Frankenthal, 06. April 2017. (red/pro) Das Baby S. hatte keine Chance. Es wurde zwei Monate alt. Dann starb es, weil der Vater es fallen ließ oder einfach vom Balkon weggeworfen hat. Das Landgericht Frankenthal verhandelt den Mordprozess und wird ein Urteil finden. Der Prozess erschüttert – nicht nur wegen des tragischen Opfers, der kleinen S. – sondern wegen all dem, was ans Licht kommt. Es geht in der Sache nicht um einen spektakulären Kriminalitätsfall mit berufsmäßigen Verbrechern, sondern um die Hölle des alltäglichen Durchschnitts.
Kommentar: Hardy Prothmann
Ich bin mit sieben Jahren nach Frankenthal gekommen und habe dort mein Abitur gemacht. Ich bin kein “Einheimischer”, aber ich fühle mich als Frankenthaler. Und Frankenthal ist eine nette Kleinstadt, wie es sie überall in Deutschland gibt.
Früher berühmt fürs Porzellan, wichtiger Standort für die Zuckerindustrie, in der Metropolregion bekannt für das Strohhutfest und aktuell Schauplatz eines Prozesses, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen kann. Wie kann es sein, dass ein Vater sein erst zwei Monate altes Kind zu Tode stürzt?
Wir haben nicht alle Verhandlungstage besetzen können, aber viele. Ein paar ich, viel mehr unsere Mitarbeiterin Christin Rudolph und aktuell auch Moritz Bayer. Im Gespräch miteinander sind wir uns einig – es ist alles so “unglaublich”, was dieser Prozess zutage fördert.
Ich schreibe hier einen Meinungsbeitrag. Die Schuld am Tod des kleinen Mädchens hat aus meiner Sicht eindeutig der angeklagte Vater. David L. wird sich dafür verantworten müssen. Daran gibt es nichts zu deuteln.
Worauf gründe ich meine Sicht? Auf meine persönlichen Eindrücke vor Ort, auf eigene Recherchen und auf die Berichte meiner Kollegen.
Ich schreibe aber dennoch: Aber. Das ist kein Aber, dass die Schuld des Beklagten mindern soll, wie das der Verteidiger Klein mit teils grenzwertiger Penetranz versucht. Es ist ein Aber, das Sie, liebe Leserin, lieber Leser, erreichen soll.
Es geht in diesem Prozess wie immer um Schuld und Sühne. Leider wird dabei nur gefragt, was gewesen ist, nicht aber, was gewesen sein könnte.
David L. und Semira S. haben eine fatale Beziehung geführt. Beider Leben sind nicht vorbildlich. Beider Leben – so erfährt man es im Laufe der Verhandlung – sind von Schmerzen, von Enttäuschungen, von unerfüllbaren Forderungen und Wünschen geprägt.
Es stehen sich hier zwei Egoisten oder auch Egomanen gegenüber. Das ist kein Vorwurf, sondern nur ein Feststellung. Zwei Menschen, die selbst viele Erniedrigungen erlitten haben und diese Erfahrung ohne Reflexion kopiert haben. Sie wurden erniedrigt und haben andere erniedrigt.
Nach allem, was man bislang erfahren hat, stehen sich auch zwei sehr unreife Menschen gegenüber, die gerne etwas Bestätigung haben wollen, aber vom Leben nur erfahren haben, dass es ihnen nur bestätigt, dass sie Problemfälle sind.
Drogen, Gewalt, Vergewaltigung, Schläge, Krankheiten, Drohungen, Entgleisungen, Beleidigungen – dieser Prozess fördert einen ganz dunklen und bösen Alltag hervor, der vermutlich nicht nur die Lebensrealität dieser Protagonisten ist, sondern durchaus durchschnittlich gelebter Alltag bei vielen Menschen.
Der Unterschied ist: Viele Menschen quälen sich und werden gequält und es geht halt immer so weiter. Aber hier kam es zu einem Todesfall, der als Mord angeklagt ist.
Dieser Prozess muss nachdenklich machen. Ein Kleinkind von zwei Monaten vom Balkon fallen zu lassen oder es sogar zu werfen, ist keine Tat, für die es Wissen, Kompetenz, Erfahrung oder sonstige Fähigkeiten braucht. Eine solche Tat ist durch nichts zu entschuldigen, weil der Sturz eines zwei Monate alten Babies aus sieben bis acht Metern Höhe keinen Interpretationsspielraum lässt. Für jeden Erwachsenen wäre diese Höhe lebensgefährlich, massivste Verletzungen unausweichlich. So ein kleiner Mensch kann ein solchen Sturz nicht überleben und muss unweigerlich sterben.
Die Befragung des Strafverteidigers Klein insbesondere gegenüber der Mutter des getöteten Kindes und Nebenklägerin Semira S. ist ebenfalls eine große Herausforderung. Nicht nur gegenüber der Befragten, sondern gegenüber der Öffentlichkeit. Darf der das? Ist denn nicht längst alles klar? Warum stellt er Fragen zum Sexualleben der Frau, zu Anzeigen gegen andere, zu Bedrohungssituationen, zur Familie?
Herr Klein stellt diese Fragen, weil er sie stellen darf. Das ist, was viele nicht verstehen – wir leben in einem Rechtsstaat und der urteilt nicht danach, was jemandem gefällt, sondern nach dem, was festgestellt und eingeordnet ist.
Herr Klein hat Erfolg. Semira S. ist nicht nur Opfer. Sie ist – belegt durch ihr Verhalten – eine aggressive und ordinäre Frau. Mit der Wahrheit hat sie es nicht so genau. Möglicherweise hat sie David L. in den Wahnsinn getrieben.
Das kann sein – aber: Damit ist David L. immer noch voll verantwortlich für seine Tat. Er hat sein eigenes Kind getötet. Daran besteht kein Zweifel, das hat er zugegeben.
Es gibt viele, die den Prozess verfolgen und entsetzt sind: Soll die Mutter mitschuldig sein? Was läuft hier? Ist das nicht unanständig, die Mutter so bloß zu stellen?
Das ist es nicht. Viele Kindsmorde passieren durch Mütter aus ganz unterschiedlichen Motiven. In diesem Fall ist die Mutter unverdächtig.
Aber sie ist verantwortlich. Für ihr Verhalten. Im Vorfeld und insgesamt. Aber auch ihre Eltern und andere sind verantwortlich – im Vorfeld und insgesamt. Nicht für den konkreten Mord, wohl aber für erschütterte Verhältnisse.
Das kleine Mädchen wurde in asoziale Verhältnisse hineingeboren. In eine Welt, die von Gewalt, Hass und Verachtung geprägt ist, wie die Aussagen deutlich machen. In eine Welt, in der nichts “normal” ist. Von Eltern gezeugt, der eine auf Drogen, die andere mit enormen psychischen Problemen.
In eine Welt, in der Leben und der Respekt davor, nicht viel gilt. Der schwächste verliert immer in solchen Verhältnissen. Die schwächste war ein Mädchen, erst zwei Monate alt. Fallen gelassen oder geworfen. Gestorben auf der Stelle an einem schweren Hirn-Schädel-Trauma.
Dieses Drama hat sich in meiner Heimatstadt Frankenthal ereignet. Entsetzt mich das? Ja! Sehr! Wegen des Opfers.
Aber dieses Verbrechen hätte auch sonst wo passieren können.
Für den Prozess geht es um Schuld und Sühne. Tatsächlich müssen sich vermutlich sehr viele Menschen fragen, was ihre eigene Verantwortung ist.
Verantwortlich für die konkrete Tat ist immer der Täter. Aber andere Menschen sind immer an Entwicklungen beteiligt. Teils kann man diese konkret benennen und befragen, teils nicht.
Klar ist, es wird niemals eine Welt ohne Gewaltverbrechen geben. Die Frage ist: Was trägt jeder von uns dazu bei, um Gewalt nicht zu befördern, sondern zu verhindern?
Für den Mord an dem kleinen Mädchen wird der beschuldigte Vater bestraft werden. Daran habe ich keinen Zweifel.
Ich frage mich aber, ob es zu diesem Mord hat kommen müssen? Wie hätte er verhindert werden können?
Das ist die viel entscheidendere Frage.