Heidelberg/Rhein-Neckar, 08. Februar 2016. (red/nh) Sexismus? Ein Schlagwort, das in aller Munde ist und dennoch schwierig zu definieren. Denn was ist Sexismus überhaupt und an welchem Punkt fängt Sexismus an? Über diese Fragen diskutierten ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen mit 70 interessierten TeilnehmerInnen im Heidelberger Literaturcafé.
Von Naemi Hencke
Gleichstellung von Mann und Frau kann kein Wahlkampfthema, sondern es sollte gelebter Alltag sein, sodass es nicht mehr nötig wäre, darüber zu sprechen.
Klingt gut, was Marlen Pankonin sagt. Sie ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) Heidelberg und SPD-Landtagskantidatin für Heidelberg.
Es ist Montagabend, der 01. Februar. Im Heidelberger Literaturcafé wollen 70 Personen an einer Fish-Bowl-Diskussionsrunde teilnehmen. Das Format funktionierte nicht – was aber einer lebhaften Diskussion keinen Abbruch tat.
Selbst schuld?
Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln und anderen Städten hätten eine „neue Dimension“ von sexueller Belästigung und Gewalt verdeutlicht. Die darauffolgenden Empfehlungen wurden teils als absurd gewertet. „Eine Armlänge“ Abstand halten, auf aufreizende Kleidung zu verzichten und nachts nicht mehr aus dem Haus zu gehen – gerade diese Empfehlungen an Frauen seien eine „Umkehr der Täter-Opfer-Ansicht“, sagt Frau Pankonin. Suggerierten sie doch, dass die Frauen selbst schuld an solchen Übergriffen seien.
Es geht aber längst nicht nur um sexuelle Übergriffe wie in Köln und anderswo – häusliche Gewalt ist ein „alltägliches“ Thema. Bundesweit. In allen Gesellschaftsschichten. Hinzu kommen Zwangsheiraten und Prostitution.
Was bedeutet überhaupt Sexismus?
Es geht um die Selbstbestimmung der Frau, sagt Brigitte Zypries, Justizministerin a.D. Es müsse endlich klar werden, dass Frauen selbst bestimmen, was sie wollen und was nicht.
Edith Kutsche vom „Frauennotruf Heidelberg“ meint, Sexismus sei die Benachteiligung einer Person aufgrund ihres Geschlechts.
Sexismus sei ein Zeichen für patriarchalische Gesellschaftsstrukturen – Britta Schlichting erzählt von persönlichen Erfahrungen. Sie arbeitet für „Frauen helfen Frauen e.V.“ in Heidelberg.
Reicht das aus, um „Sexismus“ zu definieren? Offenbar nicht. Die ärztliche Direktorin für Rechts- und Verkehrsmedizin Kathrin Yen definiert den Begriff wiederum als „Diskriminierung, die Frauen wie auch Männer betrifft“. Und Marlen Pankonin geht sogar so weit, dass „alles, was peinlich berührt, Sexismus ist.“
Der Begriff Sexismus ist schwer zu definieren – vor allem, an welchem Punkt Sexismus tatsächlich anfängt. Genau das ist der Grund, warum öffentlich und grundlegend über dieses Thema diskutiert werden muss. Schwammige Definitionen und Auslegungen finden sich nämlich ebenfalls im Gesetz und der Rechtssprechung.
Ein Problem, wie Brigitte Zypries findet: Die Rechtssprechung sei zwar besser geworden, allerdings müsse die Regelung, dass allein das Opfer in der Beweispflicht ist, verbessert werden. Es sei immer noch so, dass der Überraschungsmoment zählt: Wehrt eine Frau sich nicht gegen eine sexuelle Belästigung, dann wird eine Verurteilung des Täters sehr schwierig.
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„Ja-heißt-Ja“
Die Täter-Opfer-Umkehrung spielt hierbei eine besondere Rolle. Bislang wurde von einem „Nein-heißt-Nein“ als Grundlage für gegenseitigen Respekt ausgegangen. In der Realität funktioniert das jedoch oft nicht.
Die Opfer sind häufig „zu überrascht“ von sexuellen Belästigungen und in diesem Moment gehemmt, offensiven Widerstand zu leisten und sich zu wehren. Doch nur weil man nicht „nein“ sagt, bedeutet das im Umkehrschluss kein „Ja“. Deswegen müsse man von einem „Ja-heißt-Ja“-Prinzip ausgehen. Dieser Entwurf fordert die direkte Einwilligung beider Seiten für eine (sexuelle) Handlung.
Ein weiteres Problem sei, dass sexuelle Gewalt sehr häufig im persönlichen Umfeld geschehe. Und je näher der Täter dem Opfer steht, desto schwieriger sei es, den Täter im Falle eines Übergriffs anzuzeigen. Hinzu käme, dass die Opfer von sexueller Gewalt sehr häufig Angst davor hätten, dass man ihnen nicht glaubt.
Die aktuellen „Empfehlungen“ an Frauen, wie sie sich richtig zu verhalten hätten, würde ein Schamgefühl und Angst auslösen. Diese Aussagen würden die Schuld „umkehren“ – und die Frauen durch diese Aussagen mitschuldig gemacht. Sobald die Medien positiver im Sinne der Opfer berichten würden, würden sich auch mehr Frauen trauen, sexuelle Übergriffe anzuzeigen.
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Gewaltambulanz sichert Spuren
Kathrin Yen arbeitet für das Rechts- und Verkehrsmedizinische Institut der Universität Heidelberg. Sie ist Mitbegründerin der Gewaltambulanz in Heidelberg. Diese Ambulanzen seien noch nicht sehr verbreitet, aber von erheblicher Wichtigkeit für die Opfer von Gewalt.
Die Gewaltambulanz richtet sich ausnahmslos an alle von Gewalt betroffenen Menschen, unabhängig ihres Alters, Geschlechts, Herkunft oder ihrer finanziellen Situation. Die Opfer können anonym bleiben. Sie können zu jeder Tag- und Nachtzeit in die Ambulanz kommen. Die Ärzte der Gewaltambulanz sind sogar mobil unterwegs und fahren zum Opfer, sofern dies gewünscht ist.
In der klinisch-forensischen Ambulanz werden von Gewalt betroffene Menschen von Fachärzten aus der Rechtsmedizin körperlich untersucht. Diese ermitteln und sichern die objektiven Spuren der Tat: Verletzungen und DNA-Spuren, aber auch biologisches Material wie zum Beispiel K.O.-Tropfen können nachgewiesen werden. Katrin Yen erklärt:
Es gilt das Gesetz der objektiven Beweislast: Das heißt, ein Opfer muss beweisen, dass es Opfer einer Gewalttat geworden ist. Nur wenn die objektiven Spuren gesichert sind, kann der oder die Betroffene eine Tat vor Gericht beweisen.
Und nur wenn dem Gericht Beweise vorlägen, könne ein Täter überführt und wahrscheinlich verurteilt werden. Objektive Spuren würden sehr schnell verschwinden und könnten dann nicht mehr gesichert werden. Darum sei es außerordentlich wichtig, so schnell wie möglich zur Untersuchung zu gehen.
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Wer sich von den Ärzten der Gewaltambulanz untersuchen lässt, ist nicht verpflichtet, die Tat auch anzuzeigen. Die untersuchte Person verfügt, was mit den Spuren im Folgenden passiert.
Viele Betroffene kämen, würden die Spuren sichern lassen, die Tat jedoch nicht anzeigen, erzählt Kathrin Yen. Viele Opfer würden mehrmals in die Ambulanz kommen. Das würde einige Male passieren, bis sie sich entscheiden, die Taten doch anzuzeigen – oft erst nach Jahren. Aber – und das sei wichtig – wenn die Spuren einmal gesichert sind, könnten sie immer als Beweismittel herangezogen werden.
Leidensfähigkeit ist enorm
Es sei enorm wichtig, dass über Sexismus gesprochen wird. Vor allem muss die „Unterschwelle“ definiert werden – denn wo fängt Sexismus überhaupt an?
Diese Unterschwelle sei nicht annähernd festgelegt und müsse ganz fest verankert werden, so Marlen Pankonin.
Die Leidensfähigkeit der Betroffenen ist enorm. In diesem Zusammenhang muss auch der Paragraph 177 des Strafgesetzbuchs rundum erneuert und dem europäischen Standard angepasst werden.
Doch alle Schritte und Institutionen kosten Geld. Und das fehlt häufig oder Zielgruppen werden eingeschränkt. Die Aufnahme in ein Frauenhaus ist beispielsweise nur für Opfer gesichert, die Sozialleitungen beziehen würden. So würden beipsielsweise StudentInnen, die Opfer von Gewalttaten werden, aus dem „Finazierungsraster“ herausfallen und nicht aufgenommen werden können. Dies sei völlig absurd, so Britta Schlichting.
Edith Kutsche fügt hinzu, dass es enorm viel zu tun und mittlerweile schon Wartelisten für Beratungsgespräche gäbe. Auch das sei ein Fakt, der angesichts der Tatsache eines Notfalls sehr absurd wäre. Es sei aber ein Zeichen, dass die Beratungsstellen völlig überfordert seien und nicht mehr hinterher kommen.
Frauennotruf Heidelberg
Den „Frauennotruf Heidelberg e.V.“ gibt es seit 1978. Der Anruf ist kostenlos und die MitarbeiterInnen Tag und Nacht erreichbar. Es werden, falls nötig, sogar DolmetscherInnen zugeschaltet. Barrierefrei ist sie zudem.
Das alles müsse definitiv besser finanziell unterstützt werden. Und die Aufklärung über Sexismus müsse stetig und umfassender geführt werden.
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