Rhein-Neckar, 06. Februar 2017. (red) Spitzenpolitiker beklagen eine “Verächtlichmachung” des politischen Betriebs – sind sie möglicherweise selbst daran beteiligt? Unser Gastautor, Pro. Dr. Thomas Leif, Chefreporter SWR Fernsehen, meint, dass dies der Fall ist. Aktuell erlebt die SPD mit dem designierten Kanzlerkandidaten Martin Schulz einen Höhenflug ungeahnten Ausmaßes – auch das analysiert Dr. Leif in seinem Text, warnt allerdings vor einer dringenden Gefahr – dem gnadenlosen Absturz.
Von Dr. Thomas Leif
Sie werden gehasst, beschimpft und auch bedroht. Nicht als einzige – doch gerade Spitzenpolitiker fühlen eine besondere Wucht der Verachtung und beklagen eine “Verächtlichmachung” des gesamten politischen Betriebs. Sie können die tieferen Ursachen dieses Kulturbruchs nicht entziffern. Dabei hätten sie Verbesserungen der Lage selbst in der Hand.
Inszenierung statt echter Lösungsideen
Erstens sollten Politiker die Erwartungen dämpfen. Denn angesichts galoppierender Krisen fordert das Publikum viel und Politiker versprechen noch mehr. Oftmals mehr, als sie halten können. Sie vermitteln den Eindruck, als lebten wir in einer Ebay-Demokratie, nach der Devise: sie – die Wähler – bestellen; wir – die Politiker – liefern. Zu oft inszenieren sie diesen Eindruck und überdecken damit ihre eigene Argumentationsphobie.
Das gilt für die Bewältigung der “Flüchtlings- und Migrationskrise”. Es gilt für den organisierten Stillstand bei der eskalierenden Europa-Sklerose nach dem “Brexit”. Und es gilt auch für die nationalistische “Orbanisierung” osteuropäischer Mitgliedsstaaten. All die Alarmsignale und Ankündigungen, all der Verzicht auf durchdachte Politikentwürfe illustrieren den rasenden Stillstand. Fatalerweise dient diese Simulation von Lösungsenergie vorrangig der Selbstberuhigung.
Doch just diese erklärungsarme, richtungslose Politik in stürmischen Zeiten provoziert bei einer lautstarken Minderheit verbale Entgleisungen. Sie wirken auch als Ventil für diffuse Ohnmachtsgefühle, Verlustängste und unbeantwortete Zukunftsfragen in einer Welt unter Globalisierungsdruck.
Der Sog der diskussionslosen Geschlossenheit
Der zweite Grund, der Zweifel sät, liegt in der seit Jahren wachsenden faktischen Symbiose von CDU und SPD. Bei viele großen Themen ist kaum noch ein signifikanter inhaltlicher Unterschied der Volksparteien auszumachen. Offenbar haben sie ihren inhaltlichen Kompass verloren: Programmarbeit ist in den Parteien verpönt, sie gilt als überflüssiger Luxus in einer hochtourigen, hyper-mediatisierten Welt. Dabei hat eine unveröffentlichte Studie zum Thema “Mehrheitsoptionen für linke Politik” ergeben: Mehr als drei Viertel der Befragten sehen zwischen CDU und SPD nur “geringe oder keine inhaltlichen Unterschiede.” Programmarbeit ist kein Luxus. Programmarbeit ist für Parteien auf Dauer überlebenswichtig.
Denn mangelnde Trennschärfe entkernt die Politik, macht sie austauschbar, prinzipienlos, verwirrend. Und solange Parteien diese Konflikte wegmoderieren oder sich dem Sog der “diskussionslosen Geschlossenheit” ergeben, solange mehren sich die verachtenden Überreaktionen.
Die Parteien haben ein Legitimationsproblem
Verschärft werden diese beiden Tendenzen durch ein drittes Tabu: Die Parteien haben ein sehr ernsthaftes Repräsentations-Defizit. Denn die schwindenden Mitglieder- und Aktivenzahlen bringen ein schwerwiegendes Legitimationsproblem mit sich. Das stellt ihren verfassungsrechtlichen Auftrag in Frage.
Einfach gesagt: Diejenigen auf dem Sonnendeck der Gesellschaft – wie etwa Erben oder Spitzenverdiener – haben noch ihre Ansprechpartner, ihre Lobby-Schattenmanager und Lautsprecher in der Politik. Aber im Maschinenraum der Gesellschaft – unten im Niedriglohnsektor, der fast ein Viertel der Beschäftigten ausmacht, bei den Leiharbeitern, Minijobbern und Langzeitarbeitslosen – dort sieht es düster aus.
Krisenbewältigung beginnt mit Krisenerkennung. Es ist höchste Zeit, die Politik wieder zu politisieren und die Parlamente wieder zu parlamentarisieren. Und dann werden auch der Hohn und Spott und Verachtung wieder erträglich.
Anm. d. Red.: Wir danken für die freundliche Genehmigung der Übernahme durch den Autor. Der Text ist zuerst bei Deutschlandfunk erschienen.
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