Rhein-Neckar/Stuttgart, 05. November 2014. (red/pro) Nach der an der “Gutachter-Affäre” gescheiterte Enquete-Kommission hat der Landtag Baden-Württemberg heute einstimmig einen NSU-Untersuchungsausschuss beschlossen. Die Wahl der Vertreter der einzelnen Fraktionen allerdings wurde auf Antrag geheim vorgenommen. Ein Antrag der FDP, einzeln über die Mitglieder abzustimmen wurde von der Mehrheit abgelehnt. Grüne und SPD verfügen über 71 Stimmen gegenüber 67 bei CDU und FDP/DVP, vier Parlamentarier fehlten heute.
Von Hardy Prothmann
Jetzt also doch – der längst überfällige parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum Wirken des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Baden-Württemberg wurde heute vom Landtag beschlossen. Einstimmig. Dieses Signal ist wichtig. Aber bei der Besetzung herrscht keine Einigkeit. Die Fraktionen von Bündnis90/Die Grünen und SPD verfügen über 71 Stimmen. Für die Vertreter von Bündnis90/Die Grünen stimmten in geheimer Wahl 68 Mitglieder, 65 stimmten dagegen, ein Abgeordneter enthielt sich. Damit fehlten den Fraktionen drei Stimmen und die Botschaft ist klar: CDU und FDP lehnen die nominierten Mitglieder der Grünen geschlossen ab. Tatsächlich geht es aber um die Personalie Hans-Ulrich Sckerl, der Obmann seiner Fraktion im PUA sein wird.
Heftige Angriffe auf Sckerl
CDU und FDP griffen die Person Sckerl heute heftig an. Das Hauptargument: Wer lüge und andere zur Lüge anstifte, könne nicht glaubhaft Mitglied eines Gremiums sein, dass der Aufklärung diene. Die konservativen Parteien griffen damit Berichte der Stuttgarter Nachrichten auf. Die Zeitung behauptet, dass Herr Sckerl ohne Kenntnis der anderen Fraktionen Einfluss auf ein juristisches Gutachten zu Auskunftsrechten der Enquete-Kommission genommen und weiter Einfluss auf grüne Kommissionmitglieder für eine “Sprachregelung” genommen habe. Seine Darstellung der Abläufe seien gelogen – der Beweis dafür sei, dass Herr Sckerl diese Aussagen nicht glaubwürdig entkräften könne.
Damit ist ein mögliches Scheitern des Untersuchungsausschusses vorprogrammiert. Absurderweise stellten sich CDU und FDP aktuell so dar, als hätten sie schon immer eine genaue Untersuchung des Wirkens der NSU-Terroristen verlangt. Auch das ist schlicht gelogen. Nun kommt der Ausschuss zustande, weil die SPD dies vorgeschlagen hat. Bislang hatten sich die Sozialdemokraten verweigert. Erst mit Scheitern der Enquete, die noch nicht beendet ist, aber ruht, kam der “Sinneswandel” – ein geschickter Schachzug, den nach außen ist es die SPD, die nun ausschlaggebend für die Einsetzung des Ausschusses ist und nicht die Grünen.
SPD und CDU übernehmen Vorsitz
Nach den parlamentarischen Gepflogenheiten rotiert der Vorsitz in solchen Gremien. Deshalb steht dieser nun SPD und CDU zu. Vorsitzender wird der stellvertretende Landtagspräsident Wolfgang Drexler, Stellvertreter Thomas Blenke, beide sind Volljuristen. Der Enquete hatte der Buchhändler Willi Halder (Grüne) vorgestanden, der im Zuge der “Gutachten-Affäre” sein Amt niedergelegt hatte und heute wegen Krankheit fehlte.
Die Grünen haben also die Rolle als Initiator verloren und die Führung des Untersuchungsausschusses. Außerdem ist der Obmann Sckerl beschädigt. Man muss annehmen, dass CDU und FDP dies nutzen werden, um Herrn Sckerl und die Grünen an der kurzen Leine zu führen. Die SPD wird zurückhaltend zuschauen. Damit haben die konservativen Parteien die Chance, sich zu profilieren. Politisch-strategisch gehen die Grünen mit dem größtmöglichsten Verlust vom Platz.
Auf hohe Erwartungen könnte große Enttäuschung folgen
Größter Verlierer könnte aber die Öffentlichkeit werden, wenn der PUA wegen parteilichen Gerangels seinen eigentlichen Auftrag vergisst: Licht ins Dunkel des Wirkens des NSU in Baden-Württemberg zu bringen. Man will bis Ende Oktober 2015 damit fertig sein – absurd, denn wenn dann noch Fragen offen sind, beendet man einfach die Arbeit? Heute wird es zur konstituierenden Sitzung im Anschluss an die Plenarsitzung kommen. Voraussichtlicher Start des PUA ist Januar 2015. Da heißt, in zehn Monaten abzüglich Ferienzeiten soll die Arbeit geleistet werden.
Möglicherweise gibt es zahlreiche Verbindungen des NSU nach Nordbaden. Wir werden die Arbeit des PUA journalistisch selbstverständlich intensiv begleiten und mit eigenen Recherchen zur Aufklärung beitragen.
Der NSU hatte in den Jahren 200 bis 2007 zehn Morde an acht Türken, einem Griechen und der Polizistin Michèle Kiesewetter begangen. Im November 2011 ist das Terrortrio aufgeflogen. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt haben sich daraufhin erschossen, Beate Zschäpe wird in München der Prozess gemacht. Die Ermittlungen sind von vielen Pannen geprägt – teils wird den Behörden auch Manipulation vorgeworfen. Insbesondere zum Unterstützernetzwerk sind viele Fragen offen. Die These, dass das Terrortrio ohne Hilfe ausgekommen ist, ist kaum haltbar.
Der PUA setzt sich aus elf Mitgliedern zusammen:
CDU: Matthias Pröfrock (Obmann), Thomas Blenke, Arnulf Freiher von Eyb, Friedlinde Gurr-Hirsch, 131 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen
Grüne: Hans-Ulrich Sckerl (Obmann), Petra Häffner, Alexander Salomon, 68 Ja-Stimmen, 65 Nein-Stimmen, 1 Enthaltung
SPD: Nikolaos Sakellariou (Obmann), Wolfgang Drexler, Rita Haller-Haid, 127 Ja-Stimmen, 6 Nein-Stimmen, 1 Enthaltung
FDP: Ulrich Goll, 129 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen, 2 Enthaltungen