Mannheim, 05. Februar 2015. (red/ms) Die Massenschlägerei im Jungbusch im Juni 2014 war nach aktuellem Kenntnisstand im Wesentlichen ein Konflikt zwischen zwei türkischen Großfamilien. Die beiden Familien sind am Tag des Vorfalls mehrmals aneinander geraten, bevor abends die Situation eskalierte: Mindestens elf Menschen wurden verletzt. Dabei wurden verschiedene Waffen eingesetzt und scharf geschossen.
Von Minh Schredle
Bei der Massenschlägerei vergangenen Juni im Jungbusch handelte es sich nach aktuellem Kenntnisstand wohl hauptsächlich um einen Konflikt zwischen zwei türkischen Großfamilien, die im Laufe des Tages mehrfach aneinander geraten sind, bevor die Gewalt gegen 19:30 Uhr im Stadtteil Jungbusch eskalierte.
Es sind auch Schüsse gefallen – dabei wurde allerdings niemand verletzt. Gegen den mutmaßlichen Täter Mehmet C. wurde im Oktober Anklage erhoben. Seit dem 03. Februar läuft das Gerichtsverfahren.
Familienstreit
Der Angeklagte Mehmet C. ist keiner der beiden Familien angehörig. Allerdings ist er, seiner Aussage nach, seit etwa zwei Jahren eng mit Osan Bulut (Name geändert) befreundet. Osan, dessen Bruder Emre (Name geändert) und womöglich noch andere Familienangehörige waren maßgeblich in die Schlägerei involviert. Bei der anderen beteiligten Großfamilie handelt es sich um die Ertürks (Name geändert).
Der vorsitzende Richter, Dr. Ulrich Meinerzhagen, kündigte an, er wolle nicht nur die Situation aufklären, in der es zu den Schüssen kam, sondern auch die Umstände, die zu dieser Situation geführt haben.
Rahmenhandlungen bekannt
Dabei sind bislang etliche Details unklar. Einigermaßen sicher scheinen die Rahmenereignisse zu sein – deren konkreter Ablauf ist allerdings noch unbekannt. Hier unterscheiden sich die Darstellungen teilweise erheblich.
Bislang wurden neben dem Angeklagten jeweils zwei Angehörige der beiden Familien als Zeugen angehört: Die Brüder Osan und Emre Bulut und sowie Selim Ertürk und dessen Vater Murat (Name geändert).
Konflikt mit Vorgeschichte
Bevor es zur Massenschlägerei im Jungbusch gekommen ist, sind die Familien im Laufe des Tages bereits mindestens zwei Mal in der Innenstadt aneinander geraten – so viel scheint sicher.
Zunächst gab es ein gewaltsames Aufeinandertreffen zwischen Emre und Selim zur Mittagszeit am Paradeplatz. Hierbei wird Selim als Geschädigter angesehen. Emre soll dabei in Begleitung gewesen sein, aber scheinbar wurde er als einziger handgreiflich. Emre wollte sich im Zeugenstand nicht zu diesem Vorfall äußern.
Etwas später am Tag, etwa gegen 17:00 Uhr, übte Selim Rache aus. Zusammen mit vermutlich vier weiteren Personen, die der Aussage von Emre zufolge mit Schlagstöcken bewaffnet gewesen sein sollen, suchte er eine Shishabar in den S-Quadraten auf, in der sich Emre befand.
Wie lang war Emre in Behandlung?
Emre zog sich mehrere Prellungen und Schnittverletzungen durch, als er durch einen Glastisch geworfen wurde. Er sei dann mit dem Taxi zum Universitätsklinikum gefahren, wo man seine Verletzungen zwar registriert, aber nicht behandelt habe. Er könne sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er im Krankenhaus gewesen ist.
Später hat sich anscheinend eine größere, teilweise bewaffnete Menschenmenge vor dem Haus der Ertürks versammelt. Selim zufolge seien es mindestesns 15 Personen gewesen. Er will in der Menge auch Emre eindeutig erkannt haben – der bestreitet dagegen, dabei gewesen zu sein. Außerdem war offenbar der Besitzer, oder zumindest ein Mitarbeiter der Shishabar, anwesend und wollte „Schadensersatz geltend machen“.
Zwei gegen zwanzig?
Vor dem Haus ist es dann zu einer Eskalation der Gewalt gekommen. Wie genau ist noch unklar. Selim erzählt, er habe unten auf der Straße seinen Vater umringt von Menschen gesehen. Er habe sich große Sorgen gemacht und sei daher nach unten gegangen. Er hätte „Familie und Haus beschützen müssen“.
Ist es glaubwürdig, dass man alleine, beziehungsweise nur mit seinem 55 Jahre alten Vater einer bewaffneten, aufgebrachten Menschenmenge entgegen tritt?
Selim behauptet das jedenfalls. Ein mit seinem Vater befreundeter Mitarbeiter eines nahegelegenen Wettbüros sei zu Hilfe gekommen und habe weitere Leute mobilisiert, schildert er. Außerdem seien noch weitere Bewohner des Hauses auf die Straße gegangen.
Seltsame Abweichungen
Die Darstellung von Selims Vater weist dem gegenüber erhebliche Unterschiede auf: Er sei zunächst im Haus gewesen, dann hätte jemand geklingelt und gemeint, er wolle sich mit ihm über seinen Sohn Selim unterhalten. Dann sei er nach unten gegangen.
Es seien nur „drei oder vier Leute“ gewesen – aber sie waren bewaffnet. Heute würde er keine der Personen wieder erkennen, da er sie alle zum ersten Mal gesehen hätte, sagt Murat. Er habe Angst bekommen und seine Frau und seinen Sohn um Hilfe gerufen, die dann auch schnell gekommen wären.
An seinen vermeintlichen Bekannten aus dem Wettbüro, den sein Sohn erwähnt hatte, konnte er sich angeblich nicht erinnern, als Richter Dr. Ulrich Meinerzhagen ihn darauf ansprach.
Unglaubwürdige Schilderungen
Dem Vater zufolge hätte es eigentlich gar keinen großen Vorfall gegeben. Seiner Darstellung nach hätten sich nur zwei, drei Leute etwas angegangen. Richter Meinerzhagen kommentierte, dass er wohl blind sein müsse, wenn er das so wahrgenommen hat:
So was würde ja wohl keinen Großeinsatz der Polizei verursachen und ein Dutzend Verletzte fordern.
Richter Meinerzhagen wies ihn darauf hin, dass Selim den Vorfall ganz anders geschildert hätte – doch Murat blieb bei seiner Darstellung.
Laut Selim habe „irgendwann jemand einen Baseballschläger ausgepackt“. Dann sei die Situation eskaliert. Dabei wurden offenbar verschiedene Waffen eingesetzt. Die Zeugen sprechen von Schlagstöcken, Baseballschlägern, Messern und Schlagringen.
„Alles war viel zu chaotisch“
Selim schildert, alles sei viel zu chaotisch gewesen, um noch sagen zu können, wie viele beteiligt gewesen sind und wer wen provoziert und mit welchen Waffen angegangen hat. Er könne sich auch nicht daran erinnern, wer zuerst wen angegriffen hat. Nach etwa 20 Minuten sei es dann der Ertürk-Familie und ihren Unterstützern „gelungen, den Bulut-Klan zu verjagen“.
Osan und Mehmet C. waren zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht anwesend. Osan behauptet, er habe gar nicht gewusst, was seinem Bruder genau zugestoßen ist. Er würde ein paar der Ertürks ganz gut kennen und hoffte, mit ihnen reden und „die Sache schlichten zu können“.
Bevor es allerdings zu einem Wortwechsel kam, sei er brutal von einer Gruppe von Menschen – offenbar Angehörige und Unterstützer der Ertürk-Familie – zu Boden gerungen worden, wobei er so stark verletzt worden sei, dass er Blut gespuckt hat.
Lückenhafte Darstellung
Er habe ab diesem Zeitpunkt kaum noch etwas wahrnehmen können, sagt er. Sein Gehör sei stark eingeschränkt gewesen, außerdem sei seine Erinnerung an den Vorfall verschwommen, weil er so sehr unter Schock stand.
Schüsse habe er keine gehört – aber laute Knallgeräusche, die er nicht zuordnen könne. Irgendwann habe er gesehen, dass er durch eine Lücke entkommen könnte. Dann sei er los gerannt. Laut Polizeiberichten sei er an der Jungbusch-Brücke weiter getreten worden, bis die Polizei eingetroffen ist.
Daran kann sich Osan aber nicht mehr erinnern – behauptet er. Bis auf Osan und Mehmet hat sich noch kein Augenzeuge der Schießerei im Gericht geäußert. Richter Meinerzhagen verwies allerdings auf verschiedene Vernehmungen der Polizei, denen zufolge sich das Ereignis ganz anders abgespeilt hätte.
Provokation in Unterzahl?
Laut diesen Berichten soll Osan aggresiv auf die Gruppe zugegangen sein und habe diese provoziert. Er sei dann von einem Faustschlag getroffen worden und zu Boden gegangen – aber direkt danach wieder aufgestanden.
Schon zu diesem Zeitpunkt soll der Angeklagte Mehmet C. geschossen haben. Dann wären die beiden geflohen, Osan solle sich seine schwerwiegenden Verletzungen erst deutlich später, an einem anderen Standort zugezogen haben.
Wie wahrscheinlich ist es, dass zwei Leute, von denen nur einer bewaffnet ist, auf eine ganze Gruppe losgeht und diese provoziert? Vielleicht hat die Schusswaffe ihnen eine falsche Sicherheit gegeben. Denkbar wäre es.
Intervention vermeidet Schlimmeres
Es ist nicht auszuschließen, dass es Tote gegeben haben könnte, wenn die Polizei nicht eingeschritten wäre. Doch deren Intervention sorgte dafür, dass sich der Konflikt auflöste. Das war kurz vor 20:00 Uhr – bis dahin hat es bereits mindestens elf Verletzte gegeben.
Wer denn von den Beteiligten nun die Wahrheit sagt, ist momentan noch schwierig abzuschätzen – bis jetzt war kein Zeuge rundum glaubwürdig. Hoffentlich schaffen die kommenden Verhandlungstage hier Klarheit.
In jedem Fall bedenklich bleibt: In nur wenigen Stunden ist es innerhalb Mannheims möglich gewesen, teilweise schwer bewaffnete Schlägertrupps zusammenzustellen und so die Polizei vor größere Probleme zu stellen.
Keine Sicherheitskontrollen
Im Gerichtssaal waren am ersten Verhandlungstag selten mehr als 20 Besucher anwesend – allerdings wechselten diese den ganzen Tag über durch. Dabei waren offenbar Vertreter beider Lager anwesend. Viele türkischstämmige Männer, vom Aussehen geschätzt etwa Mitte bis Ende 20.
Nach den Vernehmungen gab es Gespräche zwischen Zeugen und Besuchern. Offensichtlich waren im Publikum Angehörige und Freunde aus beiden Familien vertreten – es gibt also ein gewisses Konfliktpotenzial.
Vor dem Gerichtssaal wurden am ersten Prozesstag keine Sicherheitskontrollen durchgeführt – es wäre problemlos und ohne größeren Aufwand möglich, eine Waffe hereinzuschmuggeln. Vielleicht beurteilt das Gericht die Gefahrenlage als gering, weil es sich beim Angeklagten um einen „Außenstehenden“ handelt. Noch ist jedenfalls alles ruhig geblieben.