Rhein-Neckar, 07. März 2020. (red) Aktualisiert. In Norditalien ist die Zahl der Corona-Infizierten von gestern auf heute sprunghaft angestiegen – es sind nun fast 5.000 Menschen, die positiv auf den SARS-CoV-2- Erreger getestet wurden. Das öffentliche Leben in den betroffenen Provinzen ist stark eingeschränkt. Die Lehrerin Cristina Luppi schildert die Situation aus ihrer Privatperspektive – und die änderte sich am Samstag stündlich nicht zum Besseren. Trotzdem hält sie den Kopf hoch und schaut nach vorne, auch, wenn die Regionen möglicherweise zur “zona rossa” erklärt werden. Das heißt, niemand darf rein, niemand raus. Für sie gilt: La vita é bella.
Aktualisierung, 08. März 2020, 14:29 Uhr: Wie von unserer Autorin gemutmaßt, hat der italienische Ministerpräsident Guiseppe Conte in der gestrigen Nacht verschärfte Maßnahmen angekündigt. Das Dekret trat am Morgen in Kraft. Große Teile Norditaliens sind nun eine rote Zone. Betroffen ist die gesamte Region Lombardei mit der Wirtschaftsmetropole Mailand (1,4 Millionen Einwohner) sowie 14 Provinzen: Modena, Parma, Piacenza, Reggio Emilia, Rimini, Pesaro Urbino, Alessandria, Asti, Novara, Verbano Cusio Ossola, Vercelli, Padua, Treviso und Venedig. Ingesamt sind rund 16 Millionen Menschen betroffen. In den Gebieten ist die Mobilität stark eingeschränkt, man darf die Gebiete nur verlassen oder betreten, wenn wichtige Gründe vorliegen. Die Menschen sind aufgefordert, möglichst zu hause zu bleiben: “Bürger, bleibt zu Hause!” Öffentliche Einrichtungen wie Schulen, aber auch private Einrichtungen wie Sportclubs sind geschlossen, alle Großveranstaltungen abgesagt. Dies gilt zunächst bis zum 03. April 2020. Innerhalb von nur zwei Tagen erhöhte sich die Zahl der mit dem Corona-Virus infizierten Personen von 4. auf 6.000 Personen.
Zahlreiche Menschen sollen versucht haben, die Region zu verlassen – in Richtung Süditalien. Das könnte drastische Folgen haben, weil die dortigen medizinischen Kapazitäten bei weitem nicht so ausgebaut sind, wie im reichen Norden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kündigte unterdessen bei einem Krisentreffen der Gesundheitsminister in Brüssel an, dass auch in Deutschland die Maßnahmen verschärft werden müssten. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Infizierten eklatant und dürfte spätestens am Montag über 1.000 Personen liegen.–
Von Cristina Luppi
Seit zwei Wochen sitze ich nun schon zuhause mit meinen beiden Zwillingen.
Das Gymnasium, an dem ich Deutsch unterrichte, wurde wie alle Schulen in den Regionen Emilia-Romagna, Veneto und Lombardei am 23. Februar eine Woche lang geschlossen. Dann noch um eine weitere Woche und seit vorgestern wurden alle Schulen in Italien voraussichtlich bis zum 15. März geschlossen.
Es war Sonntagnachmittag, ich, mein Mann, meine Eltern saßen auf dem Sofa mit den Kindern, plötzlich fängt das Handy an zu vibrieren, einmal, zweimal, dreimal… über Whatsapp haben wir die Mitteilung des Präsidenten Stefano Banaccini zu diesen und anderen Maßnahmen erhalten.
Vielen Italienern fällt die Decke auf den Kopf – mir auch
Meine Mutter sagte: “Das letzte Mal, dass ich so etwas erlebt habe, war gleich nach dem zweiten Weltkrieg, als wir die sogenannte Asiatische Grippenwelle hatten.”
Jetzt trifft uns also die Corona-Welle – mit unbekanntem Ausgang. Und heute hat der Präsident mitgeteilt, dass er davon ausgeht, dass es “schlimmer” wird und weitere Maßnahmen erfolgen.
Pensionierte Ärzte und anderes medizinisches Personal werden gebeten, sich zu melden, um das Gesundheitssystem zu unterstützen. 38 Millionen Euro werden als Soforthilfe für Arbeitnehmer und Selbständige sowie Unternehmen bereit gestellt, die wirtschaftlich in höchster Not sind. Möglicherweise wird das Justizsystem eingeschränkt.
Ich weiß das natürlich aktuell nicht, aber vielleicht bleiben auch die Schulen länger geschlossen. Ich vermute, dass wir mindestens bis zum 3. April zu Hause bleiben werden, da viele Theater, Messen und andere Veranstaltungen schon bis zum 3. April gestoppt wurden. Heute wurde die Ski-Meisterschaft in Cortina abgesagt und ob die “Giro d’Italia” stattfinden kann, ist fraglich.
Vielen Italienern fällt die Decke auf den Kopf – wir sind normalerweise viel draußen, drehen unsere Runden (andare in giro) und natürlich treffen wir uns gerne, um zu essen, zu diskutieren, uns eben über Gott und die Welt auszutauschen.
Das ist aktuell alles anders. Wir umarmen uns nicht mehr, wir küssen uns nicht mehr zur Begrüßung auf die Wangen, wir halten einfach zu anderen Menschen Abstand und selbst den Aufzug nehmen wir nun ohne die Nachbarn – man geht sich sprichwörtlich aus dem Weg, wenn es möglich ist. Vor kleineren Geschäften wie Bäckereien bilden sich Schlangen, die Kunden betreten nacheinander und nicht zusammen die Läden.
Große Sorgen der Behörden – wegen der Schwachen
Die Behörden schauen mit großer Sorge auf Mittel- und Süditalien. Bislang sind nur die Regionen Emilia-Romagna, Veneto und Lombardei sowie Südtirol schwer betroffen. Am 21. Februar wurde der erste Fall bekannt, das steigerte sich rasant. Aktuell sind es mehr als 4.600 Infektionen, fast 200 Menschen sind an der Infektion gestorben.
Das macht mir, meiner Familie, den Freunden und Kollegen auch große Sorgen. Aber nicht, dass das Virus sich weiter ausbreitet. Das wird so sein. Die meisten werden keine schlimmen Symptome haben – aber die Risikopatienten schon und für die gibt es nicht genug Kapazitäten in den Krankenhäusern. Auch das Durchschnittsalter der Verstorbenen von 82 Jahren zeigt an, wer wirklich in Gefahr ist: Die Alten und Schwachen, die die weitere schwere Erkrankungen haben.
Ab dem 9. März werden in den Krankenhäusern hier in Bologna und anderswo die geplanten, aber nicht dringenden Operationen auf irgendwann verschoben, damit die medizinischen Kapazitäten für die akuten, schweren Fälle zur Verfügung stehen.
Warum agiert man nicht gemeinsam?
Was ich überhaupt nicht verstehe, ist, wieso in allen europäischen Ländern unterschiedlich vorgegangen wird? In Italien haben wir sofort harte Maßnahmen hinnehmen müssen, was meiner Meinung nach gut ist, wenn sich dadurch die Ausbreitung verlangsamen lässt.
Warum ist nicht auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und anderen Ländern so? Das verstehe ich nicht. Insbesondere, weil auch in Deutschland die Zahlen ansteigen – nicht so sprunghaft wie bei uns, aber eben deutlich und wie man bei uns sieht, kann das sehr schnell sehr viel mehr werden.
Viele Firmen haben schon ihre Mitarbeiter umgehend in Urlaub geschickt, auch die Hausmeister an meiner Schule waren die ersten.
Unsere Region ist sehr gut strukturiert, wirtschaftlich stark mit vielen großen Unternehmen und Fabriken. Die Universität von Bologna ist weltberühmt, Forschung und Entwicklung sind stark und es gibt eine außerordentlich gute Bildung – das ist vergleichbar mit Deutschland. Trotzdem reagieren die Deutschen aktuell ganz anders, das will mir nicht einleuchten, denn das Virus kennt keine Grenzen oder politischen Systeme, wie man aktuell feststellen kann. Es verbreitet sich von Mensch zu Mensch.
Wie auch in Deutschland sind bei uns die Medien voll mit “Corona”, als gäbe es nichts anderes mehr. Gibt es aber: Nämlich gemeinsam diese Krise zu bewältigen.
Ich habe lange in Deutschland gelebt und gearbeitet. Ich schätze das Land und die Menschen dort sehr. Mein Beruf ist, Kindern Deutsch beizubringen und sie über das Land, die Leute, die Kultur und Gesellschaft zu interessieren.
Aber es gibt einen Unterschied zwischen Italienern und Deutschen – bei uns ist der Zusammenhalt größer, wir denken eher als “Kommune”, als Gruppe und nicht so individualistisch wie in Deutschland.
In den ersten Tagen nach dem Ausbruch gab es auch bei uns Hamsterkäufe – das ist vorbei. Jetzt geht es darum, die Sache gemeinsam durchzustehen.
Das gilt auch für die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland – vor allem wirtschaftlich. Die Tourismusbranche, ein sehr wichtiger Dienstleistungszweig, macht sich große Sorgen. Bologna, Modena, Parma, Perugia, Verona, Venedig, um nur einige Hauptattraktionen zu nennen, brauchen neben aller Disziplin auch die Hoffnung, nicht vor dem Aus zu stehen, wenn aktuell überall Reisen storniert werden, die meist in den warmen Monaten stattfinden werden und man geht davon aus, dass die große Infektionswelle bis dahin abgeklungen sein wird.
Ich bin keine Lobbyistin für die Tourismusbranche, sondern Deutschlehrerin. Aber ich weiß, mit welcher Freude, Freundlich- und Gastlichkeit überall in der Region insbesondere auch deutsche Touristen begrüßt werden, die unsere schönen Attraktionen, die tollen Landschaften, die geschichtsträchtigen Orte und natürlich das total leckere Essen bei uns schätzen.
La vita é bella
2012 wurde unsere Region von einem massiven Erdbeben erschüttet, viele Menschen starben, die Schäden waren immens. Mich erwischte das Erdbeben unter der Dusche – ich war im neunten Monat schwanger und bin fast nackt auf die Straße gerannt. Es hat Jahre gedauert, die Schäden zu beseitigen.
Es gibt ein Sprichwort: “Chi la dura la vince.” Auf deutsch: “Beharrlichkeit führt zum Erfolg.” So sollten wir in Europa mit Corona umgehen und immer dran denken: “La vita é bella.”
Nachtrag: Am Abend erreicht uns die Nachricht, dass Regionen in Norditalien zur “zona rossa” erklärt werden, das heißt, niemand darf rein und niemand darf raus. Für uns bedeutet das nochmalige schwere Einschränkungen.
Ich bringe die Kinder ins Bett und dann entscheiden mein Mann und ich, was zu tun ist. Vermutlich wird er uns verlassen, um nach Verona zu fahren, wo seine Arbeitsstelle ist, damit er seinen Aufgaben nachkommen kann.
Das ist natürlich eine absolut brutale Einschränkung für die Familie, vor allem für die Kinder – aber es muss einfach weitergehen. Es gibt dazu keine Alternative.
Ich hoffe, dass ich meinen Mann bald wiedersehen kann.
https://www.open.online/2020/03/07/coronavirus-ultime-notizie-7-marzo/
Zur Person: Cristina Luppi hat in Bologna studiert und dann mehrere Jahre für ein deutsches Automobilunternehmen in Mannheim und Italien und Frankreich gearbeitet. Vor einigen Jahren ist sie in den Staatsdienst gewechselt und unterrichtet das Fach Deutsch an einem Gymnasium in der Provinz Modena. RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann und Cristina Luppi haben sich vor gut 30 Jahren kennengelernt: Sie lernte Deutsch bei ihm, nach einem halben Jahr sprach sie derart fließend, dass ein weiterer Unterricht nicht mehr nötig war.
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