Rhein-Neckar, 06. April 2015. (red) Der Tod von 150 Menschen bewegt die Welt. Und viele Medien jagen alles und jeden: Angehörige, Freunde, Bekannte, Experten und vor allem Andreas L. und die Frage nach seiner Schuld. “Depression” ist nun allerorten zu lesen. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland sind dauerhaft von Depression betroffen, rund zehn Millionen erleiden in ihrem Leben depressive Phasen. Ein der Redaktion bekannter Leser schildert, was im Zusammenhang mit dem Absturz des Germanwings-Flugzeugs und der Berichterstattung dazu in ihm vorgeht: Statt offen mit der Krankheit umzugehen, ist der erste Implus, noch entschlossener zu schweigen, um zur Krankheit nicht noch das Stigma der “tickenden Zeitbombe” zu erhalten.
Von Gerhard M.
„Na so lange du kein Flugzeug gegen einen Berg fliegst“, sagt mein Gegenüber und lacht. Er ist einer von vier Leuten, die wissen, dass ich chronisch depressiv bin. Ich stutze kurz, dann sage ich „Mann, wenn das jetzt ein anderer gesagt hätte…“, und dann lachen wir beide.
Gar nicht zum Lachen ist mir, wenn ich die Berichterstattung in den Medien zum Germanwings-Absturz lese. Ich kenne mich ziemlich gut aus mit Depression. Ich leide darunter, seit ich 15 Jahre alt bin. Dieses Jahr werde ich 50. Ich habe hunderte von Therapiestunden mitgemacht, ich habe die verschiedensten Medikamente verordnet bekommen. Manche haben geholfen. Doch die Depression lässt mich nicht los. Und ich habe ein Diplom in Psychologie (Ich habe schon jeden Witz darüber gehört…).
Depression ist absolut tabu
Dass nur vier Leute wissen, dass ich depressiv bin, ist nicht ohne Grund so. Depression ist für Nicht-Depressive kaum nachvollziehbar. Und man fällt damit aus dem Rahmen, den diese Gesellschaft vorgibt. Nämlich gut drauf zu sein und zu funktionieren, sich ständig selbst zu optimieren.
Depression ist so tabu, dass man für eine bestimmte Art der Krankheit sogar einen anderen Namen erfunden hat: Burnout. Klingt wesentlich cooler, denn krank zu sein durch Überlastung hat etwas Heroisches. Obwohl es einfach nur Verzweiflung über das Rennen im Hamsterrad ist.
Wie soll ich in einer Gesellschaft, die gesunde Ernährung und Sport als unfehlbaren Weg zur Gesundheit behauptet, erklären, dass für mich der Weg aus dem Bett zum Zähneputzen öfter mal mehrere Stunden dauert?
„Na, gestern mal wieder in der Kneipe versackt?“ fragt jemand am Telefon, wenn ich kurz vor 12 Uhr Mittags noch völlig kaputt klinge. Die ehrliche Antwort wäre: „Nein, die dreiviertel Nacht nicht schlafen können, dann Albträume gehabt und den Vormittag heulend im Bett verbracht.“ Meine tatsächliche Antwort ist: „Nö, so schlimm war’s gar nicht, hab nur zu viel geraucht.“
Ich führe ein Doppelleben
Der Mann, der um 12 Uhr angerufen hat, ist ein Auftraggeber. Ich bin Freiberufler. Ich muss funktionieren. Keine Arbeit – kein Geld. So einfach ist das. Meine Auftraggeber schätzen mich, sie wissen, dass ich pünktlich und zuverlässig liefere. Das muss so bleiben.
Ich lebe ein Doppelleben. Und jetzt fühle ich mich durch die aktuelle Berichterstattung zum Germanwings-Absturz noch mehr unter Druck, einen wesentlichen Teil meiner Identität zu verbergen.
Die Berichterstattung über den mutmaßlich für den Absturz verantwortlichen Co-Piloten halte ich für eine Katastrophe. Nicht nur ist sie rücksichtslos bis zur Grausamkeit gegenüber seinen Angehörigen und den Opfern der Katastrophe. Sie ist in weiten Teilen auch falsch, wenn es um die Psyche des Co-Piloten geht.
Ein depressiver Mensch will, wenn, nur sich selbst umbringen. Er will nicht Menschen in den Tod mitreißen.
Depression ist die Krankheit, die hinter den meisten Suiziden und Suizidversuchen als Ursache steht. Sehr selten kommt es auch zu erweiterten Suiziden. So nennt man eine Tat, bei welcher der Hauptakteur nicht nur sich selbst tötet. Im allgemeinen sind die Opfer dann aus dem engsten Umfeld, meist Kinder oder Lebenspartner, die existenziell abhängig sind.
Ich leide schon genug und brauche den Ruch der “tickenden Zeitbombe” nicht auch noch
Durch die gegenwärtige Berichterstattung wird Depression in die Nähe von Wahnsinn gerückt. Das macht mir Angst. Es war schon in der Vergangenheit so, dass ich Menschen, die mich etwas besser kennenlernen, nicht zumuten möchte, sich mit Depression auseinanderzusetzen – weil das Thema so schwierig ist. Und weil ich nicht möchte, dass meine Gegenüber darüber nachdenken, wie sich sich mir gegenüber verhalten sollen. Ich bin nicht wahnsinnig. Ich bin ein intelligenter Mensch, der lediglich krankheitsbedingt sich selbst und sein Leben als endlos bedrückende Last erlebt. Wenn ich als depressiver Mensch jetzt noch in den Ruch gerate, eine tickende Zeitbombe zu sein, finde ich das nicht gerade amüsant.
Dass der Co-Pilot wegen Depression behandelt wurde, bedeutet nicht, dass seine Depression ursächlich für sein mutmaßliches Herbeiführen der Katastrophe ist. Depressionen sind auch Begleitsymptome bei anderen psychischen Störungen. So werden zum Beispiel Borderline-Patienten meistens zuerst wegen Depressionen behandelt und die eigentlich zugrunde liegende Störung nicht erkannt.
Es gibt hier und da Hinweise darauf, dass der Co-Pilot womöglich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten hat. Das ist die krankhaft übersteigerte Überzeugung, ein echt toller Typ zu sein. Und es irgendwann mal allen zu zeigen. Solche Menschen sind in unserer Gesellschaft oft recht erfolgreich. Es sind auf den ersten Blick “Macher”. Sie prahlen mit Leistungen, überzeugen andere von ihrer Großartigkeit, schmeißen mit angeblich genialen Ideen nur so um sich.
Meist dauert es eine Zeit lang, bis das Umfeld bemerkt, dass der tolle Herr X, die mitreißende Frau Y die Projekte doch nicht so richtig hinbekommt. Aber bis dahin können schon stattliche (und staatliche) Investitionen versemmelt sein. Vermutlich fallen ihnen gerade einige Beispiele ein?
tl;dr: Die Berichterstattung suggeriert, die Depression des Co-Piloten sei ursächlich für den mutmaßlich absichtlich herbeigeführten Absturz. Das verstärkt die Stigmatisierung depressiver Menschen.
Depression ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von psychischen Störungen, die allgemein mit “Niedergeschlagenheit” assoziiert werden. Als einer der häufigsten Auslöser wird Stress vermutet. Bei jeder bekannten Form der Depression sind das serotonale und/oder noradrenale System gestört – der Spiegel dieser Neurotransmitter ist zu hoch oder zu niedrig, oder die Resorption/Reizbarkeit der Synapsen ist verändert. Auch die Einnahme von Medikamenten oder psychoaktiven Substanzen kann Depressionen nach sich ziehen.Als “Baby-Blues” sind Depressionen bei Frauen nach einer Schwangerschaft bekannt – jugendliche Stimmungsschwankungen sind “hormonell” bedingt und können sich zu einer Depression entwickeln. Häufig leiden Depressive unter Schuldgefühlen, Krankheitsängsten, Verarmungswahn und vor allem Schamgefühlen. Viele Depressionen werden nicht erkannt oder falsch diagnostiziert – bei vielen Depressiven helfen aber (medikamentöse) Therapien.Depression ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu im Gegensatz zum Idealbild des gesunden und erfolgreichen “Leistungsträgers”. Depression kann ein Auslöser für Suizid sein. Bekannte Fälle sind die Jugendrichterin Kirsten Heisig, die vermutlich unter Depression litt sowie die Fußballprofis Robert Enke und Andreas Biermann – alle übrigens absolute Leistungsträger. |
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