Mannheim, 06. Februar 2015. (red/ms) Wenn man den zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen Mehmet C. in nur einem Wort beschreiben sollte, wäre „absurd“ sicherlich eine gute Wahl. Dem Mann wird versuchter Totschlag vorgeworfen. Die Zeugen übertrumpfen sich gegenseitig mit unglaubwürdigen Aussagen und der Oberstaatsanwalt weist den vorsitzenden Richter wegen Respektlosigkeit zurecht, nachdem dieser Zeugen anbrüllt und sie als „hirnlos“ bezeichnet.
Von Minh Schredle
Ein Zeuge spricht von „locker 500 Leuten“, die an der Schlägerei beteiligt gewesen sind. Aus einem Augenzeuge wurde ein Ohrenzeuge: Bei der Polizei hatte er noch ausgesagt, er habe einen Schützen „sieben, acht mal wahllos auf Menschen schießen sehen“. Vor Gericht wurde daraus: „Ich war in meiner Wohnung und habe laute Geräusche gehört.“
Das ist kein Einzelfall. Viele Aussagen haben im Grunde gar nichts mehr mit dem zu tun, was die Zeugen bei den ersten Vernehmungen bei der Polzei erzählt haben. An die wirklich entscheidenden Aspekte wollen sich die Zeugen angeblich nicht erinnern können. Es ist beinahe so, als litten sie unter einem kollektiven Gedächtnisschwund.
Schockzustand beeinträchtigt Wahrnehmung
Gerne werden die abweichenden Aussagen auch auf einen „Schockzustand“ geschoben – der muss die Wahrnehmungen in einem ganz erheblichen Ausmaß beeinflusst haben. Etwa, dass man nur einen Schuss von mindestens vier Schüssen gehört habe, obwohl man keine 200 Meter entfernt war, wie einer der Zeugen behauptet. Einer der Lieblingssätze:
Das habe ich nicht wahrgenommen.
Ein Zeuge wurde nach der Schlägerei ins Krankenhaus eingeliefert, wo er angab, es sei vermutlich von zwei Schüssen einer Gaspistole getroffen worden. Einmal in die Hand, einmal ins Bein. Tatsächlich ist er aber nur mit dem Fuß umgeknickt und erlitt eine Panikattacke, als die Schüsse gefallen sind.
Aberwitzige Menge an Unfug
Ein weiterer Zeuge sticht heraus durch die aberwitzige Menge an Unfug und Widersprüchlichem, die er von sich gegeben hat. Er behauptet, er sei von der Arbeit gekommen und habe sich gerade Zigaretten kaufen wollen, als plötzlich ein Mann um die Ecke gerannt sein soll, der auf ihn geschossen habe. Dabei ist der Zeuge sich ganz sicher, dass der Schütze auf ihn gezielt hat.
Bei der Polizei sagte der Zeuge aus, er sei vollkommen ausgerastet, weil sein 12-jähriger Sohn neben ihm gestanden habe. Vor Gericht sagte er, sein Sohn habe sich vorher entfernt, um mit Freunden Playstation zu spielen.
Der Sohn gab wiederum bei der Polizei an, er habe beim ersten Schuss noch direkt neben seinem Vater gestanden. Als der Vater das vorgehalten bekommt, sagt er plötzlich, er habe keine Erinnerung mehr daran, wann sein Sohn sich wo befunden hat und man solle diesen am besten selbst fragen. „Ich habe nicht wahrgenommen, wie mein Sohn sich entfernt hat.“
Hat der Schütze blind gezielt?
Außerdem war bei der Polizei noch die Rede von zwei Schützen. Von keiner der beiden Personen habe er das Gesicht sehen können. Aber wie kann er mit Sicherheit sagen, dass der Schütze auf ihn gezielt habe, wenn er kein Gesicht sehen könnte? Haben die Angreifer zu Boden geschaut und blind gezielt?
Als er in den Zeugenstand berufen und gefragt wird, ob er mit dem Angeklagten verwandt ist, behauptet der gleiche Zeuge außerdem, er würde den Angeklagten heute zum ersten Mal in seinem Leben sehen.
Laut dem Polizeibericht habe aber eben dieser Zeuge den Angeklagten getreten, als Mehmet C. festgenommen wurde – die Zeugen dafür: Polizeibeamte. Gegen den Zeugen läuft wegen der Tritte ein Ermittlungsverfahren.
„Opfer“ widersprechen sich
Die Anklage geht davon aus, dass Mehmet C. mit einem seiner Schüsse eine Gruppe von unbeteiligten Personen gefährdet haben soll, die zum Tatzeitpunkt vor einem Kiosk standen, das durch einen der Schüsse beschädigt worden ist.
Die drei davon betroffenen Personen wurden allesamt dazu befragt – und erzählten komplett unterschiedliche Schilderungen. Ein und die selbe Person behauptete dabei sogar innerhalb wenigen Minunten einmal, der Angeklagte habe unvermittelt und ohne Vorwarnung auf ihn geschossen und das andere Mal, der Angeklagte habe zuerst eine Geste gemacht, die ihm verdeutlich hätte, dass er verschwinden solle.
Ist die Identifikation des Täters wichtiger als das eigene Leben?
Eine dieser Personen sagte, sie habe sofort hinter einem Auto Deckung gesucht, als sie hinter sich einen Schuss gehört hat. Den Schützen habe er daher nicht sehen können. Das verärgerte anscheinend den vorsitzenden Richter Dr. Ulrich Meinerzhagen.
Denn der behauptet geradezu vorwurfsvoll, er würde erst versuchen, den Täter zu identifizieren, bevor er Deckung suchen würde. Er gibt aber auch zu, noch nie in einer solchen Situation gewesen zu sein.
Kommunikationsprobleme
Die meisten Zeugen, die bislang angehört worden sind, waren türkischstämmig. Viele sprechen nur gebrochen Deutsch. Bei den Polizeivernehmungen waren dennoch keine Dolmetscher anwesend – und das führt dazu, dass sich Zeugen darauf berufen können, es habe „Missverständnisse“ in der Vernehmung gegeben, wenn sie nun vor Gericht etwas ganz anderes erzählen.
Missverständnisse gab es auch während der Verhandlung, denn oft passten Fragen und Antworten kein bisschen zusammen – trotz Dolmetscher. Richter Meinerzhagen war sichtlich gereizt, brüllte die Zeugen an und beleidgte sie zum Teil sogar.
Er unterstellte den Zeugen „bösartig“ auf seine Fragen zu antworten und bezeichnet einen sogar als „hirnlos“. Als dann noch das Handy eines Zeugen während der Verhandlung klingelte, rastete der Richter vollkommen aus, schlug mehrfach mit den Fäusten auf den Tisch und regte sich so sehr auf, dass er den Prozess für mehrere Minuten unterbrechen musste.
Staatsanwalt weist Richter zurück
Die Ausfälligkeiten von Herrn Meinerzhagen gingen schließlich sogar so weit, dass Oberstaatsanwalt Dr. Reinhard Hofmann den vorsitzenden Richter zurecht wies und sagte, die Art und Weise, wie er heute die Zeugen befragte, sei nicht gerade förderlich.
Insgesamt wurden am zweiten Verhandlungstag sechs verschiedene Zeugen angehört – der Erkenntnisgewinn ist gleich null. Anstatt zur Aufklärung des Falls beizutragen, sorgten die Befragungen eher für noch mehr Verwirrung und Zweifel.