Rhein-Neckar, 06. Oktober 2014. (red/pro) „Tod vor Lampedusa“ ist ein Film, der versucht, die Hintergründe von Flüchtlingen aus Eritrea zu dokumentieren. Kann man das? Bedingt. Denn die Bedingungen für die Flucht und auf der Flucht sind unvorstellbar. Die Bilder machen betroffen. Es gelingen viele Szenen, die den Horror erahnen lassen, dem sich Flüchtlinge aussetzen müssen. Die Dokumentation ist sehenswert, weil sie eine Ahnung davon vermittelt, dass Menschen ihre Heimat fliehen, um endlich ohne Angst leben zu können. Viele sterben und die Angst, die sie fliehen wollten, begleitet ihr Leben trotzdem weiter.
Von Hardy Prothmann
Eritrea ist ein Polizeistaat und insofern herrscht dort die Angst. Und die wird natürlich nach außen hin gar nicht gezeigt. Wir kennen das ja auch aus unseren eigenen Erinnerungen und unserer eigenen Geschichte, die Nazis oder später der Stasi-Staat DDR, in dem auf der Straße auch nicht unbedingt Leute gesehen hat, die gesenkten Hauptes einhergelaufen sind, sondern die Leute versuchen schon, sich möglichst neutral zu benehmen, damit sie nicht negativ auffallen. Aber jeder, der irgendwie ausschert, jeder seine Meinung sagt, der vielleicht ein Blog schreibt, der einfach sagt, Neuwahlen wären vielleicht auch keine schlechte Idee – dieser Mensch spielt mit seinem Leben.
Was Wenzel Michalsky von Human’s Right Watch beschreibt, ist unfassbar, aber real. Eritrea ist eine Diktatur. Menschenverachtend. Knallhart. Die Angst ist hier Lebensbegleiter. Oberflächlich betrachtet könnte man sich täuschen lassen. Wer hinguckt, wie im ARD-Film „Tod vor Lampedusa“, stellt fest, dass die Bedrohung wie ein Krebs in der Gesellschaft frisst.
Die Menschen fliehen. Einer ist Dawit. Seine Geschichte wird erzählt. Und andere. Er ist geflohen. Hat die Flucht bereut – zu oft war er fast tot auf dieser Reise. Ist es dann nicht besser, zuhause zu sterben? Die Menschen reden über die Angst vor der Flucht. Keiner redet darüber, wenn er flüchten will. Zu viele Spitzel. Was passiert mit den Angehörigen? Der Film zeigt Grenzerfahrungen, die man sich hier in Europa nicht vorstellen kann.
Wegen Geld nimmt kein Mensch diese Gefahr auf sich
Ein paar tausend Dollar, eine ungewisse Zukunft. Warum verlässt man das Land? Dawit will frei sein. Der Film kontrastiert Szenen vor Ort mit Szenen in Deutschland – die Welten könnten nicht unterschiedlicher sein. Dawit und andere werden bedroht – sie müssen zum Militär, wer nicht spurt, wird bedroht, auch die Familie. Sippenhaft. Männer verlassen ihre Familie. Frauen weinen. Männer schämen sich. Nichts ist verbindlich. Es gibt keinen Trost. Viele sterben auf der Flucht. Es bleiben noch nicht mal Leichen, die man begraben kann.
Auf der Flucht drohen Folter und Menschenhandel. Familien werden erpresst. Es ist eine Handelsgeschichte der Angst. Angst zuhause. Angst auf der Flucht. Angst bei den Angehörigen. Am Ende sterben viele auf dem Meer, wie am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa. Fast 400 Menschen finden den Tod.
Dawit hat überlebt. Irgendwie. Bimnet nicht. Und die Handelsgeschichte geht weiter. Wie kommen Angehörige an die Leiche, um sie dort zu bestatten, wo sie das möchten?
Ein anderer Flüchtling dokumentiert per Handy Szenen der Flucht. Erzählt, wie er zum Räuber wurde, um zu überleben. Die meisten haben nur, was sie am Leibe tragen. Und es gibt Flüchtlinge und Flüchtlinge. Wenn man Christ ist, hat man größere Probleme, als wenn man Moslem ist. Wenn man aus Eritrea ist, ist man in Libyen Freiwild.
Brutale Zustände
Und wenn man eine Frau ist, sind Missbrauch, Vergewaltigung und Folter fast „normal“. Niemand weiß, wie viele Frauen Opfer werden – die Zustände in den Lagern und Gefängnissen sind brutal.
Es ist ein abgekartetes Spiel. Viele verlieren ihr Leben. Fast alle die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben.
Der Film von Ellen Trapp und Natalie Amiri thematisiert die vielfältigen Aspekte, die zur Flucht führen. Die unmenschlichen Bedingungen. Das Geschäft mit der Flucht. Die auswegslose Schicksalhaftigkeit, die für viele im Tod auf dem Meer endet – wenn sie denn die Reise zuvor überlebt haben.
„Es ist eine Schande“, sagt am Anfang des Films Papst Franziskus. Es wird nicht besser. Die Schande Europas ist eine, die spätestens vor einem Jahr mit dem Tod der vielen hundert ertrunkenen Flüchtlinge nicht mehr wegzudiskutieren ist.
Die europäischen Länder sehen häufig nur das „Problem“, die Flüchtlinge im eigenen Land – nicht aber, warum diese Menschen ihre Heimaten fliehen.
Eritrea ist eine Diktatur – in Syrien und im Nordirak bedroht eine Mörderbande namens Islamischer Staat die Menschen. Deren Geschichten erzählt kein Reporter – zu gefährlich, zu tödlich.
Warum ein solcher Film erst gezeigt wird, wenn viele Menschen schon im Bett sind, weiß allein die Programmplanung der ARD.
Das Erste, 6. Oktober 2014, 22:45 Uhr.
Pressetext SWR:
„In der Nacht zum 4. Oktober 2013 kenterte vor der Küste der kleinen italienischen Insel Lampedusa ein Boot mit über 540 Flüchtlingen auf dem Weg von Afrika nach Europa. Mehr als 380 ertranken, so viele wie noch nie zuvor. Papst Franziskus sprach aus, was Millionen erschütterter Menschen dachten: „Es ist eine Schande“. Denn die Europäer schauen zumeist weg, schotten sich ab, wollen vom Schicksal dieser Flüchtlinge nichts wissen. Die Autorinnen Ellen Trapp und Natalie Amiri haben den Weg dieser Flüchtlinge nachgezeichnet, zu sehen in der SWR-Dokumentation „Tod vor Lampedusa. Europas Sündenfall“ am 6. Oktober 2014 in der „Story im Ersten“.
Wer waren diese Menschen, die diese gefährliche Reise auf sich genommen haben? Und warum haben sie ihre Heimat verlassen? In Wiesbaden fanden die Autorinnen einen Überlebenden jener Nacht: Dawit, einen jungen Mann, der es nach jahrelanger Flucht durch Nordafrika auf jenes Flüchtlingsboot für die Fahrt über das Mittelmeer geschafft hatte. Er war unterwegs mit seinem Freund Bimnet, der in jener Nacht vor Lampedusa gestorben ist. Der SWR-Film „Tod vor Lampedusa. Europas Sündenfall“ verfolgt die Spur ihrer Flucht: Eritrea, Sudan, Libyen. Die Reporterinnen besuchten Verwandte, Freunde, Schicksalsgenossen. Im Laufe des Films werden so das ganze Drama, das Leid, die Angst, die Gefahr, die Verzweiflung, die Gründe für die Flucht nachfühlbar. Was Dawit und Bimnet stets vorantrieb: die Hoffnung. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, jenseits von Verfolgung und Folter.
Der Film ist ein erschütterndes Dokument für das Leiden von Menschen, die nicht im Fokus des Nachrichtengeschäfts stehen. Und ein erschütternder Beleg dafür, mit wie viel Zynismus die Europäische Union ihre Abschottungspolitik betreibt. Doch immerhin: Seit jener Nacht hat ein Umdenken stattgefunden. Flüchtlinge werden inzwischen gerettet, wenn sie unterzugehen drohen. Aber noch immer sterben Menschen auf der abenteuerlichen Überfahrt.
Sprecher des Films sind die Schauspieler Ulrike Folkerts und Benno Fürmann.“