Mannheim/Rhein-Neckar, 06. August 2015. (red/ms) Die Gewalt gegen Polizeibeamte nimmt seit Jahren zu. In gewissen Kreisen gilt „die Polizei“ regelrecht als Feindbild. Auch das Polizeipräsidium Mannheim ist davon betroffen: In den vergangenen fünf Jahren hat die Anzahl der Straftaten gegen Polizeibeamte um fast 30 Prozent zugenommen. Das ist eine Schande, findet Dr. Boris Weirauch (SPD). Der promovierte Jurist bemängelt im Interview einen Werteverfall und Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Institutionen.
Interview: Minh Schredle
Die Gewalt gegenüber Polizeibeamten nimmt landesweit zu. Innenminister Reinhold Gall (SPD) hat inzwischen zugesagt, bestimmte Einheiten künftig mit besseren Schutzwesten auszurüsten. Ist das eine Lösung?
Dr. Boris Weirauch: Ich denke nicht, dass wir allein dadurch alle Probleme in den Griff bekommen. Sicher ist es eine Verbesserung. Aber das wird nicht ausreichen.
Warum nicht?
Weirauch: Bessere Schutzwesten bekämpfen nicht die Ursachen. Die liegen viel tiefer, glaube ich: Es gibt einen Werteverfall in der Gesellschaft und die Menschen haben immer weniger Vertrauen und Respekt gegenüber öffentlichen Institutionen. Das betrifft nicht nur die Polizei, sondern auch die Politik, Gerichte, Behörden, die Medien und sogar die Rettungsdienste.
„Früher galt die Polizei noch als Freund und Helfer“
Und das ist nicht gerechtfertigt?
Weirauch: In meiner Kindheit galt die Polizei noch als dein Freund und Helfer. Und die allermeisten, die sich für den Polizeiberuf entscheiden, sind das ganz sicher immer noch – oft werden sie leider nicht mehr so wahrgenommen. Es ist menschlich, Fehler zu machen. Daher ist es nur logisch, dass es zu Versäumnissen kommt und Verbesserungspotenzial gibt es immer. Aber viel zu häufig werden Einzelfälle dramatisiert und als Regel dargestellt. Wenn es beispielsweise zu übertriebener Härte bei Polizeieinsätzen kommt, muss das natürlich verfolgt und verurteilt werden. Aber nur weil ein paar Polizisten mit einer Situation überfordert sind und die falschen Mittel anwenden, sind doch nicht alle Polizisten schlechte Menschen. Man muss sich das mal vor Augen führen: Da kämpfen Menschen unter Einsatz ihres Lebens für unsere Sicherheit und werden dann noch bespuckt, beleidigt und angegriffen. Meinen größten Respekt, an alle, die den Job trotzdem machen.
Wie machen sich diese Probleme in Mannheim bemerkbar?
Weirauch: Ein trauriges Beispiel ist der Vorfall vom vergangenen September, als ein Mann vor der H4-Wache in der Innenstadt erstochen wurde. Da lässt ein Polizist alle Sicherheitsmaßnahmen fahren und springt sogar ohne Schutzweste aus dem Fenster, um irgendwie zu helfen – und anschließend wird die Polizei öffentlich an den Pranger gestellt und es wird behauptet, die Polizei hätte das verhindern können und müssen. Manche unterstellen sogar, die Polizei hat absichtlich zugesehen. Das ist eine Schande.
30 Prozent mehr Übergriffe
Wie beurteilen Sie die Entwicklungen in Mannheim?
Weirauch: Das Polizeipräsidium Mannheim verzeichnet in der jungen Vergangenheit einen Rückgang, was die Anzahl von Straftaten und vor allem Gewaltverbrechen angeht. Die Delikte gegen Polizisten haben dagegen in den vergangenen fünf Jahren um beinahe 30 Prozent zugenommen. Mehrere Beamte mussten im vergangenen Jahr sogar verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Das macht deutlich: Hier gibt es eine bedenkliche Entwicklung.
Und was können Sie konkret dagegen tun?
Weirauch: Als Stadtrat alleine leider nur wenig. Schließlich ist das eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Deswegen liegt mir viel daran, diese Missstände zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte zu machen. Dann kann man gemeinsam nach Lösungen suchen.
Sie sprechen sich offen für eine Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten aus. Die CDU lehnt das ab und befürchtet, das würde nur das Misstrauen zwischen Beamten und Bevölkerung
weiter schüren. Sehen Sie das auch so?
Weirauch: Nein. Ich denke nicht, dass das Vertrauen darunter leiden wird. Im Gegenteil: Es ist ein wichtiges Signal der Politik an die Bürgerinnen und Bürger: Es gibt Einzelfälle, in denen Polizeieinsätze unverhältnismäßig sind – und wir tun alles dafür, diese aufzuklären und angemessen zu ahnden.
„Ich befürworte gewaltfreie Lösungen“
Welche Probleme sind denkbar, wenn Beamte gekennzeichnet werden?
Weirauch: Die Persönlichkeitsrechte der Beamten müssen unbedingt geschützt werden. Es darf nicht sein, dass Beamte mit ihren Klarnamen und der Bezeichnung ihrer Dienststelle auf dem Revers herumrennen müssen. Das wird es mit mir nicht geben. Stellen Sie sich nur einmal vor, wozu das führen könnte, wenn es beispielsweise auf einer Demonstration zu einer Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen kommt – und die Polizisten anschließend verfolgt werden. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass die Kennzeichnung über Buchstaben oder Zahlencodes erfolgt. Dann können Beamte über ein nicht-öffentliches Register identifiziert werden, wenn es Beschwerden gibt.
Sollte die Polizei überhaupt Gewalt anwenden?
Weirauch: Grundsätzlich bin ich ein großer Befürworter von Deeskalation und gewaltfreien Lösungen. Aber in manchen Extremsituationen kann es sinnvoll sein, entschieden einzuschreiten, um größere Schäden zu vermeiden. Manchmal ist das nötig, um Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das ist ja im Prinzip der Grundgedanke, warum es überhaupt Staaten gibt: Die Individuen geben einen Teil ihrer Autonomie an den Staat ab, um geschützt zu werden. Dazu gehört eben auch, dass sie das Gewaltmonopol an staatliche Institutionen übertragen.
Man sollte also seine Freiheit zu Gunsten von Sicherheit aufgeben?
Weirauch: Für mich ist das eine ganz zentrale, entscheidende Grundsatzfrage der Politik: Wie lassen sich Sicherheit und Freiheit miteinander vereinbaren? Und ich vertrete hier einen sehr liberalen Ansatz: Was nutzt einem eine totale Sicherheit, wenn man dafür seine Freiheit vollständig verliert?
„Überwachung muss die Ausnahme bleiben“
Vor diesem Hintergrund: Wie stehen Sie zur Video-Überwachung im öffentlichen Raum?
Weirauch: Es ist höchst umstritten, ob Kameras tatsächlich Kriminalität verhindern. Meistens helfen sie nur bei der Aufklärung. Außerdem zeigen verschiedene Studien, dass sich Verhalten verändert, während sich jemand beobachtet fühlt. Das steht für mich im Widerspruch zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, wie sie im Grundgesetz verankert ist. Deswegen stehe ich der Video-Überwachung im öffentlichen Raum sehr kritisch gegenüber. In Einzelfällen gibt es gute Argumente dafür, wie an Bahnhöfen oder ähnlichen Knotenpunkten. Wenn es Kriminalitätsschwerpunkte mit einer Häufung von Gewaltverbrechen entstehen, kann man gerne mit mir diskutieren. Aber das muss die Ausnahme bleiben. Ich wünsche mir ganz sicher keine englischen Verhältnisse. Menschen brauchen Privatsphäre.
Auch Polizeipräsident Thomas Köber setzt stark auf Deeskalation. Vor allem bei Einsätzen, bei denen es brenzlig werden könnte, setzt er meistens mehrere Hundertschaften ein, um die verfeindeten Lager von einander zu trennen. Aus verschiedenen linksradikalen Kreisen muss sich die Polizei deswegen anhören lassen, sie diene als „Schutzwall für den rechten Mob“.
Weirauch: So etwas macht mich sauer. Es gibt in Deutschland den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Versammlungsfreiheit – und das ist ein hohes Gut. Es ist ganz eindeutig die Aufgabe der Polizei, diese Versammlungsfreiheit zu gewährleisten und durchzusetzen.
„Polizisten setzen unsere Grundrechte durch“
Und das gilt auch für Nazis?
Weirauch: Wenn sich jemand im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Rechte versammelt und nicht gegen das Versammlungsgesetz verstößt, dann muss die Polizei dafür sorgen, dass Demonstranten ihre grundgesetzlichen Freiheiten wahrnehmen können muss – unabhängig von der politischen Farbe. So lange eine Partei wie die NPD nicht verboten ist, dann hat sie grundsätzlich die gleichen Rechte, wie alle anderen zugelassenen Parteien. Und dazu gehört eben auch, sich zu versammeln. Das muss man politisch nicht gutheißen und das tue ich auch nicht. Aber ich kann doch nicht Polizisten, die hier grundrechtliche Freiheiten durchsetzen, den Vorwurf machen, sie würden als Schutzwall für Faschisten dienen. Das ist doch absurd.
Es gibt also keine Nähe zwischen Polizisten und Nazis?
Weirauch: Ich kenne viele Polizisten persönlich und habe gute Kontakte zur Mannheimer Polizei. Alle, die ich kennengelernt habe, würden alles andere lieber tun, als eine NPD-Demo zu schützen. Keiner von ihnen sagt: „Spitze, es ist Wochenende und ich soll durchsetzen, dass Nazis demonstrieren dürfen.“ Aber auch das gehört nunmal zu ihrem Beruf. Ihnen deswegen einen Vorwurf zu machen, ist unverschämt. Denn häufig überwinden hier Beamte ihren eigenen Überzeugungen, um Grundrechte zu gewährleisten. Und so lange die NPD nicht verboten ist, müssen der Rechtsstaat und die Demokratie sie aushalten. Das ist bitter – aber auch das gehört zur Meinungsfreiheit.
„Der Rechtsstaat bietet ausreichend Mittel“
Darf Meinungsfreiheit grenzenlos sein? Sollte sie auch Extremisten schützen?
Weirauch: Das sicher nicht. Aber es wird richtig schwierig, wenn man bestimmen will, wer demonstrieren darf und wer nicht. Aus juristischer Sicht kann nicht zwischen „guten“ und „schlechten“ Demonstranten unterschieden werden. Was passiert sonst, wenn der Wind sich dreht? Vielleicht sind dann irgendwann die „Guten“ plötzlich die „Schlechten“. Ich will keine politische Justiz. Auch das hatten wir schon einmal. Und die Folgen waren katastrophal.
Was kann man dann gegen rechte Gesinnungen unternehmen?
Weirauch: Unser Staat bietet genügend Mittel, sich im Rahmen der Gesetze gegen rechtsradikale Umtriebe zur Wehr zu setzen. Sollen die Rechten doch demonstrieren. Meistens ist das ein erbärmlicher Haufen von fünf, sechs Leuten. Denen stehen dann in der Regel mehrere hundert Menschen gegenüber, die sie niederbrüllen. Das ist ein deutliches und starkes Zeichen für Widerstand und Protest. Gewalt ist aber sicher keine Lösung – sonst inszenieren sich die Rechtsradikalen noch als Märtyrer. Da halte ich es für viel effektiver, wenn ein breites gesellschaftliches Bündnis von der CDU bis ganz nach links geschlossen auftritt, um ganz eindeutig klar zu machen: Die Mehrheit lehnt Fremdenfeindlichkeit ab und steht für Offenheit und Toleranz.
Und wenn es trotzdem zu Ausschreitungen kommt?
Weirauch: Ich halte es für falsch, ganze Gruppen für das Fehlverhalten einzelner Mitglieder verantwortlich zu machen. Trotzdem sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass sich Gruppen von der Gewaltausübung ihrer Mitglieder deutlich distanzieren.
Zur Person: Dr. Boris Weirauch (38) ist seit 2009 Stadtrat für die SPD. Bei den bevorstehenden Landtagswahlen wird er als Kandidat für den Mannheimer Süden antreten. Im Gemeinderat ist er der Sprecher für Sicherheit, Ordnung und Verkehr. Beruflich ist der promovierte Jurist seit 2007 als Rechtsanwalt tätig. Er ist mit der SPD-Stadträtin Lena Kamrad verheiratet, gemeinsam haben sie drei kleine Kinder. |