Sinsheim/Rhein-Neckar, 06. Mai 2014. (red) In Sinsheim entschließt sich der Gemeinderat mehrheitlich, einen Nazi-Aufzug einfach zu ignorieren. Ein grüner Stadtrat hält dagegen und informiert antifaschistische Gruppierungen über das Ergebnis der „nicht-öffentlichen“ Beratungen. In der nächsten öffentlichen Sitzung wird der Stadtrat vom Oberbürgermeister und den Freien Wählern „an den Pranger gestellt“. Man droht sogar mit bis zu 1.800 Euro Bußgeld – er habe eine „Strategie vereitelt“ und sogar die Sicherheit „auf’s Spiel gesetzt“. Und die NPD lacht sich eins ins Fäustchen.
Kommentar: Hardy Prothmann
Laut Gemeinderatsordnung haben Gemeinderäte Stillschweigen gegenüber der Öffentlichkeit über nicht-öffentliche Sitzungen zu bewahren. Laut Gemeindeordnung sind aber Gemeinderatssitzungen grundsätzlich öffentlich abzuhalten – außer, es geht um schutzwürdige Interessen von Dritten oder der Gemeinde.
Was bitte ist an einer Beratung, wie man mit rechtsradikalen Umtrieben in der eigenen Stadt umgehen will, „schutzwürdig“? Wollen Sie hier Gemeinderäte schützen, die in der Beratung auf die grandiose Idee kommen, einen Nazi-Aufmarsch in der eigenen Stadt einfach zu ignorieren und sogar Anwohner der Marschroute schriftlich darum bitten, doch die Rolläden runterzulassen und nicht auf die Straße zu gehen?

Grünen-Stadtrat Stefan Seitz wird vom Oberbürgermeister und der Mehrheit des Gemeinderats zum Sündenbock für die eigene politische Verantwortungslosigkeit gemacht. Foto: privat
Sinsheim ist seit Jahren im Fokus der Rechtsradikalen – sozusagen schon fast eine Homebase. Die Aktivitäten der Neo-Nazis sind zahlreich und Sinsheim ist das Zentrum für öffentliche Auftritte. Und der Sinsheimer Gemeinderat überlässt die Straße diesen Verfassungsfeinden? Und traut sich nicht, die eigene unverantwortliche Haltung öffentlich zu beraten, so dass man berichten kann, welcher Stadtrat eine solche Bankrotterklärung mit einem Ja unterstützt? Ja zu Nazis auf den Straßen, die man einfach ignoriert wie einen Pickel, der hoffentlich bald wieder weggeht?
Mit der Weitergabe von Informationen aus der nicht-öffentlichen Sitzung, so die Zeitung, sei die „Strategie“, die „Taktik von Ignorieren statt demonstrieren“ „hinfällig“ geworden. Auf die Frage, wie „hinfällig“ eine solche „Strategie“ von vorneherein ist, kommen weder der Oberbürgermeister noch die Gemeinderatsmehrheit. Auf die Frage, inwieweit eine solche Haltung der Gemeinderatsmehrheit einen „Vertrauensbruch“ zu den Bürgern darstellt, die sich von der Politik allein gelassen fühlen müssen, inwieweit ein Wegschauen ein „untragbares Verhalten“ ist und inwieweit die Bevölkerung eine „Störung der weiteren Zusammenarbeit“ mit einem solchen Gremium erkennen muss, kommt man offensichtlich nicht.
Sind Begriffe wie Zivilcourage und politische Verantwortung in Sinsheim unbekannt?
Leute, die eine solch armselige Entscheidung treffen, wollen hinterher einen Stadtrat, der durch die nicht-Öffentlichkeit zum Schweigen „verurteilt“ wird und der sich nicht daran hält, sogar noch mit einem Ordnungsgeld belegen? Fordern sogar dessen Rücktritt? Damit keiner im Sinsheimer Gemeinderat mehr gegen die Nazis demonstriert und die Rechtsradikalen aus der Stadt haben will?
Und dieser Gemeinderat fühlt sich auch noch im Recht, einen „Verräter“ zu rügen? Ihm den Rücktritt nahezulegen oder von weiteren Sitzungen fernzubleiben? Was ist da los in Sinsheim? Ist das die allertiefste aller tiefen Provinzen und ein Teil Ostdeutschlands, wo auch NPDler als „liebe Kollegen“ in den Gemeinderäten sitzen? Hat man in Sinsheim die Begriffe Zivilcourage und politische Verantwortung schon mal gehört oder ist das eine Stadt der Biedermeier, wo die Brandstifter Signale erhalten, doch endlich mehr Präsenz zu zeigen?
Oberbürgermeister Albrecht wollte unsere Fragen, bis auf ein „Wir sind gegen Extremismus, egal ob von rechts oder links“ nicht zu diesen Fragen äußern:
Gemeinderatssitzungen haben grundsätzlich öffentlich zu tagen. Nicht-öffentlich beispielsweise nur, wenn schützenswerte Interessen Dritter vorliegen. Welche schützenswerten Interessen lagen im Fall der politischen Haltung der Stadtverwaltung vor?
Wollen Sie tatsächlich einen unabhängigen Stadtrat durch Teilnahme an einer nicht-öffentlichen Sitzung daran hindern, sich politisch öffentlich zu betätigen?
Die Zeitung intendiert, dass die Weitergabe der Informationen durch Herrn Seitz ein Sicherheitsrisiko für Sie und Ihre Familie ergeben habe. Wollen Sie ernsthaft einen Kausalzusammenhang behaupten zwischen der Information von Herrn Seitz und Aufrufe von Dritten „Geschenke“ zu präsentieren?
Ganz sicher ist Herr Seitz nicht verantwortlich für anonyme Kommentare und die Veröffentlichung der Adressen von Oberbürgermeister und Stadträten (die Daten bekommt man relativ leicht) auf einer antifaschistischen Internetseite. Dort geht man davon aus, dass es Rechte waren, die das gepostet haben – die Einträge wurden gelöscht. Der Oberbürgermeister behauptete laut Zeitung, dass er und seine Familie unter „Polizeischutz“ standen – das ist falsch. Die Polizei teilte auf Anfrage mit, dass im Gebiet, wo Herr Albrecht wohnt, durch erhöhtes Streifefahren etwas mehr Präsenz gezeigt worden ist.
NPD applaudiert Oberbürgermeister und Gemeinderat
Welche Auswirkungen die „Strategie“ von Oberbürgermeister und Gemeinderatsmehrheit hat, kann man einer Pressemitteilung der NPD entnehmen. Die neuen Freunde der Sinsheimer Verwaltung unterstützen voll und ganz:
Mit seinem Verhalten hat Herr Seitz die Bürger Sinsheims und vor allem die Teilnehmer der Demonstration einer erheblichen Gefahr ausgesetzt und die öffentliche Ordnung in Sinsheim riskiert. (…) Die NPD spricht unterdessen Jörg Albrecht ihre Solidarität aus, falls dieser von Linksextremisten angegriffen werden sollte. Der linke Terror schreckt vor niemandem zurück, der nicht nach der Pfeife der Rotfront marschiert. Das sind keine Zustände in einer Demokratie. Wir hoffen, dass Herrn Albrecht die letzten Wochen eine Lehre waren und er in Zukunft in seiner Stadt konsequent gegen den militanten Linksextremismus im Sinne der Meinungsfreiheit vorgehen wird.
Ende 2012 hatte der Sinsheimer Gemeinderat noch einstimmig eine Resolution gegen rechts verabschiedet, in der Verwaltungsvorlage dazu hieß es:
In einigen Kommunen wurden bereits Aufrufe gegen Rechtsextremismus veröffentlicht, die dort auch von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden. Es wäre wünschenswert, wenn auch der Gemeinderat der Stadt Sinsheim sich mit allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern der Stadt aus über 100 verschiedenen Ländern eindeutig positionieren und deutlich machen würde, dass rechtsradikales Gedankengut hier in Sinsheim unerwünscht ist. Verschiedene Vertreter des Bündnisses für Toleranz baten Herrn Oberbürgermeister Albrecht in einem persönlichen Gespräch um diese Vorgehensweise.
Am Tag der NPD-Demo in Sinsheim machte der Gemeinderat einen „Ausflug“. Bis auf Stefan Seitz war keiner der Gemeinderatskollegen auf der Straße, um gegen rechts zu demonstrieren. Vielleicht begreifen die „lieben Kollegen“ ja das als Bedrohung, weil sie Rückmeldungen bekommen haben, dass man in der Bevölkerung kein Verständnis für ein solche „bequemes Verhalten“ hat, wie Stadtrat Seitz das nannte. Oder freut man sich am Ende über den Applaus der NPD und hat in Sinsheim akzeptiert, dass die Straße der NPD gehört?
Das aggressive Vorgehen von Oberbürgermeister und anderen Gemeinderäten gegen den angeblichen „Störer“ der „öffentlichen Ordnung“ ist nur der missglückte Versuch, sein eigenes politisches Versagen zu kaschieren. Wie bedauerlich für Sinsheim.