Rhein-Neckar, 05. September 2016. (red/pro) Am 02. September 2015 wurde die Leiche des drei Jahre alten Aylan Kurdi in der Nähe des türkischen Ortes Bodrum angespült. Eine Journalistin fotografierte den kleinen Jungen, der bäuchlings am Strand lag, das Gesicht im Sand. Das Foto ging um die Welt und löste heftige Reaktionen aus. Manche bezeichnen es als „symbolträchtige Fotoikone“, die das Drama der Flüchtlingsbewegung in seiner Komplexität darstelle. In diesem Jahr sind 3.165 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Doch kein Bild geht um die Welt. Warum nicht?
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Von Hardy Prothmann
Der Deutsche Presserat stellte fest, dass die Veröffentlichung des Fotos des kleinen Aylan Kurdi als „Symbolbild für die Folgen des Syrien-Krieges, das Leid der Flucht, die Gefahren des Schlepperwesens“ zulässig sei.
Darüber kann man geteilter Meinung sein und ich halte die Veröffentlichung nicht für zulässig, weil ein schutzloses Opfer massiv in seiner Würde verletzt wurde. Man stelle sich vor, ein Kleinkind eines deutschen Prominenten, verunglückt bei einem Verkehrsunfall, stelle ein „Symbolbild“ für Verkehrstote dar… Der Prominente würde gegen jedes Medium vorgehen und gewinnen. Aber der kleine Aylan war ja nur ein syrischer Junge und wo kein Kläger, da auch kein Richter.
Symbolische Geschichte
Die Geschichte hinter dem tragischen Tod des Jungen wurde nie wahrhaftig erzählt. Als Schuldige wurden die Schlepper ausgemacht, tatsächlich wurden auch zwei Personen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Aber ist das die „wirkliche“ Geschichte? Schon kurze Zeit nach dem Unglück gab es viele Hinweise, dass der Vater möglicherweise der eigentlich Schuldige ist. Schließlich setzte er seine Familie in das Boot – ohne Schwimmwesten. Dazu hat ihn niemand gezwungen. Seine Frau und der Bruder von Aylan ertranken auch.
Große Zweifel müssen aufkommen, weil der Vater schilderte, der Schlepper sei von Bord gesprungen, als die Wellen zu hoch wurden. Er habe dann das Steuern übernommen. Wir wissen aufgrund unserer Recherchen, dass die Schlepper nie an Bord sind. Die Flüchtlinge bekommen den Motor kurz erklärt und werden dann auf die Reise geschickt.
Die Familie Kurdi hätte nicht fliehen müssen – sie war in der Türkei „sicher“. Ebenso wie die anderen Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind, nicht aus der Türkei hätten fliehen müssen. Die Türkei hat ihre Grenzen aufgemacht, weil das Land bereits über zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt und zu wenig Unterstützung von Europa bekam. Als Europa und vor allem Deutschland und der enormen Masse von über einer Million Flüchtlinge ächzte, kam es plötzlich sehr schnell zum „Flüchtlingsdeal“ und die Massenflucht endete schlagartig.
3,5 Milliarden Euro Umsatz mit Flüchtlingen
Die Schlepper machen ein kriminelles Geschäft. Geht man im Mittel von 3.500 Euro pro Flüchtling aus, haben diese Netzwerke 2015 rund 3,5 Milliarden Euro umgesetzt. Aber diese Schlepper konnten das Geschäft nur machen, weil man sie es machen ließ. Erst die Kriege trieben ihnen die Kundschaft zu bei gleichzeitig fehlender Einwanderungspolitik und internationaler Hilfe.
Wir haben mehrere Flüchtlinge zu ihrer Flucht befragt. Und alle Erzählungen waren ähnlich. Man wurde in ein billiges Schlauchboot mit kleinem Motor gesetzt. Meist zwischen 20 und 40 Personen, je nach Boot. Zusammen mit dem Motor kostet das Material zwischen 500 und 1.000 Euro, eine Fuhre brachte zwischen 70.000 und 140.000 Euro Umsatz. Die, die es schafften, wurde per Mobiltelefon von Griechenland über die Balkanroute bis nach Deutschland mit klaren Routenangaben geleitet – fast wie auf einer Art „Abenteuerreise“. Je nach Professionalität der Schlepper konnte man den Weg in zwei bis drei Wochen zurücklegen.
Weder die Behörden noch die großen Medien haben auch nur ansatzweise versucht, diese Netzwerke erstens trocken zu legen und zweitens transparent zu machen.

Zwei Drittel der Asylanträge in 2016 kommen von männlichen Flüchtlingen. Nur 136.000 von Menschen unter 16 Jahren. Quelle: BaMF
3.165 Tote im Mittelmeer – so viele wie noch nie
Seit Jahresanfang ist die Balkanroute ebenso nahezu dicht wie die türkischen Grenzen. Der Weg führt nun von Nordafrika übers Mittelmeer nach Europa. Die meisten müssen die Strecke nicht schaffen – die Schlepper setzen viel größere Boote ein und sobald diese auf der Reise sind, werden Hilfsorganisationen und andere darüber informiert. Die meisten Flüchtlinge werden dann auf See gerettet und mit stabilen Schiffen nach Italien gebracht. Trotzdem gibt es mehr und mehr Opfer. Bei Radio Vatikan ist zu lesen:
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind 2016 bereits 3.165 Menschen im Mittelmeer umgekommen. Das sind 509 Todesopfer mehr als in den ersten acht Monaten des Vorjahres. Laut IOM kamen auf den verschiedenen Mittelmeerrouten bis Ende August 2016 insgesamt über 272.070 Flüchtlinge nach Europa. Im Vorjahr kamen die meisten Flüchtlinge vor allem von der Türkei aus nach Griechenland. 2016 waren es aufgrund des EU-Flüchtlingsdeals mit der Türkei auf dieser Route bisher weniger, während die Fluchtbewegung von Nordafrika aus nach Italien aber weiterhin stark ist. Laut IOM kamen bis zum 28. August 163.105 Flüchtlinge nach Griechenland und 106.461 nach Italien.
Davon gibt es aber kaum noch Berichterstattung – warum? Nun, Auslandsberichterstattung ist sehr kostenintensiv. Die Medienökonomie bestimmt also die Inhalte. In der Türkei können Journalisten nur mit großen Problemen berichten – in Libyen nur unter absoluter Lebensgefahr, weswegen es von dort wie aus Syrien keine unabhängige Berichterstattung gibt.
Keine Herzgeschichten ausmachbar
Hinzu kommt, dass Berichte über Familien mit Kindern ans Herz gehen – tatsächlich ist der überwiegende Teil, nämlich zwei Drittel, im Jahr 2016 männlich, die allermeisten keine Kinder. Schaut man auf die Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BaMF), so sind von 468.000 Erstanträgen nur 136.000 Personen unter 16 Jahre alt. Es kommen also immer weniger Familien mit Kindern, sondern Erwachsene. Die geben aber keine mitleidigen Bilder ab. Und Gruppen von Schwarzafrikanern oder Nordafrikanern, die nur aus jungen Männern bestehen, erzeugen bei vielen eher Beklemmungen. Also verzichtet man darauf lieber – das könnte die Willkommenskultur noch mehr belasten, als sie eh schon ist. Zu erschütternd waren die Ereignissen in der Silvesternacht von Köln und anderen Städten.
Ebenso wie der Syrienkrieg erst ein Top-Thema war oder Griechenland-Krise oder der Bürgerkrieg in der Ukraine oder Böhmermann oder die Zustände in der Türkei oder oder, erliegt auch die Flüchtlingskrise der natürlichen Wanderbewegung der Medienökonomie. Das Thema ist „durch“, abgefrühstückt. Nicht mehr neu. Doch Medien wollen Neuigkeiten. Also sucht man sich neue oder schafft neue Berichtsfelder.
Man kann über die Bild-Zeitung zu Recht viel schimpfen – aber das Boulevard-Blatt ist die einzige deutsche Redaktion, die Aylans Vater Abdullah ein Jahr nach dem Unglück interviewt hat. Hat das aber viele interessiert? Eher nicht.
Herausforderungen der Integration sind zu abstrakt
Dass die Integration der über eine Million Menschen, zu denen jährlich einige weitere Hunderttausend dazukommen, in Zeiträumen von fünf, zehn und 20 Jahren zu denken sind, interessiert viele Medien nicht mehr. Zu viel Arbeit, zu abstrakt, zu wenig geeignet für Schlagzeilen.
Und die wenigsten Medien wollen mit nicht-genehmen Nachrichten unangenehm auffallen. Das könnte die Leute verstören und ist womöglich schlecht fürs Geschäft und irgendwelche Seilschaften.
Ein Jahr nach dem symbolträchtigen Foto des toten Aylan – was hat sich verändert? Aktuell gab es ein paar Symbolbilder von verletzten Kindern in Aleppo – aber die haben irgendwie nicht denselben Effekt gehabt. Man hat sich halt an die Bilder gewöhnt.