Rhein-Neckar/Deutschland, 07. August 2015. (red/ms) Die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland erlebt eine hässliche Renaissance. Und die Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern – insbesondere Asylsuchenden – nimmt immer besorgniserregende Ausmaße an. Flüchtlingsunterkünfte brennen wieder. Die Politik versagt und vergrault das Volk mit Versprechungen, die sie nicht einhalten kann. Plötzlich gebe es „überraschende Entwicklungen“ – die eigentlich schon lange abzusehen waren. Gleichzeitig wird die Debatte zunehmend populistischer und die einzige „Lösung“, die diskutiert wird, ist: Wie kann man die „Asylbetrüger“ schneller abschieben? Willkommen in der Vergangenheit.
Von Minh Schredle
Lange haben die Behörden tatenlos zugeschaut. Nun können sie „die Sicherheit der ausländischen Mitbürger“ nicht mehr länger garantieren und lassen eine Unterkunft im Osten evakuieren.
Und die Männer in den Unterhemden? Die Mütter? Was ist mit den “braven Bürgern”? Sie freuen sich. Erst heimlich, dann zunehmend mutiger. Schließlich applaudieren sie. Jahrelang mussten sie schweigen. Jetzt fließt ihnen der braune Dreck in Strömen heraus. Die letzten Hemmungen sind beseitigt.
Ausländerfotze,
brüllt einer.
Hilflose Polizisten
Unter dem nachlässigen Schutz schmunzelnder Polizisten besteigen rund 150 Asylsuchende die bereitstehenden Verkehrsbusse. Mit Blaulicht setzt sich der Konvoi in Bewegung. Die Menge grölt. Und dann fliegen die Steine.
Yasin, ein 21-jähriger Junge aus Syrien, hat einen Fensterplatz. Er hatte in die zähnebleckende Menge hinausgewinkt, krampfhaft grinsend, um seine Angst zu verbergen. Plötzlich verschwindet sein Gesicht hinter einem Netz aus Glassprüngen. In der Scheibe klafft ein häßliches Loch. Yasin bricht blutüberströmt im Polster zusammen.
Treffer,
brüllt einer aus der Menge. Die anderen applaudieren.
Exodus. Die Karawane muss flüchten. Der Rechtsstaat kapituliert.
Geld über Gesundheit
Nach zwei Stunden Fahrt in den Süden hält der Konvoi. Endlich wird ein Rettungswagen herbeigerufen, der den verletzten Yasin zu einer Augenärztin bringt.
„Das sieht schlimm aus“, murmelt sie und telefoniert mit einem Klinikum. Dort weigert sich das Personal, den Syrer aufzunehmen. Da müsse erst eine ordentliche schriftliche Genehmigung her. Und:
Wer überhaupt ist der Kostenträger?
Das Auge ist perforiert,
stöhnt die Ärztin, „da stecken Glassplitter drin.“ Nach längeren Verhandlungen gibt es endlich grünes Licht.
Widerliche Volksgewalt
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
So hatten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes ihr Volk nicht vorgestellt – und auch die Gewalt nicht, die von ihm ausgeht.
Brennende Asylantenunterkünfte und eingeschmissene Fenster, Hakenkreuze und Reichskriegsfahnen, Hasstiraden gegen Fremde. Und immer mehr Deutsche äußern Verständnis für „rechtsradikale Tendenzen wegen des Ausländerproblems“: Laut einer Emnid-Studie stieg die Zahl innerhalb von einem halben Jahr von 24 Prozent auf 38 Prozent.
Gnadenlos überbelegt
In Mecklenburg-Vorpommern hat die Landesregierung mitten in einem seelenlosen Platten-Komplexe eine Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst) gebaut. Das war, dämmert es nun auch dem Innenminister, „keine glückliche Entscheidung“.
Die ZAst sollte Asylbewerber eigentlich nur kurzfristig aufnehmen, registrieren und dann auf die Kommunen verteilen. Doch bald schon war sie völlig überlaufen. Zu Beginn kamen nur 20 Asylbewerber pro Monat, allein im Juni dieses Jahres waren es rund 1300. Das Haus hat offiziell nur 320 Plätze.
„Den Fremdenhass gab es schon immer“
Oft konnte neu Angekommenen nicht einmal mehr ein Bett zugewiesen werden. Dutzende von Menschen kampierten im Freien auf dem Rasen, dessen Betreten früher strikt verboten war – direkt unter den Balkonen aufgebrachter Bürger, ohne Zelte, ohne Toiletten.
Die haben hingemacht, wo sie gingen und standen,
schimpft eine Anwohnerin.
In einer derart desolaten Lage, so die Berliner Sozialwissenschaftlerin Irene Müller-Hartmann, trete bei vielen „eine unterschwellig schon immer vorhandene Ausländerfeindlichkeit offen zutage“.
„Wo soziale Zugehörigkeiten instabiler werden“, sagt der Bielefelder Rechtsextremismus-Experte Wilhelm Heitmeyer, „gibt es eine Wiederkehr von Naturkategorien wie Hautfarbe, Rasse und Nation.“ Am Ende bleibe „nur noch die Gewißheit“ übrig, „Deutscher zu sein“. Dadurch aber bekomme „Gewalt eine Richtung“. Und ein Ventil.
Notlösungen werden zu Regellösungen
Die Lage ist angespannt. Landesweit. Denn überall machen sich Missstände bemerkbar. Schon lange gelingt es nicht mehr, alle Asylsuchenden menschenwürdig unterzubringen. Turnhallen werden beschlagnahmt. Zeltstädte errichtet.
Auch Klaus Markner sah keinen anderen Ausweg mehr. Um weitere 25 Asylbewerber in seiner 7500-Seelen-Gemeinde Ilmenau bei Lüneburg unterzubringen, werde er, so der oberste Verwaltungsbeamte:
notfalls auch die Feuerwehr-Gerätehäuser beschlagnahmen.
Die Nachricht verbreitete sich, schnell wie die Feuerwehr, in den umliegenden Dörfern. Wenige Tage später drohten alle 250 Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr damit, sie würden den Dienst quittieren.
Nun wird direkt neben dem Rathaus ein Containerlager für 48 Menschen hochgezogen. Doch Markner sieht seine dramatische Beschlagnahmeaktion nur aufgeschoben. „Wann immer ich leerstehende Wohnungen mieten oder Grundstücke für Neubauten kaufen will“, klagt der Gemeindedirektor, „wird sofort boykottiert.“
Bundesweit Probleme
Die Haltung der Bürger von Ilmenau entspricht der Stimmung im Lande. Quartiere sind kaum noch zu kriegen. Überall regt sich sofort der Bürgerprotest, kommen verdeckte und offene Fremdenfeindlichkeit zum Vorschein. Meistens hat man ja eigentlich nichts gegen Flüchtlinge. Aber…
Oft genug erliegen die Politiker der Versuchung und schüren die Stimmung. Grundsatzdebatten? Fehlanzeige. Nach nachhaltigen, dauerhaften und wirklichen Lösungen wird gar nicht erst gesucht.
Im politischen Tagesgeschäft ist derzeit anderes gefragt: ein Patentrezept, mit dem sich die Bundesrepublik möglichst rasch und möglichst dicht abschotten lässt gegen “Wohlstandssucher aus den Armenvierteln der Welt” – speziell gegen die vielen tausend, die sich jeden Monat fälschlich als politisch Verfolgte ausgeben und sich so den Eintritt in die Republik erschwindeln.
Medien bedienen Horrorvisionen
Kein Zweifel: Seit sich bei den Asylbewerbern neue Rekordzahlen abzeichnen fühlt sich die Mehrheit der Bundesbürger dem “Ansturm” nicht mehr gewachsen. Kaum eine Übertreibung scheint absurd genug, um die dumpfe Stimmungslage und die Alpträume vieler Deutscher zu beschreiben. Das Massenblatt Bild artikuliert die Horrorvisionen ihrer Leserschaft folgendermaßen:
Leben in unseren Städten irgendwann mehr Asylbewerber als Deutsche?
Schon sind Überfälle auf Asylanten an der Tagesordnung – vor allem im Osten Deutschlands. Manche Unterkunft wird gleich mehrmals heimgesucht, beispielsweise ein Wohnheim in Leipzig-Grünau: Mehr als 60 jugendliche Schläger fielen wiederholt über die Bewohner her, warfen Steine und versuchten, mit einer brennenden Matratze das Haus abzufackeln.
Freude am Fremdenhass
Viele Deutsche sehen solche Gewalttaten mit klammheimlicher Freude. Die Angst hat sie gepackt. Die Angst vor der unvermeidlichen Einsicht, dass die Insel des Wohlstands, auf der sie leben, nicht mehr lange zu halten ist. Die „Festung“ wird „belagert“.
Politiker und Parteien, muss der geängstigte Bürger denken, haben ihn im Stich gelassen. Sie erweisen sich als handlungsunfähig, schrecken nur mit steigenden Asylantenzahlen und jammern über das schöne Geld, das für die ungeliebte gute Tat ausgegeben werden muss.
Die Regierung verkündet Mal für Mal neue Rezepte. Bund, Land und Kommunen schieben sich seit Jahren in vertrauten Ritualen die Schuld an der Misere zu – aber es ändert sich nichts.
Beschleunigte Asylverfahren sind keine nachhaltige Lösung
Den Schaden haben alle gemeinsam: Politikverdrossenheit. Eine Renaissance der Rechten. Und Aufregung im Ausland über die “hässlichen Deutschen”, sobald wildgewordene Fremdenhasser Jagd auf Asylanten machen oder Wohnheime anstecken.
Die meisten Politiker aber tun so, als könnten beschleunigte Asylverfahren und europäische Regeln nachhaltig Entlastung bringen.
In der Wirklichkeit wird keine einfache Lösung die Einwanderungsbewegung wirkungsvoll stoppen. „Die globale Revolution“, sei es deshalb laut einem internationalen Wissenschaftler-Gremium, „die Bevölkerung der reichen Länder darauf vorzubereiten, diese Tatsache zu akzeptieren“.
Diesen Versuch erst gar nicht zu unternehmen – darin liegt das wahre Versagen der Politik.
Die Mitte rückt nach rechts
Stattdessen geben sie sich dem Populismus hin: Die Politiker der großen Parteien, irritiert durch den allerorten aufflackernden Fremdenhass und durch steil emporschnellende Zuwandererzahlen, unterscheiden sich voneinander nur noch durch die Tonart, in der sie die Forderung vertreten, illegale und scheinlegale Einwanderer außer Landes zu schaffen und zwar möglichst dalli, dalli!
Die ganz Rechten formulieren es am radikalsten und setzen sich massiv in Szene mit Sprüchen wie „Asyl-Betrüger machen Kasse“ oder „Deutsches Geld für Deutsche in Not“. „Bis ins letzte Negerdorf in Afrika“ müsse das Signal einer „ersatzlosen Streichung des Asylgrundrechts“ zu hören sein, rief der baden-württembergische Chef einer rechtsradikalen Partei den johlenden Mengen in seinen Wahlveranstaltungen zu.
Gezielt bepflasterte die NPD das Umfeld von Asylbewerberheimen mit ihren roten Provokationsplakaten. Eine Beschwerde wegen Volksverhetzung lehnte die Staatsanwaltschaft Konstanz mit dem Hinweis ab, daß die Rechtspartei mit der „sehr plakativen und verkürzten Formulierung“ („Ausländer raus“) eine politische Forderung aufgestellt habe, die auch sonst in der Diskussion sei.
Die Republik rückt nach rechts – aus Angst vor dem Rechtsruck.
„An Kopf und Kragen packen und raus damit“, verlangt seit Monaten schon der Fraktionsvorsitzende der Düsseldorfer SPD. Vornehmer formulieren es Freidemokraten in einem ausländerpolitischen Positionspapier: „Der Abschiebung kommt zentrale Bedeutung zu.”
„Aufenthaltsbeendende Maßnahmen“
Unabhängig von der Formulierung: Der Inhalt bleibt gleich. Im Bürokraten-Deutsch werden Abschiebungen gerne als “aufenthaltsbeendende Maßnahmen” schöngeredet. Dadurch wird der Vorgang nicht weniger unmenschlich. Nicht nur die Asylsuchenden, sogar das Personal, das diese Menschen rausschmeißen muss, hat darunter zu leiden.
Mag ein Abschiebungsbeschluß juristisch noch so wasserdicht sein – wenn er schließlich vollzogen wird und sich gefesselte Mütter kreischend auf den Boden werfen, Männer aus dem Fenster zu springen drohen und Sympathisanten die Beamten per Sprechchor „Nazis, Nazis“ schmähen, dann sinkt die Motivation der Staatsdiener bisweilen gegen Null.
Wenn sie schreien, wird ihnen der Mund gestopft.
„Der Schub“ am Frankfurter Flughafen ist für viele Zuwanderer die letzte Erinnerung an Deutschland: ein fensterloser Raum, 30 Quadratmeter groß, hellgelb gestrichen. Für den einzigen Wandschmuck zeigen die „Schüblinge“ (Grenzschutz-Jargon) kaum Interesse – Werbeplakate von allerlei Airlines, die Sehnsucht nach fernen Ländern wecken sollen.
Den meisten Menschen, die hier auf grünen Holzstühlen sitzen und auf ihren Abflug warten, ist nichts ferner als Fernweh. Polizeibeamte, beauftragt von den zuständigen Ausländerbehörden, haben sie hergebracht, und Grenzschützer führen sie zu ihrem Sitz im Flugzeug.
Jeder zehnte “Schübling” steht im Verdacht, dass er im Flieger Ärger macht. „Die werden dann an den Sitz gefesselt“, erzählt ein BGS-Beamter. „Manche bekommen sogar ein Heftpflaster auf den Mund geklebt, weil sie schreien.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar,
heißt es in unserem Grundgesetz. Nicht: “Die Würde der Deutschen.” Doch Würde spielt offenbar nur eine sehr untergeordnete Rolle, wenn der Wohlstand bedroht scheint. Weiter so, Deutschland.
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Debatte in der Zeitschleife
Diese „Reportage“ ist bis zu dieser Stelle rein fiktiv – und doch nicht. Alle oben geschilderten Ereignisse haben Reporter so aufgeschrieben in vielen Spiegel-Artikeln. Allerdings vor über 20 Jahren. Die Inhalte sind also „historisch“ und doch aktueller denn je: Denn die Geschichte wiederholt sich.
2015 gab es bereits über 200 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Stimmung gegenüber Fremden wird immer ungnädiger. Immer menschenverachtender.
Warum müssen ausgerechnet wir belastet werden?
Wenn Unterkünfte geplant sind, ist der Standort der falsche – egal wo. Und auch die Politik macht die selben Fehler wie vor Jahrzehnten. Da werden
Fremdenhass und berechtigte Befürchtungen der Bevölkerung „verwechselt“.
Die Sprache der damaligen und heutigen Asyldebatte lässt sich kaum voneinander unterscheiden. Schon in den 90er-Jahren wurden aus hilfesuchenden Menschen bedrohliche Naturgewalten: Wie lässt sich der “Flüchtlingsstrom eindämmen”? Was tun gegen die “Asylantenschwemme”?
Stefan Dallinger (CDU), Landrat des Rhein-Neckar-Kreises, ist nur einer unter Vielen, die durch unreflektierten Sprachgebrauch Ängste und Ressentiments schüren. Etwa wenn Herr Dallinger eine beschlagnahmte Turnhalle in Wiesloch als “Überlaufgefäß für die Asylflut” bezeichnet.
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Wer greift sich die rechten Stimmen ab?
In der politischen Debatte gewinnt außerdem Populismus an Popularität – bald stehen wieder Wahlen an. Wie weit wird die Mitte nach rechts rücken, wenn die Flüchtlingszahlen weiter steigen und sich die fremdenfeindliche Haltung weiter verbreitet? Werden Parteien rechts von der CDU in Parlamente einziehen?
Denkbar ist das durchaus. Es ist sogar wahrscheinlich: 1992 haben die rechtsradikalen Republikaner in Baden-Württemberg 10,9 Prozent der Stimmen erreicht. Eine Wiederholung dieser Entwicklung kann nicht ausgeschlossen werden – zumal das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den etablierten Parteien wächst und wächst.
Die Politik macht genau die gleichen Fehler wie damals: Sie führen einseitige Debatten, in denen kaum nach langfristigen Lösungen gesucht wird. Die Informationspolitik ist überwiegend katastrophal. Sie machen Versprechungen, die sie nicht einhalten können – so vergrault man sich Mehrheiten.
Müssen sich erst Abgründe auftun?
Wolfgang Schäuble wollte rückblickend auf die Entwicklungen der 90er-Jahre nicht bestreiten, dass es zwischen der Asyldebatte und fremdenfeindlichen Gewalttaten einen „mittelbaren Zusammenhang“ gab. Warum macht die Politik also wieder weiter wie damals?
Die Asyldebatte der 90er-Jahre endete damit, dass das Grundrecht auf Asyl massiv beschnitten wurde. Das lässt sich nicht noch einmal wiederholen – außer man schafft es komplett ab.
Wie soll es also weiter gehen? Wenn sich nichts grundlegend verändert, wird es zu zunehmend brutaleren Übergriffen gegen Asylsuchende kommen. Menschen werden sterben. Diese Gewalttaten wird die Politik dann “auf’s Schärfste verurteilen”. Ein Eingeständnis, dass der eigene Populismus seine Teilschuld dazu beiträgt, wird es selbstverständlich nicht geben. Oder erst viel zu spät.
Und wenn in zwanzig Jahren wieder einmal tausende Hilfesuchende auf der Flucht sind, werden viele Medien wieder titeln, von der bedrohlichen Asylflut, die das arme und geplagte Deutschland überschwemmt. Und die Deutschen werden wieder klagen: „Warum wir?“
Anm. d. Red.: Für die Recherche hat sich Minh Schredle rund 30 Artikel der Jahre 1990-1992 vorgenommen, einen Teil ausgewählt und Passagen dokumentarisch zitiert. Der Spiegel ist eins von wenigen Medien, die online das Archiv vorhalten. Drei Tage Arbeit stecken in diesem Text – hätten wir in Archiven recherchieren müssen, wäre mindestens eine Woche Arbeit „drin“ gewesen.
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Dokumentation: Linkliste
Der erste Teil dieses Textes dokumentiert Auszüge aus sieben Berichten von “Der Spiegel” aus den Jahren 1991 und 1992. Stellenweise wurden diese geringfügig angepasst, im Wesentlichen sind sie wortgetreu zu dokumentarischen Zwecken zitiert. Im Folgenden finden Sie die entsprechenden Passagen unverändert und mit Link auf den originalen Bericht. Jeder einzelne Text ist ausgesprochen lesenswert. Sofern die Autoren vom Spiegel genannt worden sind, finden sie auch hier Erwähnung.
Matthias Matussek, „Jagdzeit in Sachsen“ – 30.09.1991; Der Spiegel 40/1991
“In Hoyerswerda hat der häßliche Deutsche sein Coming-out. Fünf Terror-Nächte lang haben Halbwüchsige mit Flaschengeschossen, Leuchtspurmunition und Steinen die Asylantenunterkünfte sturmreif geschossen. Nun können die Behörden, die lange tatenlos zugeschaut haben, „die Sicherheit der ausländischen Mitbürger“ nicht mehr länger garantieren und lassen evakuieren.
Und die Männer in den Unterhemden? Die Mütter, die braven Bürger Hoyerswerdas? Sie haben sich gefreut. Erst heimlich, dann zunehmend mutiger, schließlich haben sie applaudiert. Jahrelang mußten sie schweigen. Jetzt fließt ihnen der braune Dreck in Strömen heraus. Die letzten Bißsperren sind beseitigt. „Ausländerfotze“ brüllt einer.
Unter dem nachlässigen Schutz schmunzelnder Polizisten besteigen rund 150 Rumänen und Vietnamesen die bereitstehenden Verkehrsbusse. Mit Blaulicht setzt sich der Konvoi in Bewegung. Die Menge grölt. Und dann fliegen die Steine.
Tam Le Thanh, ein 21jähriger Junge aus Hanoi, hat einen Fensterplatz. Er hatte in die zähnebleckende Menge hinausgewinkt, krampfhaft grinsend, um seine Angst zu verbergen. Plötzlich verschwindet sein Gesicht hinter einem Netz aus Glassprüngen. In der Scheibe klafft ein häßliches Loch. Tam bricht blutüberströmt im Polster zusammen. „Treffer“, brüllt einer aus der Menge. Die anderen applaudieren.”
„Nach zwei Stunden Fahrt in den Süden, kurz vor Pirna, hält der Konvoi. Endlich wird ein Rettungswagen herbeigerufen, der den verletzten Tam zu einer Augenärztin bringt. „Das sieht schlimm aus“, murmelt sie und telefoniert mit dem Klinikum Dresden. Dort weigert sich das Personal, den Vietnamesen aufzunehmen. Da müsse erst eine ordentliche schriftliche Genehmigung her. Wer überhaupt ist der Kostenträger? „Das Auge ist perforiert“, stöhnt die Ärztin, „da stecken Glassplitter drin.“ Nach längeren Verhandlungen gibt Dresden grünes Licht.“
„Anklang an Weimar“ – 05.10.1992; Der Spiegel 41/1992
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. So hatten sich die Väter und Mütter des Bonner Grundgesetzes ihr Volk nicht vorgestellt – und auch die Gewalt nicht, die von ihm ausgeht. Brennende Asylantenunterkünfte und eingeschmissene Fenster, Hakenkreuze und Reichskriegsfahnen, Haßtiraden gegen Zigeuner und andere Fremde, Pogrome von Rostock bis Saarlouis, Menschenjagd und Mord auf offener Straße. Und in Sachsenhausen die erste Gedenkstätte des Nazi-Holocaust in Flammen.“
„Immer mehr Deutsche äußern Verständnis für „rechtsradikale Tendenzen wegen des Ausländerproblems“: Waren es Ende 1991 noch 24 Prozent, so stieg die Zahl nach einer Emnid-Studie ein halbes Jahr später auf 38 Prozent.“
„Die Republik rückt nach rechts – aus Angst vor dem Rechtsruck.“
„Weiter so, Deutschland.“
„Ernstes Zeichen an der Wand“ – 31.08.1992; Der Spiegel 36/1992
„Mitten in einen der seelenlosen Platten-Komplexe, den einzig die verwitterten Bilder von Sonnenblumen an der Wand schmücken, setzte die Landesregierung Ende 1990 die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst). Das war, dämmert es nun auch Innenminister Kupfer, „keine glückliche Entscheidung“. Die ZAst sollte Asylbewerber eigentlich nur kurzfristig aufnehmen, registrieren und dann auf die Kommunen verteilen. Doch bald schon war sie völlig überlaufen. Zu Beginn kamen nur 20 Asylbewerber pro Monat, allein im Juni dieses Jahres waren es rund 1300. Das Haus hat offiziell nur 320 Plätze. Oft konnte neu Angekommenen nicht einmal mehr ein Bett zugewiesen werden. Dutzende von Menschen, meist rumänische Roma, kampierten im Freien auf dem Rasen, dessen Betreten früher strikt verboten war – direkt unter den Balkonen aufgebrachter Bürger, ohne Zelte, ohne Toiletten. „Die haben hingemacht, _(* Am 24. August im brennenden ) _(Ausländerheim in Rostock. ) wo sie gingen und standen“, schimpft eine Anwohnerin.“„In einer derart desolaten Lage, so die Berliner Sozialwissenschaftlerin Irene Müller-Hartmann, trete bei vielen „eine unterschwellig schon immer vorhandene Ausländerfeindlichkeit offen zutage“. „Wo soziale Zugehörigkeiten instabiler werden“, sagt der Bielefelder Rechtsextremismus-Experte Wilhelm Heitmeyer, „gibt es eine Wiederkehr von Naturkategorien wie Hautfarbe, Rasse und Nation.“ Am Ende bleibe „nur noch die Gewißheit“ übrig, „Deutscher zu sein“. Dadurch aber bekomme „Gewalt eine Richtung“.“
„Bis ins letzte Negerdorf“ – 06.04.1992; Der Spiegel 15/1992
„Klaus Markner sah keinen anderen Ausweg mehr. Um weitere 25 Asylbewerber in seiner 7500-Seelen-Gemeinde Ilmenau bei Lüneburg unterzubringen, werde er, so der oberste Verwaltungsbeamte der Samtgemeinde, „notfalls auch die Feuerwehr-Gerätehäuser beschlagnahmen“. Die Nachricht verbreitete sich, schnell wie die Feuerwehr, in den umliegenden Dörfern. Wenige Tage später drohten alle 250 Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr damit, sie würden den Dienst quittieren. Nun wird direkt neben dem Rathaus ein Containerlager für 48 Menschen hochgezogen. Doch Markner sieht seine dramatische Beschlagnahmeaktion nur aufgeschoben. „Wann immer ich leerstehende Wohnungen mieten oder Grundstücke für Neubauten kaufen will“, klagt der Gemeindedirektor, „wird sofort boykottiert.“ Die Haltung der Bürger von Ilmenau entspricht der Stimmung im Lande. Quartiere sind kaum noch zu kriegen. Überall regt sich sofort der Bürgerprotest, kommen verdeckte und offene Fremdenfeindlichkeit zum Vorschein.“
„Gezielt bepflasterte die rechtsradikale Partei – der NPD-Mitbegründer Adolf von Thadden half beim Programm – das Umfeld von Asylbewerberheimen mit ihren roten Provokationsplakaten. Eine Beschwerde wegen Volksverhetzung lehnte die Staatsanwaltschaft Konstanz mit dem Hinweis ab, daß die Rechtspartei mit der „sehr plakativen und verkürzten Formulierung“ („Ausländer raus“) eine politische Forderung aufgestellt habe, die auch sonst in der Diskussion sei.“
„“Bis ins letzte Negerdorf in Afrika“ müsse das Signal einer „ersatzlosen Streichung des Asylgrundrechts“ zu hören sein, rief der baden-württembergische Republikaner-Chef, der Stuttgarter Rechtsanwalt Christian Käs, den johlenden Mengen in seinen Wahlveranstaltungen zu.“
„Oft genug erliegen die Politiker der Versuchung und schüren die Stimmung.“
„Soldaten an die Grenzen“ – 09.09.1991; Der Spiegel 37/1991
„Im Bonner Tagesgeschäft ist derzeit jedoch anderes gefragt: ein Patentrezept, mit dem sich die Bundesrepublik möglichst rasch und möglichst dicht abschotten läßt gegen Wohlstandssucher aus den Armenvierteln der Welt – speziell gegen die vielen tausend, die sich jeden Monat fälschlich als politisch Verfolgte ausgeben und sich so den Eintritt in die Republik erschwindeln. Kein Zweifel: Seit sich bei den Asylbewerbern neue Rekordzahlen abzeichnen (siehe Schaubild Seite 40 unten), fühlt sich die Mehrheit der Bundesbürger dem Ansturm nicht mehr gewachsen.“
„Kaum eine Übertreibung scheint absurd genug, um die Alpträume vieler Deutscher zu beschreiben. Die rechtsextremistische National-Zeitung trifft nicht völlig neben die dumpfe Stimmungslage, wenn sie in der Titelzeile fragt: „Ausländer bald in der Mehrheit?“ Ähnlich artikuliert das Massenblatt Bild die Horrorvision seiner Leser: „Leben in unseren Städten irgendwann mehr Asylbewerber als Deutsche?“ Schon sind, vor allem im Osten, Überfälle auf Asylanten an der Tagesordnung. Manche Unterkunft wird gleich mehrmals heimgesucht, beispielsweise das Wohnheim im Leipziger Neubaugebiet Grünau. Mehr als 60 jugendliche Schläger fielen dort vorletzte Woche wieder einmal über die Bewohner her, warfen Steine und versuchten, mit einer brennenden Matratze das Haus abzufackeln.“
„Viele Deutsche sehen solche Gewalttaten mit klammheimlicher Freude. Rund 40 Prozent der jungen Ostdeutschen empfinden Ausländer zumindest als „lästig“. Das ergab eine letzten Monat veröffentlichte Studie der Freien Universität Berlin. Jeder vierte hält sogar „Aktionen gegen Ausländer“ für richtig. Im Westen sind die Jugendlichen zwar weniger gewaltbereit. Ressentiments gegen Fremde hegt aber auch dort ein Viertel der Befragten.“
„Sie kommen, ob wir wollen oder nicht“ – 06.04.1992; Der Spiegel 15/1992
Angst hat die Deutschen gepackt, Angst vor den Fremden, Angst um den Arbeitsplatz und vor hohen Mieten, Angst vor Inflation oder Rezession, Angst auch vor der unvermeidlichen Einsicht, daß die Insel des Wohlstands, auf der sie leben, nicht mehr lange zu halten ist. Die Wohlstandsfestung wird belagert.“
„Politiker und Parteien, muß der geängstigte Bürger denken, haben ihn im Stich gelassen. Sie erweisen sich als handlungsunfähig, schrecken nur mit steigenden Asylantenzahlen und jammern über das schöne Geld, das für die ungeliebte gute Tat ausgegeben werden muß. Die Regierung verkündet Mal für Mal neue Rezepte, schiebt der Opposition seit Jahren in vertrauten Ritualen die Schuld an der Misere zu – aber es ändert sich nichts.“
„Den Schaden haben alle gemeinsam: Politikverdrossenheit, Renaissance der Rechten, Aufregung im Ausland über die häßlichen Deutschen, sobald – wie in Hoyerswerda im letzten Herbst – wildgewordene Fremdenhasser Jagd auf Asylanten machen oder – wie in Hünxe – Wohnheime anstecken.“
„Die meisten Politiker aber tun so, als könnten beschleunigte Verfahren, Grundgesetzänderungen und europäische Asylregeln, womöglich ergänzt um ein EG-Einwanderungsrecht, nachhaltig Entlastung bringen. Wie Pahr hält auch der Club of Rome dagegen, daß in Wahrheit „keine Maßnahmen die Einwanderungsbewegung wirkungsvoll stoppen werden“. Nicht minder wichtig als höhere Entwicklungshilfe, so das internationale Wissenschaftler-Gremium 1991 in seinem Bericht „Die globale Revolution“, sei es deshalb, „die Bevölkerung der reichen Länder darauf vorzubereiten, diese Tatsache zu akzeptieren“. Diesen Versuch erst gar nicht zu unternehmen – darin liegt das wahre Versagen der Politik.“
Wer will Menschen das antun? – 09.11.1992; Der Spiegel 46/1992
„Die Politiker der großen Parteien, irritiert durch den allerorten aufflackernden Fremdenhaß und durch steil emporschnellende Zuwandererzahlen, unterscheiden sich voneinander nur noch durch die Tonart, in der sie die Forderung vertreten, illegale und scheinlegale Einwanderer außer Landes zu schaffen, möglichst dalli, dalli! „An Kopf und Kragen packen und raus damit“, verlangt seit Monaten schon der bullige Düsseldorfer SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann. Vornehmer formulieren die Bonner Freidemokraten in einem ausländerpolitischen Positionspapier: „Der Abschiebung kommt zentrale Bedeutung zu.““
„Mag ein Abschiebungsbeschluß juristisch noch so wasserdicht sein – wenn er schließlich vollzogen wird und gefesselte Mütter sich kreischend auf den Boden werfen, Männer aus dem Fenster zu springen drohen und Sympathisanten die Beamten per Sprechchor „Nazis, Nazis“ schmähen, dann sinkt die Motivation der Staatsdiener bisweilen gegen Null.“
„“Der Schub“ ist für viele Zuwanderer die letzte Erinnerung an Deutschland: ein fensterloser Raum, 30 Quadratmeter groß, hellgelb gestrichen. Für den einzigen Wandschmuck zeigen die „Schüblinge“ (Grenzschutz-Jargon) kaum Interesse – Werbeplakate von allerlei Airlines, die Sehnsucht nach fernen Ländern wecken sollen. Den meisten Menschen, die hier auf grünen Holzstühlen sitzen und auf ihren Abflug warten, ist nichts ferner als Fernweh. Polizeibeamte, beauftragt von den zuständigen Ausländerbehörden, haben sie hergebracht, und Grenzschützer führen sie zu ihrem Sitz im Flugzeug. Jeder zehnte Schübling steht im Verdacht, daß er im Flieger Ärger macht. „Die werden dann an den Sitz gefesselt“, erzählt ein BGS-Beamter. „Manche bekommen sogar ein Heftpflaster auf den Mund geklebt, weil sie schreien.““
Artikel wie dieser sind das Ergebnis von harter, tagelanger Arbeit…
…. die gibt es nicht umsonst. Auch, wenn Sie hier scheinbar „umsonst“ lesen. Wenn unsere Arbeit Ihnen wichtig ist, dann unterstützen Sie uns als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für informativen, hintergründigen Journalismus. Hier geht es zum Förderkreis.