Mannheim/Esslingen, 05. Dezember 2013. (red/ld) Es sind Zeitungskommentare, die ein “Bulgarenproblem” thematisieren wollen. Es sind Menschen, die sich unsicher fühlen, weil um sie herum fremde Sprachen gesprochen werden oder “die Asylanten” kommen. Aber es sind auch diejenigen, die sich einfach aus dem Gefühl heraus über die Vielfalt der Kulturen freuen, nur weil die Menschen um sie herum unterschiedlich aussehen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Randerscheinungen. Diese stecken in jedem von uns, sagt Prof. Dr. Kurt Möller von der Hochschule Esslingen. Um den inneren Nazi zu enttarnen, muss man auch die eigene Haltung stets auf’s Neue überprüfen.
Vor allem im Zuge der Euro-Krise lässt sich in den vergangenen Monaten ein Rechtsruck in den europäischen Gesellschaften und der Politik der EU-Mitgliedsstaaten beobachten: Dieser zeigt sich beispielsweise am staatlich verordneten Antisemitismus in Ungarn ebenso wie an den Wahlerfolgen der französischen Front National. Im Kanton Brignoles hatte der FN-Kandidat Laurent Lopez, die Stichwahl mit 53,9 Prozent der Stimmen gewonnen.
In Deutschland zeigt sich der Rechtsruck beispielsweise bei Debatten um einen Ausschluss Griechenlands aus der EU, befeuert durch die AfD, die ebenfalls teils durch rechtspopulistische Äußerungen auffällt. In der Metropolregion werden sie befeuert von Diskussionen über Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien – beispielsweise in Mannheim durch die Aussage, man müsse “ein Bulgarenproblem” diskutieren oder die Debatte über die Unterbringung von Asylbewerbern.
Interview: Lydia Dartsch
Was ist unter dem Begriff “Extremismus der Mitte” zu verstehen und wieso ist dieser Extremismus so problematisch?
Prof. Dr. Kurt Möller: In der Regel hat man vor allem den organisationsbezogenen und gewalttätigen Rechtsextremismus im Blick, der vor allem als Randerscheinung auftritt. Allerdings finden Bestandteile von Rechtextremismus in der Mitte der Gesellschaft weite Verbreitung.
Soziologischer Rechtsextremismus zunehmend “normal”
Das ist eine harte These. Woran machen Sie die fest?
Möller: Zum Beispiel findet man eine ausländerfeindliche Einstellung bei 40 Prozent der fünfzehnjährigen Jugendlichen. Erwachsene weisen ähnliche Werte auf. Das nennt man “soziologischer Rechtsextremismus” im Gegensatz zum organisationsbezogenen Rechtsextremismus.
Wie äußert sich diese strukturelle Fremdenfeindlichkeit?
Möller: Studien beobachten eine zunehmende Normalisierung von rechtsextremen Auffassungen, also z. B. von Fremden- und Judenfeindlichkeit im privaten Diskurs. Wenn beispielsweise Onkel Heinz bei Tante Käthes Geburtstag einen Witz über Juden macht und keiner einschreitet, dann ist es kein Wunder, wenn sich die Neffen mit “Du Jude” beschimpfen.
Wenn in dieser beispielhaften Runde niemand etwas dagegen sagt, ist das entweder auf Zustimmung der Anwesenden zurückzuführen oder darauf, dass sich niemand traut, etwas dagegen zu sagen? Welche Rolle spielt da der Druck, sich anzupassen?
Möller: Es entsteht eine Schweigespirale: Niemand sagt etwas dagegen, also wird die Äußerung als Konsens aufgefasst und der nächste Witz von Onkel Heinz wird etwas schärfer. Wenn man dann etwas dagegen sagen will, denkt man, man wird man dafür kritisiert werden, weil man ja zuvor auch nichts gesagt hat. Dadurch wird diese Normalität erzeugt und je “normaler” eine solche Einstellung ist, umso schwieriger wird es, sich dagegen aufzulehnen.
“Fremdenfeindlichen Einstellungen bilden Nährboden”
Was macht diesen “soziologischen Rechtsextremismus” so problematisch?
Möller: Diese fremdenfeindlichen Einstellungen bilden einen Nährboden für die Rekrutierung von Organisationsmitgliedern, für alltägliche Abwertungen und Diskriminierungen und für die Begehung von Straftaten.
Warum wird das so wenig thematisiert?
Möller: Wir haben da ein Eisbergproblem. In der Öffentlichkeit und den Medien wird vor allem die organisierte Form des Rechtsextremismus thematisiert. Das ist aber nur die Oberfläche des Problems. Wenn rechtsrextreme Parteien Wahlerfolge erzielen oder rechtsextreme Straftaten verübt werden, ist die Empörung groß. Dabei bietet die Gesellschaft den Nährboden dafür. Die Haltungen werden aber nicht, oder höchst selten, betrachtet.
Wer ist diese “Mitte der Gesellschaft”?
Möller: Das sind wir alle, die nicht als rechtsextrem gekennzeichnet werden oder sich nicht einmal als rechtsextrem verstehen.
Das würde ja bedeuten, dass wir alle diesen Rechtsextremismus in uns tragen. Sie rechnen sich da mit ein. Gibt es auch bei Ihnen Impulse und Reflexe, bei denen Sie sich selbst auf Ihre Haltung überprüfen müssen?
Möller: Ja, sicher. Dazu gehört beispielsweise das eigenartige Gefühl, wenn wir umgeben sind von lauter kopftuchtragenden Frauen auf einem türkischen Markt. Oder wenn wir in der S-Bahn fahren und nur nicht-deutsche Sprachen um uns herum wahrnehmen.
Was passiert in dem Augenblick?
Möller: In diesem Augenblick entsteht bei vielen Menschen ein Gefühl der Befremdung. Das kann ein ganz anregendes Gefühl sein, zum Beispiel, wie wenn man im Urlaub exotischen Dingen begegnet. In manchen Menschen entsteht aber ein Gefühl der Überfremdung. Da wird es kritisch, weil sich diejenigen auch entfremden können, wenn man nicht aufpasst. Ihr Gefühl sagt dann: “Meine Heimat ist nicht mehr meine Heimat.”
“Über sich selbst und die Gesellschaft nachdenken”
Es geht also um die Aufmerksamkeit, wie man mit neuen Erfahrungen umgeht?
Möller: Es geht darum, über sich selbst und die Gesellschaft zu reflektieren.
So etwas setzt Nachdenken voraus. Heißt das, dass nicht gut gebildete Menschen anfälliger sind als Akademiker?
Möller: Das kommt darauf an, was man unter “Bildung” versteht. Als Formalqualifikation verstanden, scheint es so zu sein, dass Menschen mit niedrigerem Schulabschluss anfälliger sind. Auf der anderen Seite zeigen Studien, dass der Zuwachs an rechtsextremer Zustimmung bei Menschen mit Abitur und Hochschulabschlüssen besonders hoch ist.
Der Schulabschluss ist also nicht ausschlaggebend?
Möller: Die Argumentation mit der Formalbildung greift viel zu kurz. Andere Studien zeigen, dass individuelle Fähigkeiten wie Reflexivität, Empathie und verbale Konfliktfähigkeit entscheidend dafür sind, ob man einigermaßen distanziert mit rechtsextremen Positionen umgehen kann. Das Problem ist, dass sich gerade an den Haupt- und Förderschulen diejenigen ballen, die Probleme mit der Entwicklung dieser Fähigkeiten haben. Außerdem kann man Gymnasiasten zuschreiben, dass sie um die soziale Erwünschtheit ihrer Äußerungen wissen. Sie sagen dann nicht so leicht ihre wahre Meinung, weil sie die Befürchtung haben, dass sie durch den Fragenden abgelehnt werden könnte und sie als Außenseiter dastehen.
Was muss passieren, damit sich das Gefühl entwickelt, sich durch rechtsextreme Äußerungen nicht mehr als Außenseiter zu sehen?
Möller: Dazu müsste sich der Rechtsextremismus normalisieren, wie wir es in manchen Regionen in Ostdeutschlands der Fall ist. In der sächsischen Schweiz zum Beispiel. Da ist es normal, dass NPD-Mitglieder im Kommunalparlament sitzen oder die NPD bei einer Bundestagswahl in einigen Ortschaften über fünf Prozent der Stimmen bekommt, wenn die Mitglieder ihre Plakate aufhängen und am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Dann würden Menschen, die sich politisch eigentlich rechts außen befinden, sich in der Mitte der Gesellschaft fühlen und hätten kein Problem mehr damit, sich zu outen.
Angst spielt große Rolle
Auch Mitglieder höherer Bildungsschichten?
Möller: Ja, wahrscheinlich. Je mittiger die eigene Position dasteht, umso eher würde man sich bekennen.
Was macht Menschen so empfänglich für solche Denkmuster der Überfremdung und Entfremdung?
Möller: Das sind vor allem das Gefühl bedroht zu werden und die Angst sozial und ökonomisch abzusteigen.
Es handelt sich also um ein Gefühl, nicht um eine reale Bedrohung. Wodurch fühlen diese Menschen sich bedroht?
Möller: Zum Beispiel dadurch, dass sich die Nachbarschaft verändert, weil zunehmend Migranten einziehen, oder dadurch, dass man Angst hat, gut ausgebildete Migranten, die in Deutschland einwandern, könnten Konkurrenten um Arbeitsplätze sein.
Wie verläuft diese Überfremdung und Entfremdung weiter ab?
Möller: Die Menschen suchen dann nach Verantwortlichen für dieses Bedrohungsgefühl und finden es in den Migranten. Anstatt also die wirtschaftliche Situation als Problem zu sehen, sehen sie die Migranten als Konkurrenten. Die Menschen fühlen sich dann mehr rechts gestimmt, als dass man ihnen aufgrund ihrer Argumente rechtsextreme Überzeugungen zuschreiben könnte.
Wie kann man an sich selbst herausfinden, ob man solche rechtsextremen Tendenzen in sich trägt? Wie erkennt man den Nazi in sich?
Möller: Das kann man etwa daran erkennen, dass man ein ungutes Gefühl hat, wenn man umgeben ist von Menschen, die dem äußeren Anschein nach einen Migrationshintergrund haben. Es kann aber auch sein, dass man als wohlmeinender Gutmensch in dieser Situation meint, sich über die Vielfalt der Kulturen freuen zu müssen, auch wenn man tief in sich drin solche Multikulti-Euphorie eher als politische Correctnesse denn als authentisches eigenes Gefühl verspürt.
Dabei sagen Äußerlichkeiten ja erstmal nichts über den kulturellen Hintergrund eines Menschen aus. Schon gar nicht in der Großstadt. Wie geht man denn damit um, wenn man in sich diese Tendenzen erkennt? Ignorieren ist da sicher nicht die richtige Lösung.
Möller: Man muss offen gegenüber sich selbst sein. Multi-Kulti ist komplex und schwierig und hat viele Aspekte und man muss sich der Konfliktlagen, die es gibt, bewusst sein. Menschen, die sich rechtsextrem orientieren, fühlen sich diesen Konfliktlagen stärker ausgesetzt. Und sie sind es auch tatsächlich häufiger.
Multi-Kulti ist schwierig – das sollte man auch thematisieren
Welche Rolle spielen die Medien in dieser Wahrnehmung?
Möller: Die Medien verstärken dieses Gefühl, indem sie diskursive Bilder des “bedrohlichen Ausländers” zeigen, anstatt auch positive Beispiele von Integration und Migration.
Was sind denn Beispiele, mit denen die Medien diese Vorstellungen und Ängste schüren?
Möller: Zum Beispiel mit Äußerungen wie “Das Boot ist voll”, wie es sie in den neunziger Jahren bei der BILD-Zeitung und auch dem Spiegel gab. Das tun sie aber auch, wenn Medien Multi-Kulti nur positiv darstellen und dabei die Konfliktlagen der Menschen am Rande dieser Gesellschaft nicht wahrnehmen.
Was könnte man anders machen?
Möller: Man sollte das weiter tun, was man bereits angefangen hat: Also auch die positiven Seiten von Migration darzustellen, wie beispielsweise den Migranten, der Zivilcourage gezeigt hat und sich für andere eingesetzt hat, die ehrenamtlich tätig sind. Aber man muss auch die Konfliktlagen, die es gibt, realistisch darstellen, und nicht Informationen zurückhalten.
Wie meinen Sie das “Informationen zurückhalten”?
Möller: Ein Beispiel: Nur wenige wissen, dass Beate Zschäpe womöglich einen rumänischen Vater hat. Durch ihren eigenen Migrationshintergrund würde ihre fremdenfeindliche Positionierung völlig diskreditiert. Meinem Eindruck nach wird das aber durch die Medien aber nahezu gar nicht verbreitet.
Anmerkung der Redaktion: Prof. Kurt Möller forscht an der HS Esslingen über Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit, Jugendarbeit, Jugendpolitik, Kultur- und Bildungsarbeit. Seine Schwerpunkte sind Gewalt, Rechtsextremismus, Fremden- und Menschenfeindlichkeit, männliche Sozialisation und Jungen- bzw. Männerarbeit, politische Sozialisation und Jugendkulturen.