Heidelberg/Rhein-Neckar, 07. Juni 2013. (red/zef) Es ist ein bis dato einmaliger Vorgang in Deutschland: Bündnis 90/Die Grünen lassen am kommenden Wochenende zum ersten Mal in ihrer noch jungen Parteigeschichte alle 60.000 Mitglieder darüber abstimmen, was für eine grüne Regierungsbeteiligung die neun wichtigsten Projekte sein werden. Neben einer Briefwahl finden daher am Wochenende in den über 250 Kreisverbänden Mitgliederentscheide statt. Dazu gibt es sogar eine bundesweite Liveschaltung. In Heidelberg geschah dies bereits gestern – ohne Liveschaltung und mit bisher mäßigem Erfolg: Von 340 Mitgliedern besuchten lediglich 36 den Mitgliederentscheid. Bundestagskandidatin Franziska Brantner und Ministerin Theresia Bauer waren ebenfalls verhindert. Die bundesweite Beteiligung an der Briefwahl lässt aber auch für Heidelberg hoffen.
Von Ziad-Emanuel Farag
20 Uhr, das Literaturcafé in Heidelberg: Ein kleines beschauliches Plätzchen, hier passen vielleicht gerade so 60 bis 70 Personen hinein. Für einen Mitgliederentscheid von 340 Leuten reicht der Platz hier jedenfalls nicht. Doch wer Platzmangel fürchtet, ist schnell beruhigt: Es sind 40 Personen anwesend. 36 von Ihnen dürfen auch abstimmen. Dabei wurde extra dieser Termin gewählt, weil man sich hier eine größere Beteiligung erhofft hat:
Wir haben den in Heidelberg vorgezogen, damit hier mehr Mitglieder teilnehmen können. Wir erwarten 40-80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
sagt Michael Wustmann, Geschäftsführer der Grünen in Heidelberg. Eine Liveschaltung sei in Heidelberg schwierig, zudem habe man für das Wochenende noch weniger Mitglieder erwartet.
„Ich finde den grünen Mitgliederentscheid super“
Ist damit der Mitgliederentscheid in Heidelberg schon gescheitert, droht der Bundespartei bei dem ganzen Aufwand ein Fiasko, was die Beteiligung betrifft? Hierfür kann dieser eine Mitgliederentscheid in Heidelberg noch kein Gradmesser sein. Selbst wenn sich wenige beteiligen sollten: Mit der Briefwahl und den Mitgliederentscheiden vor Ort können sich alle beteiligen, die dies auch möchten. Dass diese Chance vielleicht nicht entsprechend genutzt wird, heißt nicht, dass sie an sich schlecht wäre. So denkt auch Hans Lüders, Politikstudent aus Heidelberg:
Ich finde den grünen Mitgliederentscheid super. Wir bieten allen Bürgerinnen und Bürgern die Chance hier mitzumachen und unser Wahlprogramm mitzugestalten. Die CDU und Angela Merkel zum Beispiel bieten ihnen diese Möglichkeiten nicht. Die schreiben ihr Programm im Hinterzimmer und informieren nicht einmal ihre Mitglieder.
Abstimmen dürfen zwar nur die Mitglieder. Das Verfahren ist aber seit Monaten bekannt. Seit dem 28. Februar hatten alle Bürgerinnen und Bürger die Chance, bis zum 5. Mai der Partei beizutreten, um eben noch hieran teilzunehmen. Viel kürzer als fünf Wochen sollte die Frist auch nicht sein. Dies böte etwa den falschen Anreiz, der Partei kurz beizutreten, den Mitgliederentscheid zu verzerren und dann wieder auszutreten.
Nur: Diese Chance, Bundespolitik einer etablierten Partei unmittelbar mitzugestalten muss einerseits von den Mitgliedern genutzt werden. Andererseits muss man aus diesem Probelauf seine Lehren ziehen und schauen: Wie kann man das Verfahren verbessern? Die Grünen in Heidelberg wussten schon gestern, dass man hier noch einiges tun muss:
Das hier stellt einen ersten Versuch dar. Wir müssen schauen, wie viel Beteiligung es hier gibt und wie man sie erhöhen kann,
wie Nicolá Lutzmann, Mitglied im Vorstand der Heidelberger Grünen, zu Bedenken gibt. Später erklärt er uns auf Nachfrage zur geringen Beteiligung in Heidelberg:
Man muss schauen, ob hier nicht zu viele Projekte zur Abstimmung stehen und was man ändert, um schlagfähig zu bleiben.
Die Wahl haben die Mitglieder zwischen 58 Schlüsselprojekten. Diese sind in drei Themenkomplexe unterteilt:
- Energiewende und Ökologie: Tierschutz, Verbraucherschutz, Klima und Verkehr
- Gerechtigkeit: Soziales, Arbeit, Kultur, Wissenschaft, Bildung
- Moderne Gesellschaft: Menschen- und Bürgerrechte, Internationales und Transparenz.
Pro Themenkomplex können die Mitglieder drei Stimmen vergeben, jedoch nicht mehrere Stimmen für ein Thema verwenden. Dementsprechend sollen auch aus jedem Feld drei Projekte umgesetzt werden, wenn die Grünen an der Regierung beteiligt sein sollten. Wenn ein Mitglied ein Projekt stärken möchte, kann es dafür eine Jokerstimme verwenden: Diese kann frei verteilt werden auf ein weiteres zehntes Projekt oder aber auf eines, dem man schon eine Stimme gegeben hat.
Es gibt unabhängig vom Themenbereich der Projekte drei Blöcke, in die man sie genauso unterteilen kann: Es gibt Projekte, die sich für ein sogenanntes 100-Tage-Programm eignen. Sie können wir sofort umsetzen. Ein Beispiel dafür wäre das Projekt 48 „Gleiche Rechte für gleiche Liebe – die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen,
wie Nicolá Lutzmann beschreibt. Demgegenüber stünden laut Lutzmann Projekte, die man ebenfalls sehr schnell angehen müsse, um nach vier Jahren Regierungsbeteiligung überhaupt ein erstes Ergebnis haben zu können: Hierunter falle das Projekt „Für ein demokratisches und bürgernahes Europa – Europäische Bürgerinitiative weiterentwickeln und einen europäischen Konvent einberufen“. Hinzu kämen Projekte, mit denen man neue Wählerschichten erreichen wolle wie das Projekt „Ein modernes und faires Urheberrecht – das Abmahnunwesen beenden“. Dieses ziele auf junge Menschen ab, die im Internet schnell davon betroffen seien.
Kaum Frauen beim Mitgliederentscheid
Für die Aussprache der 58 Projekte stehen in Heidelberg insgesamt 30 Minuten Redezeit zur Verfügung, was auch laut Lutzmann nicht viel sei. Auch das zeigt: Mit einer großen Zahl von Besucherinnen und Besuchern hat man von vornherein nicht geplant. Hierbei wird eine nach Geschlechtern quotierte Redeliste geführt. Das heißt: Nachdem ein Mann gesprochen hat, wird als nächstes eine Frau im Falle einer Wortmeldung daran genommen. Trotz dieser Regelung sind jedoch nur neun Frauen anwesend. Anwältin Arnhilt Kuder hierzu:
Die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich eben auch bei den Grünen wider. Deshalb sind hier generell weniger Frauen aktiv. Allerdings sind es bei den Grünen ja schon mehr Frauen als an vielen anderen Stellen, ich finde nur, es könnten ruhig noch mehr werden.
Lebhafte Diskussionen
Sie kann jedoch aufgrund der quotierten Redeliste wie einige ihrer Kolleginnen am heutigen Abend lebhaft mitdiskutieren. Sie wirbt in der offenen Debatte besonders für die Projekte 56 und 49 für eine bessere Asylpolitik in Deutschland und Europa. Und natürlich für das Projekt für eine verbindliche Frauenquote von 50 Prozent. In der Debatte der Mitglieder wird sachlich und doch lebhaft diskutiert. Eine Vielzahl an Projekten wird genannt.
Interessant verläuft auch die Debatte um die Projekte 1 „100 Prozent Erneuerbare Energien“ und 3 „Kohleausstieg bis 2030“ aus dem Feld „Klimaschutz und Energiewende“. Eine Teilnehmermin ergreift couragiert Partei für Projekt 3:
Nichts ist so wichtig wie der Klimaschutz, daher müssen wir bis 2030 aus der Kohlekraft aussteigen.
Projekt 1 ist aber das weitergehendere und sieht einen kompletten Umstieg Deutschlands auf erneuerbare Energien bis 2030 vor. Michael Wustmann betont daher, dass Projekt 1 ja den Kohleausstieg mit einschließe.
„Ein starkes Signal für Koalitionsverhandlungen“
Wie sich die Partei hier bundesweit positoniert, ist auch für Koalitionsverhandlungen mit der SPD wichtig. In ihrem Wahlprogramm will die SPD bis 2030 75 Prozent der elektrischen Energie aus erneuerbaren Energien gewinnen. Kohle soll dabei explizit nicht völlig abgeschafft werden. Neben dem Preis für die Energie spielt bei der SPD sicherlich auch eine Rolle, dass für sie Kohlearbeiter ein wichtiges Wahlklientel sind. Der Verhandlungsspielraum ist bei dem dem Projekt 1 für 100 Prozent erneuerbare Energien hier gewiss kleiner.
Doch welches Gewicht hat jetzt dieser Mitgliederentscheid genau? Auf der Homepage der Bundespartei steht hier zum Mitgliederentscheid zunächst: Es werde ermittelt, welche neun Projekte die Partei im Falle einer Regierungspartei als erstes anpacken wolle. Das kann man so verstehen, als ob man in Koalitionsverhandlungen lediglich versucht, diese auch direkt umzusetzen. Ob es für eine Koalition gelingen muss oder nicht, ist damit nicht gesagt. Weiter unten steht aber auf derselben Homepage:
Am Ende stehen dann unsere neun wichtigsten Projekte für eine grüne Regierungsbeteiligung fest.
Das wiederum kann man auch so lesen, als ob ohne diese neun Projekte eine Regierungsbeteiligung gar nicht erst möglich ist und sie eins zu eins umgesetzt werden müssen. Wie kann man das politische Tagesgeschäft bei Koalitionsverhandlungen mit einer basisdemokratischen Vorgehensweise vereinbaren?
„Ehrlichkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit dürfen nicht unter Verhandlungen leiden!“
Friedrich Schuster aus Heidelberg räumt dem Verhandlungsteam diesen Spielraum ein. Wichtig ist ihm, dass Informationen nicht vorenthalten werden und Fragen unbeantwortet bleiben, wie es aktuell bei Stuttgart 21 der Fall sei. Für ihn ist hier „nicht einmal mehr ein Unterschied zur alten CDU-Regierung zu erkennen“. Daher fordert er:
Grundpositionen wie Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Transparenz dürfen nicht unter Verhandlungen leiden. Es darf in Koaltionsverhandlungen keine Tabuthemen geben, die nicht angesprochen werden, um den Frieden mit dem möglichen Partner zu wahren!
Florian Kollmann, der Vorsitzende in Heidelberg, beschreibt die Lage realistisch:
Der Mitgliederentscheid ist ein starker Auftrag an das Verhandlungsteam, den man auch nicht ignorieren kann. Aber natürlich gilt auch: Selbst wenn wir eine absolute Mehrheit hätten, könnten wir nicht alles eins zu eins umsetzen. In den Koalitionsverhandlungen braucht das Verhandlungsteam einen Verhandlungsspielraum. Genau deshalb muss ja der Koalitionsvertrag von den Delegierten auf einem Parteitag ratifiziert werden, um zu schauen: Ist er mit dem Wahlprogramm vereinbar oder nicht.
Ein Parteisprecher der Bundespartei betont daher uns gegenüber:
Damit wir in einer Regierungsbeteiligung möglichst viel von dem, was wir uns wünschen, umsetzen können, kämpfen wir für ein starkes grünes Ergebnis: Je stärker wir sind, desto grüner wird ein mögliches Regierungsprogramm.
Patt in Heidelberg, Patt auch im Bundesverband?
Während der Auszählung des Mitgliederentscheids in Heidelberg sagt Nicolá Lutzmann:
Ich befürchte hier eine Pattsituation: Viele Projekte könnten am Ende fast gleich viele Stimmen haben. Ich hoffe, der Bundesvorstand weiß, wie man mit so einer Situation umgeht.
In Heidelberg sollte er Recht behalten wie die dreizehn stärksten Projekte zeigen: In Heidelberg gibt es auf der einen Seite bei „Energiewende und Ökologie“ einen klaren Trend für das Projekt „100 Prozent erneuerbare Energien.“, das allein auf neunzehn Stimmen kommt. Es ist sogar insgesamt das einzige, dem eine absolute Mehrheit zugestimmt hat. In den Feldern „Gerechtigkeit“ und „Moderne Gesellschaft“ gibt es aber um den zweiten beziehungsweise um den dritten Platz einen Patt zwischen mehreren Projekten mit je zehn Stimmen.
Zwischen den einzelnen Kreisverbänden wird nicht nach Mitgliederanzahl gewichtet, sondern die Stimmen aller Mitglieder werden bundesweit addiert. Das heißt letztlich: Kleine Grünenverbände können bei ihren Mitgliederentscheiden enorm an Einfluss gewinnen. Fadime Tuncer, die Vorsitzende des Kreisverbandes Rhein-Neckar, geht von 25 bis 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei ihrem Mitgliedentscheid am Sonntag aus. Hiermit hätte dieser Kreisverband, der halb so viele Mitglieder wie der in Heidelberg hat, ein vergleichbares politisches Gewicht.
5.000 Briefwählerinnen und Briefwähler vier Tage vor Einsendeschluss lassen hoffen
Nicolá Lutzmann aus Heidelberg verweist jedoch auf die noch große Unbekannte:
Wir wissen in Heidelberg noch nicht, wie viele Briefwählerinnen und Briefwähler an der Wahl teilgenommen haben. Ihre Stimmzettel gehen direkt nach Berlin zum Bundesverband und wir bekommen dann hinterher mitgeteilt, wie viele in Heidelberg diese Chance genutzt haben.
Gerade in einer Großstadt wie Heidelberg könnte dies ein gewichtiger Faktor sein: Zum einen wurde diese Woche das Wetter besser, zum anderen gibt es in einer Großstadt viele kulturelle und politische Termine, die parallel stattfinden. Daher könnte eine Teilnahme gestern vielen nicht möglich gewesen sein. Fadime Tuncer weiß allein aus persönlichen Rückmeldungen aus ihrem Kreisverband Neckar-Bergstraße neben Heidelberg von zwanzig Briefwählerinnen und Briefwählern.
Beim Bundesverband sind bis Montag schon 5.000 Briefwahlunterlagen eingegangen, wie man uns auf Nachfrage mitteilte. Das ist schon ein Zwölftel aller Mitglieder. Der Einsendeschluss ist jedoch heute, sodass hier der Anteil der Briefwahl vermutlich noch wächst.
Am Mittwoch, den 12. Juni, stehen die Ergebnisse fest. Die große Fragen werden dann lauten: Wie viele der 60.000 Mitglieder haben mitentschieden? Wie kann sich angesichts des Wahlprogramms eine Koalition mit der SPD bilden? Oder erscheint sogar Schwarz-Grün möglicher als vorher?