Schriesheim/Rhein-Neckar, 06. September 2013. (red) Bei seinen öffentlichen Auftritten als baden-württembergischer Ministerpräsident schlüpft Wilfried Kretschmann allzu gerne in die Rolle des präsidialen Landesvaters und vertritt dabei häufig überparteiliche Positionen. Der 65-jährige Grünen-Politiker kann auch anders – das stellt er bei seinem Auftritt in Schriesheim unter Beweis. Es ist Wahlkampf und insbesondere der Wahlkreis Heidelberg/Weinheim eine besondere Herausforderung. Wird Dr. Franziska Brantner ihrem Konkurrenten Dr. Karl A. Lamers (CDU) Prozente wegnehmen können?
Von Ekart Kinkel
Vor 600 Besuchern präsentiert sich Kretschmann in der Mehrzweckhalle als hemdsärmeliger Wahlkämpfer und findet auch bei unpopulären Wahlkampfthemen klare Worte:
Die Haushaltssanierung wird Sie alle schmerzen.
Diese Ansage ist unmissverständlich. Die Sanierung eines überschuldeten Landeshaushalts, den man in einem schlimmen Zustand von der Vorgängerregierung übernommen habe, könne schlichtweg nicht ohne gravierende Einschnitte gestemmt werden.
Im Endspurt vor der Bundestagswahl am 22. September sucht Kretschmann bei seiner Wahlkampftour durchs Musterlände den Kontakt zu der Parteibasis und kämpft seit Wochen engagiert um jede Stimme. Die Krawatte hat der Ministerpräsident aus Spaichingen in Schriesheim erst gar nicht angezogen, auch sonst präsentiert er sich locker und aufgeschlossen.
Kretschmann fühlt sich pudelwohl
Beim direkten Dialog mit den Bürgern fühlt sich Kretschmann offenbar pudelwohl, er bleibt sympathisch und authentisch und lässt sich auch von der schwülen bis schwülstigen Atmosphäre in der gut besuchten Halle sowie den ausufernden Begrüßungsworten und den schier endlosen Darbietungen einer lokalen Cover-Combo nicht aus dem Konzept bringen.
Schrecksekunde wegen Trauerfall
Neben Kretschmann wirken der Landtagsabgeordnete Uli Sckerl und der Schriesheimer Bürgermeister Hansjörg Höfer angespannter. Eigentlich sollte das Trio die Bühne für die Bundestagskandidatin Dr. Franziska Brantner bereiten. Dann sorgte Uli Sckerl für eine Schrecksekunde:
Leider muss ich Euch eine traurige Nachricht überbringen…
Ein Raunen geht durch den Saal. Ist ihr etwas zugestoßen? Ihr nicht, aber der Vater ist gestorben. Die 600 Gäste zeigen sich betroffen. Jeder versteht, dass sie wegen des Trauerfalls den Wahlkampf unterbrechen musste.
Die Europaabgeordnete hat auf Platz neun der Landesliste beste Chancen auf den erstmaligen Einzug in den Bundestag. Doch spannend bleibt die Frage, wie viele Wähler die Frau des Tübingers Oberbürgermeister Boris Palmer im schwarz-konservativen Wahlkreis für ihre Partei mobilisieren kann.
Spannend ist das auch vor dem Hintergrund, dass Herr Palmer in der eigenen Partei nicht gerde gut gelitten ist, weil er sich offen für schwarz-grüne Koalitionen zeigt und als zu wenig basisdemokratisch gilt. Franziska Brantner gilt als wenig dogmatische, dafür umso fleißigere und ehrgeizige Profi-Politikerin. Viele trauen ihr höhere Weihen innerhalb der Grünen zu.
Ministerpräsident Kretschmann weiß, dass es hier an der Bergstraße kein leichtes Unterfangen sein wird, gegen starke Konkurrenz wie den CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Karl A. Lamers oder Entwicklungsminister Dirk Niebel von der FDP zu punkten. Andererseits haben die Grünen gerade hier in den vergangenen Kommunal- und Landtagswahlen über Landesdurchschnitt punkten können – Ergebnis einer harten Arbeit des Kreisverbans Bergstraße, der Ortsverbände und einem schier unermüdlichen Hans-Ulrich Sckerl.
Auf Bundesebene verlieren die Grünen bei den aktuellen Umfragen immer mehr an Boden und drohen unter die Zehn-Prozent-Hürde zu fallen, die sie erstmals bei der vergangenen Bundestagswahl 2009 reißen konnten.
Doch von Umfragewerten lässt die Galionsfigur der Landesgrünen nur wenig beeindrucken. Herr Kretschmann setzt auf den direkten Dialog, nimmt auch zu unbequemen Themen Stellung und hat an seinem Unwillen gegenüber Teilen des grünen Bundeswahlprogramms keinen Zweifel gelassen.
Die solide, pragmatische Ausstrahlung zieht bei den Menschen – vor allem in Nordbaden.
„Noch nicht das letzte Wort gesprochen“
Die von den Grünen im Wahlkampf angekündigten Steuererhöhungen seien wegen der Haushaltssanierungen auf Bundes- und auf Landesebene unabdingbar, so Kretschmann.
Eigentlich kein Thema für den Bundestagswahlkreis – aber der erbitterte Streit um die Zukunft der Manheimer Musikhochschule ist auch hier bekannt. Wie viele Studienplätze den angekündigten Sparmaßnahmen zum Opfer fallen könnten, darüber sei das letzte Wort noch lange nicht gesprochen, sagte Kretschmann mit Verweis auf die „mühselige Debatte“ mit der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Zwar würden „mit Sicherheit“ rund 500 der aktuell 3 300 Studienplätze an den Landesmusikhochschulen in Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, Stuttgart und Trossingen gestrichen werden, wo genau und in welchen Bereichen sei aber „noch völlig offen“.
Der Ministerpräsident holt den Bundestagswahlkampf auf Landesebene bis in die Kommunen herunter. Keine schlechte Strategie, denn Bundestthemen sind oft weit weg.
So auch das Top-Thema Gemeinschaftsschule: Herr Kretschmann macht klar, dass es beim bildungspolitischen Kurs der Landesregierung bleibt, die Ganztagsschulen seien aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und zur Förderung von Kindern aus bildungsferneren Schichten unausweichlich.
In zehn Jahren werden Gymnasium und Gemeinschaftsschule die beiden tragenden Säulen im Schulwesen sein,
prognostiziert Kretschmann mit Blick auf die schwindenden Schülerzahlen und das langsame Sterben von Haupt- und Werkrealschule. Es wird spannend werden zu sehen, was mehr bei den Wähler/innen zieht: Der Aufbruch durch die Reform oder der von CDU und FDP beschworene „Einbruch“ der Schulbildung.
Um nicht im Lagerwahlkampf zwischen CDU und SPD aufgerieben zu werden, verweist Kretschmann mit Nachdruck auf die ökologischen Wurzeln der Grünen. Beim Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem sozialdemokratischen Herausforderer Peer Steinbrück seien wichtige Themen wie Klimaschutz, nachhaltiges Wirtschaften oder Energiewende quasi ausgeklammert worden.
Diese Themen sind keine grüne Spielwiese, ob es uns gefällt oder nicht,
fordert Kretschmann, die müssten mit Inhalten besetzt werden und Deutschland müsse endlich die anvisierte Vorreiterrolle bei der Entwicklung regenerativer Energiekonzepte einnehmen. Wenn sich in Berlin die Ministerien stritten, wie der Ausstieg aus der Atomkraft umzusetzen sei, schrecke dies potenzielle Investoren ab, mahnt Kretschmann. Nur konsequent nachhaltige Grünen-Politik könnte hier für den erforderlichen Schub sorgen. Die Botschaft ist klar: Öko-Politik in Verbindung mit Investitionen und wirtschaftlicher Entwicklung.
Bürgernaher Wahlkampf im Internetzeitalter
Fast eine Stunde zieht Kretschmann die Zuhörer in seinen Bann. Kurzweilig und ohne Umschweife spannt er einen breiten Bogen zwischen bundes-, landes- und kommunalpolitischen Themen. Und selbst wenn für eine abschließende Diskussion am Ende die Zeit fehlt, bleibt Kretschmann noch eine gute Viertelstunde vor der Bühne, hört sich die persönlichen politischen Anliegen einiger Bürger an und beantwortet geduldig die Fragen der Journalisten.
Der bürgernahe Wahlkampf an der Basis ist auch im Internet-Zeitalter noch wichtig,
hatte Kretschmann bereits im Vorfeld der Veranstaltung betont. Mit seiner natürlichen Art sammelte Kretschmann viele Sympathiepunkte. Erstwähler Darwin Höhnle aus Weinheim bezeichnete den Auftritt des Ministerpräsidenten als „toll“. Sein Fazit:
Dieser Abend hat meine Wahlentscheidung gefestigt.
Auch zahlreiche weitere Besucher äußerten sich überaus zufrieden mit dem Verlauf der Wahlkampfveranstaltung. Ein Heddesheimer Familienvater sagte:
Wenn der als Lehrer auch so war, hätte sein Dienstherrr seine Landtagskandidatur mit allen Mitteln verhindern müssen. Ich meine, dass er mit dieser persönlichen Art quer durch alle Gesellschaftsschichten ankommt. Ich habe ihm abgenommen, was er da sagt und dass, obwohl ich Politikern sonst eher skeptisch gegenüber eingestellt bin.
Bürgermeister Höfer lobte die Unterstützung des Landes bei der Kleinkindbetreuung und der Schulbauförderung:
Diese Investitionen sind hier bitter nötig.
Der Abgeordnete Uli Sckerl ist kampfeslustig:
Die Wahl ist noch nicht entschieden. Wir haben die besseren Konzepte für die Zukunft.
Der Wahlkampf biegt in die Zielgerade ein. Viele Themen wurden auch lokal diskutiert. Beispielsweise die Forderung nach einem Veggie-Day, der in den vergangenen Wochen als „grüner Vorschriftenwahn“ für heftige Diskussionen sorgte.
Landesvater Kretschmann setzt ein spitzbübisches Lächeln auf und verkündet im Stil eines schalkhaften Beobachters und schlägt dem „christlichen Gegner“ voll ins Kontor:
So schlimm war der Vorschlag doch nicht. Ich als alter Katholik weiß, dass kein Fleisch am Freitag nicht das Schlechteste ist.
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Kleine Notiz am Rande. Vier Tage nach dem Wahlkampftermin treten die Toten Hosen auf dem Mannheimer Maimarktgelände auf. Einen Vorgeschmack auf dieses Konzert erhalten die Besucher der Wahlkampfveranstaltung in Schriesheim durch den Hosen-Hit „Tage wie dieser“, den die Cover-Band Fahrenheit zum Auftakt des Abends interpretiert. Sehr zum Unwillen der Düsseldorfer Punkrocker, wohlgemerkt. Bereits auf zahlreichen Veranstaltungen von SPD und CDU sei dieses Lied bereits zum Einheizen abgespielt werden, kritisieren die Hosen auf ihrer Facebook-Seite, leider gebe es dagegen aber keine rechtliche Handhabe:
Wir haben nie ein Problem damit gehabt, wenn unser Lied vom Punkschuppen bis zum Oktoberfest den unterschiedlichsten Menschen Freude bereitet. Wir empfinden es aber als unanständig und unkorrekt, dass unsere Musik auf politischen Wahlkampfveranstaltungen läuft. Hier wird sie klar missbraucht und von Leuten vereinnahmt, die uns in keiner Weise nahe stehen.
Transparenz-Hinweis: Weil der ursprünglich beauftragte Autor erkrankt ist, der Chefredakteur im Urlaub weilt und die Redaktion alle Hände voll zu tun hatte, hat sich die Veröffentlichung verzögert. Wir haben den Karlsruher Journalisten Ekart Kinkel um die Zusammenfassung der von uns recherchierten Informationen gebeten. Herr Kinkel hat für uns das erste Mal gearbeitet und einen sehr guten Job gemacht.
Mitarbeit: Ziad-Emanuel Farag, local4u, Hardy Prothmann