Rhein-Neckar/Südwesten, 06. April 2016. (red/as) Zwei Parteimitglieder der Grünen liefern sich einen öffentlichen Streit. Boris Palmer fordert klar: Bürger, die eine “Grenze der Hilfsbereitschaft artikulieren”, dürfen nicht gleich als Rassisten bezeichnet werden. Dies sei ein Grund dafür, dass viele Grüne-Anhänger sich bei der Landtagswahl für die AfD entschieden haben. Er wettert damit gegen die Meinung des Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Anton Hofreiter.
Von Annika Schaffner
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat im Februar dem Spiegel in einem Interview erzählt, dass „grüne Professoren“ zu ihm gekommen seien, die sagten: “Ich habe zwei blonde Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter Entfernung wohnen.”
Anton Hofreiter, der Fraktionschef der Grünen, hat beim taz lab am vergangenem Samstag seinem Parteikollegen nun unterstellt, dass er den Professor nur erfunden hätte. Er kenne dieses Vorgehen, “dass Aussagen angeblich besorgten Bürgern in den Mund gelegt werden”, schreibt die taz.
Am Dienstagmorgen hat Boris Palmer auf diese Unterstellung auf seiner Facebook-Seite reagiert: Die Aussage von Anton Hofreiter sei dreist und passe „offenbar nicht ins Weltbild“.
Doch in der öffentlichen Debatte der beiden grünen Politiker geht es nicht nur um persönliche Aussagen, sondern auch um politische Meinungen.
Wie kam es zum Stimmungswechsel der Grünen- und SPD-Anhänger?
Der Fraktionsvorsitzende Hofreiter soll beim taz lab beispielsweise auch behauptet haben, dass es sich bei den von grün zur AfD abgedrifteten Wählern um Bürger handle, die bei der letzten Landtagswahl nur grün wählten, weil sie gegen Stuttgart 21 waren. Dies kritisiert Boris Palmer stark und als realitätsfern. Er sagt klar, die große Anzahl der Flüchtlinge sei der Grund, dass selbst SPD und Grüne-Wähler zur AfD wechselten. Es seien “Überforderungsreaktionen erkennbar gewesen”.
Als Beweis verlinkt er zu seinem Post ein Artikel der Süddeutschen, in dem eine europäische Umfrage zur Flüchtlingskrise analysiert wird. Diese Daten bezeichnet er als empirisch. Sie zeigen tatsächlich Erstaunliches: Seit September hat sich die Zahl der SPD-Anhänger, die meinen, mehr Migranten kann Deutschland nicht mehr verkraften, um 18 Prozentpunkte auf 37 Prozent aller SPD-Anhänger erhöht.
Bei den Grünen hat sich diese Zahl sogar um 20 Prozentpunkte auf 27 Prozent erhöht. Doch bei der CDU gibt es dieses Phänomen nicht: 36 Prozent der CDU-Anhänger haben im September befürchtet, dass Deutschland keine weiteren Migranten mehr verkraftet. Im März hat sich die Zahl nur um einen Prozentpunkt auf 37 Prozent erhöht.
Daraus zieht der Grünen-Politiker Boris Palmer die Schlussfolgerung:
Wir sollten der AFD nicht weiter die Wähler zutreiben, indem wir jeden gleich zu ihr hinschicken oder als Rassisten brandmarken, der Grenzen der Hilfsbereitschaft artikuliert.
Palmer vs. Hofreiter auf Facebook
Boris Palmer drückt sich sehr gewählt aus, und ist doch eindeutig zu verstehen. Damit löst er im Netz heftige Reaktionen aus. Die meisten Facebook-Nutzer bezeichnen den öffentlichen Streit als schlechten Stil. Doch die vielen Kommentare und Reaktionen zeigen dann doch, dass sich die Menschen brennend dafür interessieren. Irgendwie werden die Politiker auf diese Weise charakterisiert.
Viele stehen hinter Boris Palmer und kritisieren Anton Hofreiter:
Hofreiter spaltet die Partei, wenn er so weitermacht. Ich jedenfalls fühle mich von ihm nicht mehr vertreten.
Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek tritt für Boris Palmer ein: “Fand dein Zitat nicht gut, aber solche Unterstellungen gehen gar nicht.”
Andere seiner fast 14. 000 Facebook-Abonnenten gehen ihn jedoch heftig an, seine Aussagen wären reine Stimmungsmache: “Boris, könnte es ganz eventuell auch den Anstieg der Sorgen im linksliberalen Millieu gegeben haben, weil der Baden-Württembergische Ministerpräsident und insbesondere der Tübinger OB den Leuten diese Sorgen permanent einreden?
Übernimm doch wenigstens mal Verantwortung für Deine Stimmungsmache.
Hier wird Palmer sogar selbst dafür verantwortlich gemacht, dass so viele Grüne-Anhänger bei der Landtagswahl die AfD wählten.
Auf die Besoffenheit folgt der Kater
Hardy Prothmann, Redaktionsleiter des Rheinneckarblog, hatte schon vor einigen Monaten gewarnt: Es wird für die AfD immer mehr Zulauf geben, wenn die etablierten Parteien nicht realitätsnäher handeln und weniger “hilfsbesoffen” seien. Seine These: Immer weniger Bürger würden an “Wir schaffen das” glauben, wenn nicht auch kritisch auf die Situation geblickt würde und vor allem, wenn jeder Kritiker als rechts oder sogar als “rassistisch” bezeichnet werde.
Jedenfalls ist nun der Kater eingetreten, der auf die Hilfsbesoffenheit folgt: Die AfD ist mit 15 Prozentpunkten zur drittstärksten Fraktion in den Landtag von Baden-Württemberg gewählt worden. Dieser Kater dauert nun fünf Jahre.