Rhein-Neckar/Stuttgart, 07. Mai 2014. (red) Am Mittwoch vergangener Woche hat der Landtag mit den Stimmen von Bündnis90/Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der CDU und bei Enthaltung der FDP eine Enquete-Kommission beschlossen, die die Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg nachzeichnen sowie Handlungsempfehlungen für den Landtag und die Zivilgesellschaft entwickeln soll. Von grüner Seite heißt es, die SPD habe keinen Untersuchungsausschuss mittragen wollen. Na und? Die Grünen hätten diesen alleine beantragen können.
Von Hardy Prothmann
Was macht man, wenn man sich selbst aus der Verantwortung stehlen will? Man zeigt auf jemanden anderen. So die Grünen in Sachen NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg. Auf vielfache Nachfrage hin teilte beispielsweise der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion Hans-Ulrich Sckerl mit, dass die SPD “nicht mitziehe”.
Grüne könnten Untersuchungsausschuss alleine beantragen
Was er freilich nicht mitteilt: Die Grünen brauchen die SPD überhaupt nicht. Die Grünen können zusammen mit der SPD oder auch alleine jederzeit einen Untersuchungsausschuss zu den Umtrieben des NSU oder dem noch mit vielen offenen Fragen behafteten Mordfall an der Polizistin Michèle Kiesewetter beantragen. Im Untersuchungsausschussgesetz ist das in §2 geregelt:
(3) Mit einem Antrag, der bei seiner Einreichung die Unterschriften von einem Viertel der Mitglieder des Landtags trägt oder von zwei Fraktionen unterzeichnet ist (Minderheitsantrag), wird der Landtag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verpflichtet.
Die Grünen haben mit 36 Sitzen 26 Prozent im Landtag. 35 Stimmen brauchen Sie für einen Untersuchungsausschuss. Der muss formal per Beschluss im Landtag bestätigt werden. Bei der Abstimmung zur Enquete-Kommission gab es eine rot-grüne Mehrheit, die FDP enthielt sich, die CDU stimmte dagegen – aber das sind politische Spielchen. CDU und FDP wussten, dass der Antrag eine Mehrheit erhält, also kann man symbolisch anders stimmen. Dass ein Minderheitsantrag von der Mehrheit abgelehnt wird – das wäre ein Novum und das würden sich CDU und FDP sicher nicht trauen.
Viele Fragen
Die große Frage ist: Warum beantragen die Grünen den Untersuchungsausschuss nicht? Hier kommt wieder die SPD ins Spiel. Aktuell hat Innenminister Reinhold Gall (SPD) genug mit der Polizeireform zu tun und will den Apparat möglicherweise nicht über Gebühr belasten. Aber reicht das als Grund um einer parlamentarischen Untersuchung der kriminellsten rechtsextremistischen Mördervereinigung seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland und ihrem Wirken in Baden-Württemberg aus dem Weg zu gehen?
Die FDP hat signalisiert, dass sie einem Untersuchungsausschuss zustimmen würde und auch Teile der CDU behaupten dies zumindest strategisch – auch wenn mögliche Versäumnisse allesamt in die Regierungszeit und damit Verantwortung von CDU und FDP fallen.
Sollte ein Untersuchungsausschuss wider Erwarten keine neuen Erkenntnisse bringen, würde das CDU und FDP sicher “freuen” – kann das ein Grund sein, dass die SPD und die Grünen davor zurückschrecken, weil sie dem politischen Gegner keine Absolution erteilen wollen?
Oder gibt es nicht-öffentliche Informationen, die eine erhebliche Tragweite rechtsradikaler Umtriebe und einer NSU-Unterstützung offenbaren würden, die einen erheblichen “Image”-Schaden für das Land bedeuten könnten? (Siehe SWR “Parteipolitischer Hickhack”)
Fehler, Defizite, Ungereimtheiten, Verdachtsmomente – miserabler Gesamteindruck
Auch der Bundestags-Untersuchungsausschuss NSU kam im Mordfall Kieswetter zum Ergebnis (Hinweis: Alle Aufzählungspunkte sind Zitate aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags):
- Mehr als in jedem anderen Fall hat der Ausschuss hier aber den Eindruck gewonnen, dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse entscheidende Fragen offen lassen. Eine wesentliche Ursache dafu?r sieht der Ausschuss darin, dass wichtigen Spuren erst mit Verzo?gerung nachgegangen wurde.
- Eine weitere wesentliche Behinderung der Aufkla?rungsarbeit ist und war die Weigerung verschiedener Landesverfassungsa?mter wie auch des BfVs, dem Ausschuss zuna?chst wichtige Akten zur Verfu?gung zu stellen, oder das Unvermo?gen, sie rechtzeitig zu den anstehenden Vernehmungen zu liefern. Auch die Informationspolitik u?ber die, den Ausschuss interessierende Akten aus den La?ndern, ist teilweise mangelhaft. So musste zum Beispiel Sachsen-Anhalt mehrfach aufgefordert werden, Akten nach Berlin zu liefern, wie auch das Land Berlin mit einer Informations-Salamitaktik dem Ausschuss wichtige Informationen u?ber V-Ma?nner zuna?chst vorenthalten hatte. Ebenso wie Innenminister Reinhold Gall in Baden- Württemberg. Erst Ende Mai 2013 und somit schon am Ende des Ausschusses wurde klar, dass das Landesamt für Verfassungsschutz mit Krokus eine langjährige Informantin in der rechten Szene hatte. Krokus hat dem Landesamt in Stuttgart angeblich gemeldet, dass Rechtsextremisten versucht haben sollen, den Gesundheitszustand des schwerverletzten Kollegen der ermordeten Polizistin Miche?le Kiesewetter auszuforschen. Auch wenn die Glaubwu?rdigkeit von Krokus nicht eindeutig beantwortet werden konnte, war dies fu?r den Ausschuss Anlass genug, nochmals eine Sondersitzung mit Vertretern des Landes Baden-Wu?rttemberg nach Beendigung des Ausschusses anzuberaumen. Da aber eine solche verhindernde Informationspolitik keine Ausnahme ist, gehen wir davon aus, dass es im na?heren oder weiteren NSU-Umfeld noch Informanten oder V-Leute gegeben hat.
Der Ausschuss geht also davon aus, dass es weitere Informanten oder V-Leute gegeben hat. Und das wollen die Grünen und die SPD nicht aufklären? Sie wollen nicht wissen, wieso es zu erheblichen Verzögerungen, Ermittlungsfehlern am laufenden Band gekommen ist? Wieso das Wort “Defizit” sich durch den kompletten Abschnitt zum Mordfall Kiesewetter wie ein roter Faden zieht?
- Diese Verzo?gerungs- und Behinderungspraxis kann im besten Fall als unkooperativ bezeichnet werden, in manchen Fa?llen – wie teilweise beim BfV, aber auch im Land Berlin – ko?nnte man den Eindruck gewinnen, dass es absichtliches und vorsa?tzlichen Vorenthaltens oder Vernichten von Aktenmaterial gegeben habe. Das Baden-Wu?rttemberg wichtige Akten erst im August 2013 lieferte und schon zuvor durch wenig kooperatives Verhalten aufgefallen ist, hat ein besonderes Gschma?ckle.
Wenig kooperatives Verhalten? Warum, wieso, weshalb? Wer ist verantwortlich? Wie kam es dazu? Was muss man für die Zukunft daraus lernen?
Ausländerfeindliche Polizei?
Richtiggehend brutal wird der Ausschuss an anderer Stelle bei der Beurteilung der Polizeiarbeit, die mindestens ressentimentsgeladene, wenn nicht klar ausländerfeindliche Einstellungen bei der baden-württembergischen Polizei verdeutlichen:
- Selbst im Rahmen der Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Miche?le Kiesewetter lassen sich Ansa?tze vorurteilsbeladener Routinen der Polizeiarbeit ausmachen: Angeho?rige der Minderheiten Sinti und Roma wurden ohne ausreichende tatsa?chliche Anhaltspunkte u?ber einen langen Zeitraum verda?chtigt und im Rahmen der Spur „Landfahrer“ mit zum Teil unverhältnismäßigen Ermittlungsmaßnahmen überzogen. In der Ausgabe des „Stern“ vom 29. Juni 2007 ließ sich einer der Ermittler gar mit der Aussage „Wir pruüen auch intensiv im Zigeunermilieu.“ zitieren. Selbst nachdem sich herausgestellt hatte, dass die angebliche DNA-Spur, die eine Verbindung zu einem anderen Fall in Worms herstellen ließ, allein auf eine Verunreinigung der durch die Spurensicherung verwendeten Wattesta?bchen zuru?ckzufu?hren war, wurden die Ermittlungen gegen Angeho?rige der Minderheiten Sinti und Roma unversta?ndlicherweise immer noch weiter fortgesetzt.
- Bereits am Tag darauf wird der Thu?ringer Verfassungsschutzpra?sident Thomas Sippel von seinem Dienstherrn in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Und wenige Tage spa?ter, ebenfalls noch im Juli 2012, tritt dann Sachsens Verfassungsschutzpra?sident Reinhard Boos zuru?ck. Im September 2012 folgt Verfassungsschutzpra?sident Volker Limburg aus Sachsen-Anhalt, und im November desselben Jahres Claudia Schmid aus Berlin .Knapp ein Jahr spa?ter, Ende Juni 2013, muss dann in Sachsen auch der bisherige Vizepra?sident des Landesverfassungsschutzes, Olaf Vahrenhold, seinen Hut nehmen. Er wurde ins Staatsarchiv versetzt. Wieder mal sind u?berraschend neue Akten aus dem Umfeld des NSU aufgetaucht, die man zuvor verloren geglaubt hatte.
Alles in Ordnung oder alles mit Geschmäckle?
Und in Baden-Württemberg ist durch die Ermittlungsgruppe “Umfeld”, bei der Ermittler die Ermittlungen von Ermittlern aus dem selben Haus “untersuchten”, ist alles in bester Ordnung?
- Die aktuellen Entwicklungen und unsere Erfahrungen lassen vermuten, dass noch weitere wichtige Erkenntnisse ihren Weg in die O?ffentlichkeit finden werden. Das Ganze gleicht einem Puzzleteil, von dem der Ausschuss wichtige aber noch unzureichende Teile kennt. Zu wenige, um sich ein Gesamtbild zu machen. Eine Erstellung eines Gesamtbildes war und ist aber Auftrag des gemeinsam beschlossenen Untersuchungsauftrages des Ausschusses. (…) Es bleiben – fu?r uns – mehr offene Fragen als Antworten.
- Deutlich muss in diesem Zusammenhang auch angesprochen werden, dass die Aufkla?rungsarbeit immer wieder erschwert wurde durch die Tatsache, dass wichtige Akten von V-Ma?nnern sowohl im Bundesamt fu?r Verfassungsschutz, wie auch in einigen Landesa?mtern bereits vernichtet waren, bzw. noch nach dem 4. November 2011 unter fragwu?rdigen Umsta?nden geschreddert worden sind. Sie stehen fu?r die Aufkla?rungsarbeit somit nicht mehr zur Verfu?gung.
Der Fall Kiesewetter, so der Ausschuss, zeichnet sich durch eine “unglaubliche Anhäufung von Fehlern und Fehlentscheidungen” aus. Kein Anlass, diese Fehlerflut parlamentarisch aufzuarbeiten?
- Auch wenn aus guten Gru?nden das Versagen des BfV und der Landesa?mter fu?r Verfassungsschutz zu Recht im Fokus der Ausschussarbeit standen, so ha?tte es die zum Teil ebenso katastrophale Polizeiarbeit genauso verdient ge- habt. So gibt der Mord an der Polizistin Miche?le Kiesewetter in Baden-Wu?rttemberg bis heute Ra?tsel auf – und das vor allem auch durch schlampige polizeiliche Ermittlungen und entsetzliche Fehler in der Polizeiarbeit. Tat- ortspuren, wie blutige Taschentu?cher am Tatort und Beweisvideos, sind beispielsweise nach dem Mord nicht ausgewertet worden, und auch das perso?nliche Umfeld von Miche?le Kiesewetter wurde nicht na?her durchleuchtet, ihre Emails nicht ausgewertet und Zeugenaussagen nicht ordentlich analysiert. Der Fall Kiesewetter ist eine unglaubliche Anhäufung von Fehlern und Fehlentscheidungen. Darum bedauert es die FDP-Fraktion sehr, dass wir uns gegen die Ausschuss-Mehrheit nicht durchsetzen und dem Komplex Baden-Wu?rttemberg mehr Zeit in der Aufkla?rung einra?umen konnten. So hat es na?mlich bereits damals Spuren gegeben, die auf eine mo?gliche rechte Tat hingewiesen haben, wie beispielsweise die Aussage des Onkels von Miche?le Kiesewetters. Deshalb wollen wir uns in Kapitel IX. mit dem Fall Kiesewetter nochmals befassen.
Die nun beschlossene Enquete-Kommission soll für die Zukunft verhindern, dass Jugendliche Kontakte zu rechtsradikalen Netzwerken knüpfen. Und man will für mehr “Aufklärung” sorgen – was für eine Farce. Klaus Wieschemeyer, politischer Korrespondent der Schwäbischen Zeitung nennt die Enquete-Kommission ein “Placebo gegen rechts” und schreibt:
Im Nachhinein erweist sich das als fatal: Verschwörungstheoretikern wurde Tür und Tor geöffnet. Viele Parlamentarier sind gleichzeitig des Themas überdrüssig und wollen nicht noch einmal alles durchkauen.
Aufklärung ist das Gegenteil von Verschwörungstheorien. Insbesondere die grüne Fraktion im Landtag muss sich den Vorwurf gefallen lassen, an einer parlamentarischen Aufklärungsarbeit mehrheitlich nicht interessiert zu sein. Es gibt Ausnahmen wie den jungen Abgeordneten Alexander Salomon, der bereits vor einem Jahr wichtige Fragen stellte.
Der Abgeordnete Hans-Ulrich Sckerl, sehr verdient als Aufklärer in Sachen EnBW-Deal unter Stefan Mappus (CDU), geht beim Thema NSU und Kiesewetter in politische Deckung, erzählt was von “wäre das schärfere Schwert” gewesen. Erklärt sich aber zufrieden mit der Enquete-Kommission. Vermutlich ist das so: Wenn die eigene Partei zur Regierungskoalition gehört, dann nimmt man es mit der Aufklärung nicht mehr ganz so genau, sondern übt sich im Zaudern.
Die Polizei überlässt man damit Verschwörungstheorien über rechtsradikale Umtriebe in den eigenen Reihen, dubiose V-Leute und extrem schlampige Arbeit. Und im Wissen, dass jeder Mord aufgeklärt werden soll – aber im Fall einer erschossenen und eines schwer verletzten Kollegen viele Fragen offen bleiben dürfen, weil die Grünen sich nicht trauen, einen Minderheitsantrag zu stellen.