Rhein-Neckar/Stuttgart, 05. November 2014. (red/dok) Der Landtag von Baden-Württemberg (15. Wahlperiode) hat heute einstimmig einen gemeinsamen Antrag von SPD, CDU, Bündnis90/Die Grünen sowie der FDP beschlossen. Der Antrag lautete: “Einsetzung und Auftrag des Untersuchungsausschusses „Die Aufarbeitung der Kontakte und Aktivitäten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Baden-Württemberg und die Umstände der Ermordung der Polizeibeamtin M. K.“. Wir dokumentieren den Antrag.
Dokumentation des Antrags:
Der Landtag wolle beschließen, einen Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 35 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg einzusetzen:
A.
Der Untersuchungsausschuss hat den Auftrag, umfassend aufzuklären, in welcher Weise die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden auf der Landesebene und mit den Bundesbehörden und anderen Länderbehörden in Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an der Polizeibeamtin M. K., dem versuchten Mord an ihrem Kollegen und der NSU-Mordserie zusammengearbeitet haben und welche Fehler und Versäumnisse es bei der Aufklärung der Straftaten in Baden-Württemberg im Rahmen der Ermittlungsarbeit und des Zusammenwirkens der Sicherheitsbehörden gab und welche Verbindungen des NSU und seiner Unterstützer nach Baden-Württemberg tatsächlich bestanden haben.
I. Dabei ist insbesondere zu klären,
1. welche Verbindungen zwischen den Mitgliedern der Terrorgruppe NSU und ihren Unterstützern zu rechtsextremistischen Personen, Kreisen oder Organisationen (einschließlich der rechtsextremistischen Musikszene) in Baden- Württemberg bestanden und ob diese Personen bzw. Personen, die diesen rechtsextremistischen Kreisen oder Organisationen zuzurechnen sind, an den Straftaten des NSU beteiligt waren, die Straftaten des NSU oder den NSU beim Leben im Untergrund unterstützt haben;
2. ob nach dem Abtauchen des NSU-Trios in den Untergrund im Jahr 1998 die baden-württembergischen Sicherheitsbehörden an den gezielten Fahndungsmaßnahmen der thüringischen und sächsischen Sicherheitsbehörden oder am Informationsaustausch im Rahmen der Fahndung beteiligt waren, insbesondere ob den baden-württembergischen Sicherheitsbehörden die so- genannte „Garagenliste“ des Mundlos, auf der vier Kontaktpersonen aus Ludwigsburg verzeichnet waren, vor dem Bekanntwerden des Trios im November 2011 vorlag;
3. ob es im Mordfall Heilbronn von den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden Fehler und Versäumnisse bei den Ermittlungen gab und gegebenenfalls wie diese im Hinblick auf den Umstand, dass der Mord vor November 2011 nicht aufgeklärt wurde, zu bewerten sind, insbesondere
- ob es Hinweise auf einen rechtsextremistischen Hintergrund der Tat gab und ob ein rechtsextremistischer Hintergrund der Tat von den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden hätte erkannt werden müssen, z. B. durch Informationen der Quelle „Krokus“;
- welche Auswirkungen die anfängliche Konzentration der Ermittlungen auf die sogenannte „Phantom-Spur“ hatte und ob die „Phantom-Spur“ zu einem früheren Zeitpunkt als solche hätte erkannt werden müssen;
- wie der Hinweis des Onkels von M. K. vom 4. Mai 2007 zu bewerten ist, dass die Tat an seiner Nichte etwas mit den „Türkenmorden“ zu tun habe;
- inwieweit und mit welchem Erkenntnisgewinn im privaten und dienstlichen Umfeld von M. K. ermittelt wurde;
- inwieweit die Einsätze, an denen M. K. beteiligt war, ausgewertet und überprüft wurden und die ermittelnden Behörden hierüber Erkenntnisse erhielten;
- welche Hinweise auf eine Beziehung der Tat ins Umfeld der organisierten Kriminalität in Heilbronn bestanden;
- ob und ggf. welche Fehler bei technischen Fahndungsmaßnahmen, insbesondere beim Kennzeichenabgleich des Wohnwagens sowie bei der Auswertung von Videoaufnahmen, auftraten;
- weshalb Fahndungsfotos, die nach Angaben von Zeugen gefertigt wurden, nicht veröffentlicht wurden;
4. wie Behauptungen (u. a. in den Medien) zu bewerten sind, dass es sich bei M. K. und ihrem Kollegen nicht um Zufallsopfer handele und ob es gegebenenfalls Belege dafür gibt, dass an der Tat in Heilbronn außer den Mitgliedern des Trios weitere Personen beteiligt waren;
5. ob Mitglieder des „European White Knights of the Ku Klux Klan (EWK KKK)“, dem im Jahr 2001/2002 zeitweise zwei baden-württembergische Polizeibeamte angehörten, an dem Mord in Heilbronn beteiligt waren und/ oder ob den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden Hinweise vorlagen, dass der EWK KKK oder andere KKK-Strukturen in Baden-Württemberg an dieser oder an anderen Straftaten des NSU beteiligt waren, insbesondere
- ob den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden Hinweise vorlagen, dass der Gründer des EWK KKK eine Kontaktperson des Trios gewesen ist;
- welche Rolle dabei die Tatsache spielte, dass die zwei Polizeibeamten derselben Einheit der Bereitschaftspolizei in Böblingen angehörten, in der später auch M. K. ihren Dienst tat;
- ob der EWK KKK oder andere KKK-Strukturen in Baden-Württemberg Verbindungen zu Mitgliedern oder Unterstützern des NSU hatten;
- vor dem Hintergrund des vermuteten Geheimnisverrats beim Landesamt für Verfassungsschutz;
- die Rolle möglicher Vertrauenspersonen (VP) (z. B. „Corelli“) beim EWK KKK;
6. in welchem Zusammenhang F. H. in das Visier der Ermittlungen der Sicherheitsbehörden gekommen ist, welche Erkenntnisse über seine Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene vorlagen und welche Erkenntnisse die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden bezüglich der Umstände des Todes von F. H. am 16. September 2013 in Stuttgart haben;
7. ob Mitglieder des Trios, ein wegen der Unterstützung der Straftaten des NSU vor dem Oberlandesgericht München Angeklagter oder eine andere Person auf der sogenannten „129er-Liste“ des Generalbundesanwaltes in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 8. November 2011 als VP oder Informant baden-württembergischer Sicherheitsbehörden geführt oder eingesetzt wurden und ob gegebenenfalls hierbei Fehler der baden-württembergischen Sicherheitsbehörden gemacht wurden, insbesondere, ob gegebenenfalls solche Personen die Taten der Mitglieder des NSU finanziell oder in sonstiger Weise unterstützt haben;
8. ob die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden bereits vor dem Bekanntwerden des Trios im November 2011 Kenntnis von der Existenz des NSU und seiner Straftaten hatten;
9. welche Erkenntnisse den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden zu dem Aufenthalt der Mitglieder des NSU in Baden-Württemberg seit 1. Januar 1992 bis heute vorlagen, ob die Erkenntnisse den Zeitraum vor oder nach dem Abtauchen des Trios im Jahr 1998 betreffen und ob diese Erkenntnisse bereits vor dem Bekanntwerden des Trios im November 2011 oder erst nach dem Bekanntwerden des Trios im Zuge des daraufhin vom Generalbundesanwalt (GBA) eingeleiteten Ermittlungsverfahrens vorlagen;
10. welche Erkenntnisse den baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden seit 1. Januar 1992 bis heute zu den Unterstützern und Kontaktpersonen der Mitglieder des NSU, die einen Bezug zu Baden-Württemberg aufweisen, vorlagen, ob die Erkenntnisse den Zeitraum vor oder nach dem Abtauchen des Trios im Jahr 1998 betreffen und ob diese Erkenntnisse bereits vor dem Bekanntwerden des Trios im November 2011 oder erst nach dem Bekanntwerden des Trios im Zuge des daraufhin vom GBA eingeleiteten Ermittlungsverfahrens vorlagen;
11. ob die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden bereits vor dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 Kenntnis von der Existenz des NSU und der von ihm begangenen Straftaten hätten haben müssen;
12. ob es Erkenntnisse darüber gibt, dass sich Personen aus Baden-Württemberg an den bislang bekannt gewordenen Straftaten des NSU in strafrechtlich relevanter Weise beteiligt haben;
13. ob es Erkenntnisse darüber gibt, dass es in Baden-Württemberg ein Netzwerk gab, welches den NSU bei seinen Straftaten oder seinem Leben im Untergrund in strafrechtlich relevanter Weise und durch Beschaffen von Waffen, Geld oder anderen Unterstützungsmaßnahmen gefördert hat;
14. welche Erkenntnisse über geplante Anschlagsziele des NSU in Baden- Württemberg vorliegen;
15. ob es direkte Kontakte baden-württembergischer Justiz- und Sicherheitsbehörden oder des Innenministeriums Baden-Württemberg mit den Mitgliedern des NSU oder Personen der sogenannten „129er-Liste“ des GBA gab;
16. welche Zuständigkeiten die Justiz- und Sicherheitsbehörden des Bundes (Generalbundesanwalt, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungs- schutz) und die Justiz- und Sicherheitsbehörden des Landes Baden-Würt- temberg nach Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe in Bezug auf die Ermittlungen zur Aufklärung des Mordfalls M. K. und gegebenenfalls weiterer Straftaten des NSU-Trios oder seiner Unterstützer in Baden- Württemberg im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex hatten;
17. inwiefern und auf welcher Rechtsgrundlage nach dem Aufdecken des NSU Akten mit Bezug zum Untersuchungsgegenstand vernichtet wurden und in welchem Umfang den Auskunftsersuchen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse des Bundes und der Länder entsprochen wurde;
18. ob und inwieweit die Landesregierung über die Ergebnisse des NSU- Prozesses in München informiert wurde;
19. ob und inwieweit nach Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden und den Justiz- und Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder Sachsen und Thüringen erfolgte, welche Erkenntnisse dabei gewonnen wurden und wie die Erkenntnisse in den weiteren Ermittlungen berücksichtigt wurden;
20. welche Konsequenzen die baden-württembergische Landesregierung und die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden nach Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe aus etwaigen Fehlern oder Versäumnissen bei den Justiz- bzw. Sicherheitsbehörden in Baden-Württemberg, in anderen Bundesländern und beim Bund gezogen haben.
II. Der Untersuchungsausschuss solle zudem
1. dem Landtag bis zum 31. Oktober 2015 über die Untersuchungsergebnisse berichten, diese bewerten und Vorschläge unterbreiten, wie ggf. zu beanstandenden Vorgängen zukünftig vorgebeugt werden kann;
2. prüfen, inwiefern die in verschiedenen Gremien auf Bundes- und Landesebene dargelegten Handlungsempfehlungen für die Justiz- und Sicherheitsbehörden bereits umgesetzt sind und in welchen Bereichen die Enquetekommission „Konsequenzen aus der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)/Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg – Handlungsempfehlungen für den Landtag und die Zivilgesellschaft“ weitere Handlungsempfehlungen erarbeiten muss.
Es ist hierzu ein Untersuchungsausschuss mit 11 Mitgliedern zu bilden, in dem die im Landtag vertretenen Fraktionen im Verhältnis von 4 (CDU) : 3 (GRüNE) : 3 (SPD) : 1 (FDP/DVP) vertreten sind.
04. 11. 2014
Hauk und Fraktion
Sitzmann und Fraktion
Schmiedel und Fraktion
Dr. Rülke und Fraktion
Begründung
Am 25. April 2007 wurde die Polizeibeamtin M. K. auf der Theresienwiese in Heilbronn mit einem Kopfschuss getötet und ein weiterer Polizeibeamter mit einem Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Die Ermittlungen wurden zunächst in der Polizeidirektion Heilbronn von der Sonderkommission Parkplatz geführt. Diese wurde am 11. Februar 2009 vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg übernommen. Trotz jahrelanger umfangreicher Ermittlungen der Sonderkommissionen konnten die Täter nicht ermittelt werden.
Am 4. November 2011 haben sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die mutmaßlichen Täter eines bewaffneten Banküberfalls, kurz vor ihrer Festnahme in Eisenach in ihrem Wohnmobil selbst erschossen. Bei ihnen wurden Waffen gefunden, mit denen u. a. der Mord und der versuchte Mord an den Polizeibeamten in Baden-Württemberg begangen worden sind. Noch am gleichen Tag hat die mutmaßliche Mittäterin Beate Zschäpe das Haus in Zwickau, in dem sie zusammen mit den anderen mutmaßlichen Tätern längere Zeit gelebt hatte, in die Luft gesprengt und sich einige Tage später der Polizei gestellt. Erst durch diese Vorkommnisse ist zu Tage getreten, dass sowohl der Mord und der versuchte Mord in Baden- Württemberg als auch weitere neun Mordanschläge und zwei Sprengstoffanschläge in anderen Bundesländern und insgesamt vierzehn Banküberfälle wohl von den gleichen Personen begangen worden sind, die seit Ende Januar 1998 in Chemnitz untergetaucht waren, nachdem bei ihnen rechtsextremistisches Propagandamaterial und Sprengstoff gefunden worden war und dass diese Personen eine rechtsterroristische Gruppierung mit der Bezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ („NSU“) gebildet hatten.
Seit dem 7. November 2011 wird das Verbrechen an M. K. und ihrem Kollegen aufgrund von Waffenfunden der rechtsterroristischen Gruppe NSU zugeordnet.
Der Vorgang hat zu umfangreichen Diskussionen in der Öffentlichkeit und zu den Vorwürfen geführt, dass auch baden-württembergische Sicherheits- und Justizbehörden bei der Aufklärung der Mordanschläge versagt hätten.
Seit dem 11. November 2011 führt der GBA wegen des Zusammenhangs mit rechtsterroristischen Taten die Ermittlungen. Das vom GBA mit der Wahrnehmung der kriminalpolizeilichen Ermittlungen beauftragte Bundeskriminalamt richtete eine besondere Aufbauorganisation, die BAO „Trio“ ein. Im Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA BW) wurde der Regionale Ermittlungsabschnitt (Reg EA BW) bis April 2012 eingerichtet. Zusätzlich gab es bis August 2012 eine Ermittlungsgruppe Rechts im LKA BW.
Am 8. November 2012 hat der GBA vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München Anklage erhoben gegen Beate Zschäpe wegen Mittäterschaft u. a. an dem Mordanschlag auf zwei Polizeibeamte in Heilbronn.
Am 28. Januar 2013 wurde die Ermittlungsgruppe Umfeld (EG Umfeld) beim LKA BW eingerichtet. Mit der EG Umfeld wurden die Bezüge des NSU nach Baden- Württemberg über die strafrechtlich relevanten Sachverhalte hinaus untersucht.
Die zunächst mit ähnlichen Fragen beauftragte Enquetekommission „Konsequenzen aus der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)/Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg – Handlungsempfehlungen für den Landtag und die Zivilgesellschaft“ sieht sich derzeit mit Umständen konfrontiert, die nicht erwarten lassen, dass die Kommission im Hinblick auf die nunmehr vom Untersuchungsausschuss in den Blick zu nehmenden Themenkomplexe „Beziehungen des NSU nach Baden-Württemberg“ und „Mord an der Polizeibeamtin M. K. und dem versuchten Mord an ihrem Kollegen“ zeitnah Ergebnisse liefert. Die Themenkomplexe insbesondere rund um den Mordfall in Heilbronn sind für alle Landtagsfraktionen zu bedeutsam, als dass Ergebnisse durch den eingetretenen Schwebezustand der Enquetekommission gefährdet werden dürfen. Aus diesem Grund soll hierzu ein Untersuchungsausschuss eingerichtet werden.”