Mörlenbach/Rhein-Neckar, 05. September 2018. (red/pro) Zwei Kinder (10 und 13 Jahre alt) sind tot. Mutmaßlich getötet durch die eigenen Eltern, die in Untersuchungshaft sitzen. Tatort ist vermutlich das Elternhaus. Was genau wie und warum geschehen ist, ist noch vollständig unklar. Es gibt Hinweise auf erhebliche finanzielle Schwierigkeiten der Eltern. Hier könnte das Tatmotiv zu finden sein. Es stellt sich die Frage, welche Informationen öffentlich relevant sind und welche nicht.
Kommentar: Hardy Prothmann
Es ist mutmaßlich ein Doppelmord begangen worden. Nicht durch Berufsmörder, nicht durch kriminelle Räuber, nicht in der “Szene” und auch nicht durch Asylbewerber.
Die mutmaßlichen Mörder der 10 und 13 Jahre alten Kinder, so legen es die Umstände nahe, sind die eigenen Eltern, die sich mutmaßlich selbst durch eine Abgasvergiftung in der Garage des Familiensitzes selbst töten wollten.
Ob beide Eltern tatbeteiligt waren – niemand weiß es bislang. Die Behörden äußern sich richtigerweise nicht, weil die Tatumstände “Täterwissen” sind und jede Information zu viel die Ermittlungen erheblich beeinträchtigen könnte. Beide können die mutmaßlichen Mörder sein, es kann aber auch nur einer von beiden Elternteilen sein – es kommt auf exakte Ermittlungen an, um die jeweilige Schuld zweifelsfrei feststellen zu können und dann gerecht durch Urteil zu bestrafen.
Selbstverständlich habe ich zur Sache recherchiert und wie so häufig verfüge ich über ein nicht-öffentliches Wissen. Muss ich das öffentlich machen? Diese Frage ist jedes Mal aufs Neue eine der Abwägung. Was ist öffentlich relevant, was nicht? Was könnte Ermittlungen gefährden, was unterstützen?
(Zuletzt hatte ich im Fall der “Pizzaboten-Räuber” in Mannheim-Sandhofen detaillierte Informationen, die ich nicht berichtet habe, um einen Ermittlungserfolg der Polizei nicht zu gefährden. Die Polizei hat mich nicht an einer Veröffentlichung gehindert, aber darum gebeten, “die Füße still zu halten”. Dem bin ich nachgekommen, weil der Ermittlungserfolg für mich in der Abwägung wichtiger war, als eine exklusive Story.)
Andere Medien berichten über sehr einfach zu recherchierende Informationen, beispielsweise, wo die Kinder zur Schule gingen. Muss man das berichten? Ich meine nicht, denn mit dieser Information wird der Name der Schule und werden alle Mitschüler und Lehrer und die Eltern der Schüler “in die Berichterstattung” hineingezogen. Was bitte, ist öffentlich daran interessant, wo die Kinder zur Schule gingen? Ich meine: Nichts.
Das Fehlen der Kinder wird in der Schule bemerkt werden. Ganz sicher sind dadurch sehr viele Menschen, die allermeisten Kinder, bedrückt bis entsetzt. Doch muss man das öffentlich machen? Warum? Um sich am Entsetzen Vieler zu laben?
Es besteht zwischen der Mordtat, deren Opfer die Kinder wurden und der Schule keinerlei relevanter Zusammenhang. Diese Information ist so sinnlos wie eine mögliche Vereinszugehörigkeit oder Angaben zu den Kuscheltieren der Kinder. Es ist bezeichnend, dass sich die Schule per Mitteilung zur Stellungnahme gezwungen sah.
Der Mordfall von Mörlenbach eignet sich nicht für eine breite öffentliche Information und eine ebensolche Debatte. Hoppla – mache ich diesen Mordfall mit diesem Beitrag nicht gerade selbst dazu? Gezwungenermaßen ja. Das RNB ist das einzige Medium der Region und darüber hinaus, dass sich offenbar dieser Frage stellt: Was ist eine öffentlich relevante Information und was nicht?
Die Tat geschah nicht im öffentlichen Raum und es gibt bislang keine soliden Hinweise, dass hier ein Missstand vorliegt, der von öffentlicher Relevanz ist. Es ist zwar ein Kriminalfall, aber es geht nicht um das, was man gemeinhin unter “Kriminalität” versteht. Es ist ein tragischer Fall, weil zwei Kinder sterben mussten, aber es gibt dazu keinerlei öffentlichen Bezug – bislang. Und solange es diesen nicht gibt, wäre es von Vorteil, wenn Medien sehr sorgfältig abwägen würden, was wirklich öffentlich relevant zu wissen ist und was nicht.
Eine gewisse öffentliche Relevanz gibt es durch den Beruf der Eltern – sie waren Ärzte und Ärzte sind bedingt öffentlich relevant, weil mit ihrer Arbeit die Sorge um Gesundheit verbunden ist, die alle Menschen umtreibt und als Patienten zumindest eine möglicherweise nicht unerhebliche Teilöffentlichkeit. Weiter genießt der Berufsstand erhebliche Anerkennung. Und drittens ist der Vater Ende 2016 als insolvent erklärt worden – amtlich durch das Amtsgericht Mannheim. Dabei handelt es sich um eine öffentlich-relevante Information, was das RNB deshalb auch berichtet hat.
Sind weitere Details aus dem Privatleben des Ehepaars von öffentlichem Belang? Über ihr Verhalten, ihre Vorlieben, ihre Neigungen? Das kann sein, das muss aber nicht so sein. Dies muss man abwägen, wenn man ordentlichen Journalismus und keine Boulevardpresse betreiben will.
Vor allem stellt sich die Frage, was ist ursächlich relevant in Beziehung zum Mordfall? Und was davon muss vor einem ordentlichen Prozess an die Öffentlichkeit?
Es erschüttert mich immer wieder, mit welcher Sensationsgeilheit die heutige Medienlandschaft ausgestattet ist. Da gibt es kaum noch Abwägungen, sondern nur noch Frontalberichterstattung ohne Rücksicht auf Verluste. Der Rechtsgrundsatz “in dubio pro reo” spielt so gut wie keine Rolle mehr – die Anschuldigung oder allein der Verdacht sind meist schon das öffentliche Urteil. Und das ist grundlegend falsch.
Zudem gilt es zu beachten, dass zwei minderjährige Kinder Opfer wurden. Auch Tote haben Rechte und Kinder umso mehr. Jedes Detail, insbesondere, wenn es “schmutzig” wird, wird sich möglicherweise auch auf die Erinnerung und die Achtung vor diesen Opfern auswirken. Muss das sein? Diese Frage ist entscheidend, aber sie wird leider fast nicht mehr gestellt.
Es gibt im heutigen Journalismus ein erkennbar falsches Berufsverständnis. Was recherchiert wird, wird häufig auch rausgeblasen. Das ist grundlegend falsch. Recherche bedeutet nicht, dass die Ergebnisse zur Veröffentlichung frei sind. Recherche sammelt Informationen. Danach sollte die Analyse, Einordnung und Bewertung stehen und danach stellt sich die Frage: Was ist öffentlich relevant?
Kritik an Behörden kann man immer dann üben, wenn diese notwendig ist. Aktuell ist der Tod der Kinder gerade mal ein paar Tage her, die Tatverdächtigen äußern sich offenbar bislang nicht – die Behörden brauchen Zeit für eine ordentliche Recherche, Ermittlung genannt, ebenso für Analyse, Einordnung und Bewertung. Und dann die verantwortliche Entscheidung – welche Informationen sind davon öffentlich relevant und welche nicht? Viele Journalisten haben vor dieser sehr verantwortlichen Arbeit überhaupt keinen Respekt mehr.
Vor allem gibt es keine Empathie – denkt ein Journalist daran, wie das ist, wenn die Rettungskräfte, die Polizei, die Spurensicherung vor toten Kindern steht und was in diesen Menschen vorgeht? Sie sind, wenn sie nicht vollständig ausgebrannt sind, natürlich direkter betroffen als jede Öffentlichkeit. Sie müssen trotzdem eine sehr verantwortungsvolle Arbeit leisten, Spuren sichern, dürfen sich eigentlich keine Gefühle leisten – aber es sind keine Roboter. Das ist bei jedem mit Sicherheit ein innerer Kampf zwischen Emotion und Pflicht.
Macht es einen Unterschied, ob man Montag oder Freitag die “genaue Todesursache” erfährt? Eher nicht. Außer, man will “Erster” sein und alles andere ist egal. Aber leisten Medien, die “Erster” sind, eine gute Arbeit oder gieren sie nur nach Aufmerksamkeit? Natürlich ist das Geschäftsmodell von Medien auch Aufmerksamkeit – aber zu welchem Preis?
Richtiggehend pervers wird es, wenn Medien titeln: “So grausig lief die Tag ab”, statt: “Der Tathergang”. Die eine Überschrift ist geschürte Sensationslust, die andere “langweilig” nüchtern.
Leider, auch das ist festzustellen, bekommen die sensationslüsternen Medien meist mehr Aufmerksamkeit als die nüchternen. Und seltsamerweise gibt es viel mehr Menschen, die sich über die Sensationslust der Medien aufregen als solche, die nüchterne Medien bevorzugen. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, zu welchem Typ Mediennutzer Sie selbst gehören?
Ich finde es aktuell erschütternd, wie “geil” viele Medien danach gieren, “grausame Details” zu erfahren, gerne garniert mit irgendwelchen privaten Informationen – kein Gedanke mehr an die toten Kinder, die werden bei Bedarf als “Opfer” beigemischt, um die Boulevardsoße so richtig durchzurühren. Tatsächlich stelle ich fest, dass solchen Medien die Kinder und deren Tod vollständig egal sind. Sie sehen nur eine “Emo-Story”, die die Menschen sicher erschüttern wird und je besser das gelingt, umso erfolgreicher fühlt man sich in diesen “Journalistenkreisen”.
Ich würde mir wünschen, dass mein Artikel dazu beiträgt, mal über diese üblen Mechanismen nachzudenken – damit meine ich nicht die benannten Journalisten, die lernen das vermutlich nicht mehr, sondern die Leser/innen. Jede Aufmerksamkeit, die man diesem üblen Sensationssystem schenkt, hält es nicht nur am Leben, sondern füttert es.
Und wenn Sie bei mir sind, dann macht Sie mein Text nachdenklich.
Das RNB behält den Fall im Blick. Wir recherchieren dazu und wir bieten dann Informationen an, wenn wir diese als relevant ansehen. Ganz sicher veröffentlichen wir viele Informationen nicht – das heißt, wir haben wie so häufig erheblich viel Arbeit, die aber nie das “Licht der Öffentlichkeit” erblickt.
Aktuell ist für mich der Stand der Dinge, dass zwei Kinder tot sind und ich das zwar erschütternd finde, aber auch den nötigen Respekt aufbringe, nicht täglich für eine neue Folge einer Soap zu sorgen. Für den Lebenswandel und die Probleme der Eltern können diese Kinder genau nichts. Sie wurden Opfer von was auch immer. Ihr tragisches Schicksal eignet sich nicht für eine tägliche Sensationsmeldung.