nicht einmal in Staaten, in denen Drogendelikte mit Todesstrafen geahndet werden, ist das „Angebot“ verschwunden. Hingegen gelingt es dort, wo die Nachfrage legal und kontrolliert bedient wird, zunehmend den Schwarzmarkt zu untergraben.
Warum verzichten Staaten auf diese Einnahmequelle und überlassen den Markt weiterhin Drogenkartellen, die keinerlei Skrupel zeigen, ihren Stoff mit Substanzen zu strecken, die oft noch schädlicher sind als das Cannabis selbst und deren Dealer in aller Regel nicht allzu viel Wert auf Jugendschutz legen?
Wie wäre es mal mit einer ehrlichen Debatte vor dem Hintergrund knallharter Zahlen?
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