Rhein-Neckar, 04. Juli 2016. (red/pro) Seit einiger Zeit beobachten wir ein sehr bedenkliches Problem. Wir haben den Eindruck, dass sich immer mehr Menschen aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Also nicht persönlich selbst, sondern sie „packen“ nicht mehr, was öffentlich auf sie einprasselt. Zu viele Bomben, zu viele Tote, zu viele Krisen, zu viele Aufreger. Informieren wir uns bis zur Gleichgültigkeit?
Von Hardy Prothmann
Sie können mir glauben, dass mir gewisse Texte schwer fallen, auch wenn ich sonst ein sehr flinker und geübter Schreiber bin.
Warum fällt dieser Text schwer? Weil er eine durchaus existenzielle Frage aufwirft: Was, wenn plötzlich keine Leserinnen und Leser mehr da sind? Was, wenn allen alles zu viel wird und man vor lauter Viel einfach nur noch abschalten will? Nein, muss!
Abschalten? Darf man und muss man auch mal
Wir sind als Journalisten mit sehr vielen Menschen im Gespräch. Wann genau der zunehmende Rückzug angefangen hat, kann niemand genau sagen. Aber er findet statt. Woher ich das weiß? Weil ich mit Menschen rede. Vertraulich. Und immer öfter bekomme ich mit, dass man dies und jenes noch nicht gelesen hat, klar, irgendetwas mitbekommen, aber noch nicht damit befasst.
Und dann der Seufzer:
Hardy, ich bin jetzt mal ehrlich. Ich will mich ja informieren, aber ich merke, wie mich das alles mehr und mehr runterzieht. Überall, wo man hinschaut, nur Krisen und Konflikte. 80 Tote in Bagdad? Ok, wie viele waren es in Istanbul? Und wie viele nochmal in Paris? Schon wieder Menschen im Mittelmeer gerettet? Ok, wie viele sind gestorben? Irgendwie schäme ich mich – aber wenn ich ehrlich bin: Das berührt mich gar nicht mehr. Ich ziehe mich immer weiter raus. Das ist doch schrecklich. Und was ist sonst noch? Ach, der Brexit. Aber wer blickt da bitte noch durch, was eigentlich Sache ist? Ich hab doch auch nur die Zeit, die ich habe und alles ist einfach viel zu viel. Und irgendwie schäme ich mich, dass ich mich mehr für die EM interessiere als für Gesellschaft und Politik, aber das ist irgendwie Auszeit, keine Toten und die Krisen der Mannschaften? Interessiert mich nicht, ich guck zu, wie die dem Ball hinterherrennen und kann abschalten.
So oder so ähnlich äußern sich insbesondere Menschen, von denen ich weiß, dass sie sich eigentlich sehr für das Geschehen um sie herum und in der Welt interessieren. Dass sie es als eine „Pflicht“ auffassen, sich zu interessieren. Aber sie resignieren mehr und mehr. Das ist dramatisch.
Noch dramatischer wird es, wenn ich an die denke, die sich nicht so sehr interessieren und wann diese ausgestiegen sind. Das sind nämlich noch viel mehr.
Und wenn ganz viele Menschen sich nicht mehr interessieren, zunehmend „ignorant werden“, wie soll es dann mit der Gesellschaft weitergehen? Das ist ein echtes Problem. Ein existenzielles.
Niemand kann alle Nachrichten bringen oder verarbeiten
Wir beim Rheinneckarblog haben vielleicht ein wenig Glück. Wir haben nicht den Anspruch darauf, „alle wichtigen“ Nachrichten aus „aller Welt“ bringen zu müssen. Abgesehen davon, dass das keinem Medium weltweit gelingt (noch nicht mal „für die wichtigsten Nachrichten“), können wir uns auf unser Berichtsgebiet konzentrieren und da ist die Anzahl der „Horror-Meldungen“ überschaubar.
Wir haben aber auch bereits reagiert – durchaus auch aufgrund unserer mangelnden Ressourcen – gewisse Meldungen nicht mehr zu bringen. Der einfache Auffahrunfall irgendwo in Heidelberg ist uns keine Nachricht wert – mal ehrlich, wer will das wissen? Wer will ständig Bilder von bizarr verbeulten Autos auf der A5 sehen? Reicht nicht die Meldung? Oder die Zusammenfassung: Die Unfälle bleiben stabil, steigen, sinken.
Konzentration auf wesentliche Inhalte
Wir versuchen uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und selbst das muss lückenhaft bleiben. Aber die Lücke lässt auch Raum zu geistigen Erholung.
Beispiel Flüchtlinge: Die Unterstützer posten Meldungen aus aller Welt, wie schlimm man doch mit den Flüchtlingen umgeht. So verdichtet wirkt das wie ein alltäglicher Dauerzustand. Ist es auch, aber verteilt und die Summe macht nicht einen generell „schlimmen“ Zustand. Umgekehrt die Ablehner. Auch sie posten Meldungen aus aller Welt, wie schlimm doch die Flüchtlinge sind. Doch auch diese Beispiele bilden eine Summe, die nicht das Leben vor Ort widerspiegelt, sondern nur ihre jeweils eigene „Filterblase“.
Überhitzte Meldungslage
Die Medienlandschaft wäre gut beraten, die Töpfe nicht zu überhitzen – denn was dauernd brennt, brennt irgendwann mal an und wird ungenießbar.
Kein Wunder, wenn einem der Appetit auf Nachrichten vergeht.
Wenn Sie für sich selbst merken, dass es Ihnen zuviel wird, seien sie tapfer und reduzieren Sie den Nachrichtenstrom. Machen Sie weniger Facebook, hören Sie im Auto ein Audiobuch statt Staumeldungen und die immer und überall gleichen, umgeschriebenen Agenturmeldungen. Konzentrieren Sie sich darauf, was Sie als wichtig für sich selbst betrachten. Lernen Sie an sich selbst, was Sie für wichtig halten und was für verzichtbar.
Klar, Sie können auch uns abschalten – uns wäre es lieber, wenn nicht
Wir bieten Ihnen dafür immer wieder Analysen an, nicht gehechelte Nachrichten, um ja möglichst viel zu vermelden, sondern oft lange, ruhige Stücke, die Zusammenhänge aufzeichnen. Klar, manchmal spitzen wir auch zu – aber nur, wenn wir wirklich davon überzeugt sind, dass etwas so bedeutend ist, dass man dies derart auch deutlich machen muss.
Wir wollen Sie gut informieren und wir würden es sehr bedauern, wenn es Ihnen zu viel wird und Sie deshalb auch bei uns weniger lesen, teilen, kommentieren. Ja – und auch, wenn das schwerfällt -, wir könnten es trotzdem verstehen.
Wir versuchen uns anzupassen, so gut das eben geht
Deshalb arbeiten wir schon länger daran, stärker auszuwählen und zu gewichten. Wir haben nämlich festgestellt, dass insbesondere unsere Reportagen, Analysen, Porträts viel besser gelesen werden, als schnelle Nachrichten. Denn das sind unsere exklusiven Stücke. Heute ist wieder so ein Tag, wir haben relativ wenige Artikel veröffentlicht, die Zugriffszahlen sind trotzdem hoch und konzentrieren sich auf die Autorenartikel.
Wir wissen, dass Ihre Zeit wertvoll ist und wollen diese nicht vergeuden – irgendwie müssen wir dazu die richtige Mischung für mehrere tausend Leser täglich finden.
Machen Sie mit – beeinflussen Sie uns
Aktuell werten wir unsere Leserbefragung aus, die viele wichtige Hinweise gibt. Sie können gerne hier mit Kommentaren weiter Einfluss auf uns nehmen und uns mitteilen, was Sie gut finden und was nicht, was Sie von uns erwarten und was nicht.
Wir begreifen unser Angebot als ein tagesaktuelles Magazin, was veröffentlicht wurde, steht auch später als Archiv zur Verfügung, aber irgendwie sind jeder Tag und jede Woche anders und wir versuchen, mit unserer Themenmischung ein interessantes Angebot zu erstellen, das Sie auch gut verarbeiten können.
P.S. Ich kann die Freundin, die ich oben beispielhaft für viele andere Kontakte wiedergegeben habe, übrigens sehr gut verstehen, weil ich genau das auch bei mir feststellen kann. Aber: Nachrichten sind mein Beruf. Also zwinge ich mich und gehe professionell damit um, auch, wenn es schwerfällt. Wir wählen Themen nicht danach aus, ob sie uns gefallen, sondern ob diese Ihnen „gefallen“ könnten, also für Sie interessant sind, selbst wenn diese uns persönlich nicht interessieren. Umgekehrt bringen wir auch immer wieder Geschichten, die wir für wichtig halten, egal, ob diese oft gelesen werden oder nicht. Deshalb können wir auf eine zunehmend skandalgetriebene Berichterstattung verzichten und halten das für gut so.
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Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….