Mannheim, 06. Juli 2015. (red) Die Oberbürgermeisterwahl ist vorbei. Amtsinhaber Dr. Peter Kurz ist wiedergewählt. SPD, Grüne und Die Linke fühlen sich als Sieger. Die CDU sowieso. Nach der Meinung von ML und FDP hat keiner gefragt. Nach neun Wochen Wahlkampf kann es also weitergehen wie immer? Absolut nicht – denn diese Wahl offenbart fürchterliche Zustände. Insbesondere die Parteien müssen lernen umzudenken, sich von „traditionellem“ Verhalten verabschieden und sich neu aufstellen. Sonst übernehmen andere.
Von Hardy Prothmann
Man kann alles einfach auf das Wetter schieben. Fast 40 Grad Celsius und die Wähler hatten keinen Bock, sich auf den Weg zur Wahlurne zu machen. Sicher spielt das Wetter eine Rolle – aber so gravierend? Die Ursachen liegen woanders.
14,8 Prozent
Prägen Sie sich eine Zahl ein: 14,8 Prozent – der alte und neue Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz ist Mister 14,8 Prozent. Nur 15 von 100 Bürgern haben ihn gewählt. Es gibt Journalisten, die gestern die Frage gestellt haben, ob das noch „repräsentativ“ sei. Ist es. Auch 1 von 100 ist repräsentativ. Das Wahlystem wurde eingehalten und wenn Bürger aus irgendeinem Grund nicht wählen, dann haben sie ihre Chance verpasst. Regiert werden sie trotzdem. Zählt man Mister 12 Prozent Peter Rosenberger dazu, haben 73 Prozent der Wahlberechtigten keinen der beiden wählen wollen und sind gar nicht erst zur Wahl gegangen. Der dritte Kandidat Christian Sommer spielte prozentual gesehen keine Rolle.
Mit 14,8 Prozent steht Oberbürgermeister Dr. Kurz noch schlechter da als sein Heidelberger Kollege Dr. Eckart Würzner (parteilos). Der erreichte Ende 2014 nur 17,34 Prozent aller Wählerstimmen. Dass auch andere Werte erreicht werden können, zeigen die Wahlen in Karlsruhe und Tübingen: Der Karlsruher OB Dr. Frank Mentrup (SPD, früher Mannheim) hatte mit 42,24 Prozent eine viel bessere Wahlbeteiligung und 23,2 Prozent aller Wähler haben ihn gewählt. Dr. Boris Palmer (Grüne) wurde gar von knapp 30 Prozent der Bürger in Tübingen gewählt, mit einer sehr guten Wahlbeteiligung von 55 Prozent und einem sehr guten Ergebnis von 61,7 Prozent.
Was läuft schief?
Was läuft in Mannheim schief? Angeblich ist das doch eine „rote Hochburg“? Wieso verliert der Amtsinhaber über 5.000 Wähler? Und wieso schneidet er in ehemals roten Stadtteilen besonders schlecht ab?
Letztgültig weiß das niemand. Aber es gibt für politische Beobachter viele Hinweise, was „schief“ läuft. Der amtierende Oberbürgermeister hat aus dem gemächlichen Mannheim eine pulsierende Metropole gemacht. Er hat Schulden abgebaut, noch wichtiger die Wirtschaft gestärkt, wodurch Arbeitsplätze entstanden sind, die Jugendarbeitslosigkeit vorbildlich gesenkt und die Kultur gefördert.
Er hatte einen großen Plan und den hat er straff durchgezogen – vermutlich zu schnell für viele gemütlichen Mannheimer und für die Multiplikatoren, die er braucht, um seine oft akademischen Darstellungen verständlich auf die Straße zu bringen.
Absurde Verhältnisse
Vollkommen absurd ist das Verhältnis von Wahl- und Bürgerbeteiligung. Wieso geht diese Schere so auseinander? Es gibt kaum eine Stadt mit mehr Bürgerbeteiligungsangeboten. Außerhalb Mannheims nehmen sich andere Städte Mannheim zum Vorbild – und müssen jetzt vielleicht umdenken.
Die Bürgerbeteiligungsangebote sind vorbildlich, aber letztlich nutzlos, wenn sie nicht angenommen werden. Oder wenn sie boykottiert werden. Vielleicht werden sie auch grundsätzlich falsch beworben und kommuniziert und/oder möglicherweise falsch organisiert. Idee gut, Umsetzung Panne.
Chaotisierung allerorten
Exemplarisch ist der Streit um die Buga 23. Der OB wollte den Bürgerentscheid später, wenn mehr Informationen vorliegen. Die CDU wollte ihn unbedingt zur Bundestagswahl im September 2013. Die Buga-Gegner behaupten bis heute, „wenn man mehr gewusst hätte, wäre der Bürgerentscheid gegen die Buga ausgegangen“. Man wirft dem OB also heute das vor, was er eigentlich wollte – eine spätere Entscheidung, wenn mehr Informationen vorliegen.
Eine Mehrheit hat sich entschieden, aber das wird nicht mehr akzeptiert. Hinzu kommt die „Chaotisierung des Prozesses“, wie OB Dr. Kurz das nennt, durch den neuen Kreisvorsitzenden Nikolas Löbel mit einer CDU-Mitgliederbefragung, die auch innerhalb der CDU für Irritationen sorgte.
Mediale Verantwortung?
Absolut entscheidend sind aber immer noch als Multiplikatoren die Medien – das Dauerfeuer gegen die Buga und den OB durch den lokalen Monopolisten Mannheimer Morgen ist vermutlich der Hauptmotor für den Zwietracht in der Stadt.
Die Zeitung befindet sich zwar auf dem absteigenden Ast und verliert Jahr um Jahr bedenklich an Auflage – noch aber ist sie Monopolist und prägt über platte Inhalte ebensolche platte Meinungen. Eine davon sind die über Leserbriefe transportierten „Meinungen“, alles, was der OB anfasse, tue er, um sich ein Denkmal zu setzen.
Alles seinen nur „Prestigeobjekte“ bis hin zu Behauptungen, er wolle sich bereichern und noch böser: Er sei der Kopf eines mafiösen Systems.
Politische Verantwortung?
Doch wer zieht die Zeitung zur Verantwortung, wenn man als „politischer Entscheider“ gleichzeitig stolz wie bolle ist, wenn man mal zitiert wird? Entlarvend sind nicht nur in Mannheim die Äußerungen von Lokalpolitikern – „das stand so in der Zeitung“, sagen sie und registrieren konsequent nicht, dass sich immer weniger Menschen über die Zeitung, sondern über „Medien“ und hier vor allem das Internet informieren.
Hier wird eine Stadt vorsätzlich kaputt geredet. Oft von „typischen“ Zeitungsleser, 60 oder 65+. Geradezu bösartigen Wutrentnern mit Schaum vor dem Mund. Menschen, für deren „Meinungen“ sich früher zu recht niemand interessiert hat, die aber plötzlich ein Forum bekommen, weil man „Stimmung“ machen will.
Hysterischer Aktionismus
Dasselbe gilt für Sicherheit und Ordnung – ein Kandidat Peter Rosenberger konnte unhinterfragt seine platten Forderungen aufstellen, mehr KOD, mehr Straßenreinigung. Sicherheit ist Polizeisache und die macht ihre Arbeit gut. Liest man den Mannheimer Morgen, wirkt das ganz anders. Der Mord an Gabriele Z. und das Tötungsdelikt vor der H4-Wache haben insbesondere durch eine vollständig verantwortungslose Berichterstattung viele Menschen nachhaltig verunsichert.
Hinzu kommt eine „Aufschrei“-Kultur, befeuert aus dem linken Lager von SPD, Grünen und Die Linke. Überall werden Nazis gewittert, man scheut sich selbst nicht, äußerst zweifelhafte Methoden anzuwenden und Rechtsstaatlichkeit gilt nur dann, wenn sie gefällt, sonst nicht. Und vor allem hat man immer Recht.
Dass selbst aufgeschlossene Bürger/innen extrem irritiert bis angewidert sind, wird nicht registriert. Und hinter den Kulissen wird jeder unter Druck gesetzt, der beispielsweise unsere Berichterstattung mindestens „überlegenswert“ findet.
Gesteuerte Kampagnen
Als würde das noch nicht reichen, kommen Angriffe von außen – gesteuert von innen. Die jüngsten punktgenauen Veröffentlichungen vor der Wahl bei Spiegel Online und Zeit.de zum „Hygiene-Skandal“ gegen den Oberbürgermeister sind nicht zufällig entstanden.
Dieser Machtkampf zwischen Fakultät und Klinik GmbH wird von interessierter Seite betrieben – zu Lasten der Beschäftigten und Patienten. Auch hier vollständig verantwortungslos und medial so zurechtgeschustert, dass man meinen muss, der OB müsse als Aufsichtsratsvorsitzender die Abrechnungen für Fieberzäpfchen (und deren Verabreichung) höchstselbst kontrollieren, weil er sonst seiner Verantwortung nicht nachkomme.
Cage-Fight statt Debatte
Für die allermeisten Debatten gilt nicht mehr ein vernünftiges Abwägen von Vor- und Nachteilen, der Einsatz erfolgt im Vollkontakt ohne Regeln wie in einem Cage-Fight. Die möglichst schnelle und gründliche Vernichtung des Gegners ist das Ziel – ohne Rücksicht auf Verluste.
Man erinnere sich an die Hauptaussage des Oberbürgermeisters in seiner Neujahrsrede: Er bemängelte das zunehmende Verschwinden von Respekt. Damit meinte er ganz sicher keine Klage, dass man nicht kritisieren darf, sondern wie man das tut und ob es noch eine „Anschlussfähigkeit“ gibt.
Gleichzeitig stellt sich aber tatsächlich heraus, dass es zwar kein mafiöses, aber doch ein System von Nutznießern gibt. Was als „hehrer“ Einsatz verkauft wird, ist unterm Strich doch häufig nur die Suche nach dem eigenen Vorteil. Ob zur eigenen Darstellung oder auch finanziellen Gründen.
Legenden, die keinen interessieren
Bürger, die das nicht mehr interessiert, gibt es genug. Gut verdienende, die sich damit nicht abgeben wollen und viele, denen es gar nicht mehr gut geht und mittlerweile denken, sowieso nichts ändern zu können.
Es werden Legenden gebildet, von denen die Menschen wissen, dass sie nicht stimmen. „Mannheim sagt ja“ hat 12.000 Menschen auf die Straße gebracht. Warum? Weil Pegida das Land erschütterte und dann vor allem der Terroranschlag auf das französische Satireblatt „Charlie Hebdo“. Deutsche wie Migranten gingen auf die Straße – fassungslos über die Gewalt, gerade mal fünf Autostunden entfernt. Und seitdem? Gibt es eine Gruppe von Nutznießern, die sich selbst vermarkten. Einerseits betonen Sie ihre Selbstlosigkeit – andererseits ihre maßgebliche Rolle.
Wer ist verdrossen? Die Bürger oder die Politiker?
Kaum eine Veranstaltung, ob Demo oder Beteiligung, kommt ohne den klassischen Auftritt von Politikern aus, die die immerselben Parolen abspulen. Kaum ein Politiker versteht, dass es manchmal besser wäre, nur Bürger unter Bürgern zu sein. Stattdessen muss es die Werbung für die eigene Partei und der Angriff auf die anderen sein. Wie öde. Wie langweilig. Wie durchschaubar. Wie nervtötend.
Der aktuelle Wahlkampf ist ein Desaster für die Parteien. Über den Daumen gepeilt sind gut 300.000 Euro Werbungskosten ausgegeben worden, unglaublich viel Manpower wurde auf die Straße geschickt – unbezahlt. Da lassen sich sicher nochmals 300.-400.000 Euro Arbeit draufrechnen. Zusammen also gut über eine halbe Million, eher 600.000 Euro.
Und das Ergebnis? Knapp 70.000 Leute hat man „motiviert“ – zieht man die ab, die man nicht motivieren muss, redet man über 10. oder 20.000 Menschen. Die niedrigste Wahlbeteiligung jemals bei einer OB-Wahl in Mannheim. In einem Unternehmen würde jetzt analysiert werden, welche Fehler gemacht wurden und wer für diese Ressourcenverschwendung verantwortlich ist.
Parteisoldaten brauchen keine Controller und wissen sofort, wer schuld ist: Der Nicht-Wähler. Wer sonst? Man selbst hat schließlich immer alles richtig gemacht.
Mannheim steht vor schweren Aufgaben, die ein Oberbürgermeister allein nicht bewältigen kann. Er braucht dazu alle gesellschaftlichen Gruppen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen wollen – Individualisten, Selbstdarsteller und Egoisten sind kontraproduktive Störkräfte.
Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh draus: Nicht die Bürger sind politikverdrossen, sondern die Politiker bürgerverdrossen. Unterm Strich kommt dasselbe raus, es bedeutet aber nicht dasselbe und wenn man das nicht versteht, zieht man falsche Schlüsse. Beispielsweise, dass man glaubt, in sechs Wochen Wahlkampf eine Stadt wie Mannheim bewegen zu können. Und das auch noch bei 40 Grad Celcius im Zieleinlauf.