Heidelberg, 01. Juni 2016. (red/nh) Ein Fahrrad aus Grashalmen – absurd und unmöglich? Das geht doch nicht? Doch, das geht. Und sieht nicht nur super schick aus – angeblich sind die Rahmenkonstruktionen sogar stabiler und standhafter als welche aus Stahl oder gar Carbon. Die Bambusbikes werden nicht etwa in Fernost gefertigt – sondern in Heidelberg: Oswald Wieser und Fazlul Hoque von Smart Grass Bicycles sind nicht nur unheimlich kreativ – man spürt auch ihre Leidenschaft für das Ökofahrrad.
Von Naemi Hencke
Ein Fahrrad aus “Grashalmen”? Unmöglich?
Falsch gedacht. Doch wie funktioniert das? Und: Wie sieht das aus? Und überhaupt: Warum?
Um das aus nächster Nähe betrachten zu können, begeben wir uns auf eine kleine Reise – und müssen dafür nicht erst nach China oder Japan. Es geht ganz bequem mit dem Fahrrad: Nur etwa zwei Kilometer vom Heidelberger Hauptbahnhof entfernt soll sich eine Werkstatt befinden, in der angeblich Fahrräder aus Bambus hergestellt werden. Erst einmal fällt es schwierig, das zu glauben.
Ein Ort, den selbst das Navi nicht kennt
An den Gleisen, in Richtung Mannheim entlang, tauchen auf der rechten Seite Wiesen auf. Ein Allerlei an bunten Pflanzen blüht. Im Kontrast dazu erheben sich morbide wirkende, dem Verfall ausgesetzte und wahrscheinlich aus den 40er Jahren stammende Bahngebäude.
Bäume und Sträucher erobern sich in und auf den vergessenen Gebäuden ihren Platz zurück. Oswald Wieser, der erfinderische Geist im Zweiergespann Smart Grass Bicycles meinte schon vorab am Telefon, dass Navis die Adresse am Bahnbetriebswerk Nummer 3 wahrscheinlich nicht kennen würden.
An Sicherheitsabsperrzäunen vorbei, bis wir das verlassene Brachland hinter uns lassen und sehen schließlich – da vorne – zwei weitere alte Backsteingebäude.
Zwischen verlassenen Industrieruinen befindet sich irgendwo im Niemandsland eine moderne Kreativwerkstatt – und eine städtische Obdachlosenunterkunft: Aus den geöffneten Fenstern gucken einige verwunderte Köpfe hervor. Besuch ist offenbar eher selten.
Auf dem Grundstück befindet sich ansonsten nur noch ein Gebäude. Vor dem Eingang steht ein fröhlich wirkender, weiss-zitrongelber VW-Bus. Eine Stahltreppe führt hinauf. Ich spähe hinein und sehe Holz. Ganz viel Holz, Material und Werkzeug. Das muss es sein. Die Werkstatt.
Bambus geht ab
Oswald Wieser begrüßt mich erfreut und ehe ich mich versehe… hocke ich schon auf einem Bambusfahrrad. Testweise fahre ich noch einmal an den von Grün überwucherten Gemäuern vorbei. Das Fahrrad fährt. Es fährt sogar richtig gut. Ganz leicht fühlt sich der Tritt an. Die Bremsen sind mit Vorsicht zu genießen – reagieren ohne Verzögerung. Abrupt. Sofort. Stillstand. Im Affenzahn zurück. Da vibriert rein gar nichts. Stabil und belastbar.
(Fast) alles ist möglich
Das Beste jedoch: Es sieht zudem noch richtig stylisch aus. Ein Designobjekt, aber nicht von der Stange. Jedes Fahrrad ist ein in Handarbeit gefertigtes Unikat. In mehrtägigen Workshops, die meist an Wochenenden stattfinden, können Fahrradliebhaber ihr ganz individuelles Bike bauen. Als Singlespeed, Fixie, Touren-, Racing- oder Freestylebike. Zur Zeit arbeiten Oswald Wieser und Fazlul Hoque an einer Lösung einen E-Bike-Motor unsichtbar in den Rahmen zu integrieren.
Vor eineinhalb Jahren kam Fazlul Hoque auf Oswald Wieser zu, der schon lange für die Firma SAP gearbeitet hatte. Er hatte einer ungewöhnlichen Idee im Gepäck: Warum nicht ein Fahrrad aus Bambus bauen?
Mittlerweile ist aus der scheinbar etwas verrückten Idee ein kleines Unternehmen geworden – in dem ganz offensichtlich sehr viel Leidenschaft und Herzblut steckt. Beide fahren selbst – “wann immer es geht” – mit dem Fahrrad. Am liebsten natürlich mit ihrem eigenen Bambusfahrrad. Doch jeder kann sich in unterschiedlichen Workshops sein ganz individuelles Bambusbike bauen.
Hochkomplexe Konstruktion – Sichtbar verständlich
Anfangs besprechen die beiden mit den Workshop-Teilnehmern, was genau ihre Vorstellungen sind. Wie soll das Fahrrad aussehen? Was konnte das Alte vielleicht nicht? Was soll das Neue besser können? Welche Ausstattung soll es haben? Für welchen Zweck soll es eingesetzt werden?
Dann wird die Rahmenkonstruktion an die genauen Körpermaße und die Sitzhaltung des Fahrers angepasst. Ein schon beim Zuhören sehr kompliziert erscheinendes Verfahren. Doch Oswald Wieser wiegelt ab.
So kompliziert, wie es sich vielleicht anhört, ist es in der Umsetzung gar nicht,
meint er.
Ihm sei es wichtig, dass seine Kursteilnehmer die einzelnen Schritte des Produktionsprozesses verstehen und nachvollziehen können. Deswegen hat er sich ein System ausgedacht, bei dem – mit Hilfe von Magneten – die wichtigsten Punkte in ein Koordinatensystem übertragen werden. Das ist “sichtbar” verständlich.
Darauf folgen die Fixierung der einzelnen Bambusteile, die zuvor, ganz schlicht und einfach, mit einer Japanischen Laubsäge auf die richtige Länge gesägt wurden. Epoxydharz wird auf Flachsmatten “draufgeklatscht”, wie es Herr Wieser nennt.
Doch damit das Verbundmittel wirklich an jede Stelle kommt, müssen die Verbindungen mit Fahrradschläuchen extrem fest zusammengepresst werden, damit sich keine Luftpolster bilden. Wenn es vollkommen durchgetrocknet ist, werden die Verbindungsstellen mit Geduld feinsäuberlich gefeilt und in Form gebracht.
Super-Grashalme
Ein fertiger Bambusrahmen soll stabiler sein als einer aus Stahl oder sogar aus Carbon. Denn die “Halme” können nicht im Querschnitt brechen, wie die meisten “normalen” Materialien. Höchstens würden sich einzelne, feine Risse bilden, die aber nicht sofort dazu führen, dass das Fahrrad bricht. Im Asiatischen Raum werden aus diesen “Super-Grashalmen” sogar Brücken und Wolkenkratzer-Gerüste gebaut.
Und Kratzer im Rahmen?
Einfach Bootslack drauf. Fertig,
erklärt Oswald Wieser. Das sei das Schöne. “Die Dinger” sind wirklich “nahezu unkaputtbar” und können den Fahrer in den meisten Fällen ein ganzes Leben begleiten.
Für Meeno, den Sohn eines Workshop-Teilnehmers, hat Oswald Wieser eine Rahmenkonstruktion entwickelt, die “mitwächst”. Eine konstruktive Herausforderung. Wenn es klappt, eine Meisterleistung.
Nachhaltigkeit kann auch cool
Bambus ist ein Naturmaterial – es ist biologisch abbaubar. Es entsteht kein Müll, der aufwendig verwertet werden muss. Bambus ist ökologisch und ressourcenschonend, weil – fast überall auf der Welt heimisch – wächst der größte Vertreter, der Riesenbambus, bis zu 70 Zentimetern am Tag und bis zu 40 Meter in die Höhe.
Die Kosten für das Rohmaterial eines Fahrradrahmens: Etwa zehn Euro. Zeit, das professionelle Ingenieurswissen und die technische Ausstattung kommt dann noch hinzu – je nach Vorlieben des Teilnehmers. Der Rahmenbau im Basic-Workshop kostet 490 Euro.
2017 für den Deutschen Design Award nominiert, steigt die Aufmerksamkeit zusehends, so Herr Wieser. Zur Zeit gebe es Vorüberlegungen zu zwei Entwicklungshilfeprojekten in Malawi und Kuba. Erfreulich sei auch, dass die Zahl der Teilnehmeranfragen steigt.
Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist, muss sich noch etwas Gedulden: Erst nach den Sommerferien gibt es wieder freie Workshop-Plätze, um sein eigenes Fahrrad aus Bambus zu bauen.
Derzeit noch eher Ungewöhnlich. In Zukunft vielleicht Standard?
Auf jeden Fall ein Unikat auf zwei Rädern. Und eine sinnvolle Investition fürs Leben.