Rhein-Neckar, 04. Februar 2013. (red/mainpost.de) Die Sexismus-Debatte tobt seit der „Enthüllung“ des Magazins stern über anzügliche Sprüche des FDP-Kanzlerkandidaten Rainer Brüderle (67), die dieser gegenüber der Journalisten Laura Himmelreich (29) geäußert haben soll. Über Twitter wurden tausende Meldungen mit dem Hashtag #aufschrei verschickt – alle Welt redet über Sexismus, was das ist, sein kann oder könnte und was man dagegen unternehmen kann, muss oder soll. In unserem Gastbeitrag schildet die Mainpost-Journalistin Gisela Rauch ihre Gedanken zum Thema: „Leider werden in der aktuellen Sexismus-Debatte solche dämlichen Anmachversuche a la Brüderle, die Frauen durchaus verbal kontern können und sollen, vermischt, vermengt und unzulässigerweise auf eine Stufe gestellt mit wirklichem männlichem Machtmissbrauch.“
Von Gisela Rauch
Als Frau, die Frauenquoten richtig, mehr Frauenrechte wichtig und Machtmissbrauch durch Männer unentschuldbar findet, müsste ich eigentlich die aktuelle Sexismus-Debatte begrüßen. Müsste mich froh einreihen in die Schar derer, die, Rache witternd für frühere Demütigungen, ihr Gedächtnis durchkramen nach männlichen Übergriffen. Müsste der „Stern“-Autorin, die ein Jahr nach einem späten Bar-Besuch wortreich beschreibt, wie Rainer Brüderles Blick an ihrem Busen haften blieb, dankbar sein dafür, dass sie mit ihrem Text die Debatte auslöste. Das bin ich aber nicht: Die Sexismus-Debatte nervt nicht nur; sie schadet.

Gisela Rauch findet, dass die Sexismus-Debatte nicht nur nervt, sondern auch schadet. Foto: Mainpost
Als Folge der aufgeregten weiblichen Anklagen in Print, Talk und über Twitter überlegen derzeit nämlich gerade die nettesten und des Sexismus unverdächtigsten Männer, ob sie es noch riskieren können, allein mit der Auszubildenden Aufzug zu fahren, der Kollegin ein Kompliment zu machen oder der deprimierten Nachbarin den Arm um die Schultern zu legen. Die Befürchtung, dass eine harmlose Geste zu ihren Ungunsten ausgelegt werden könnte, beschäftigt Männer jetzt, blockiert sie vielleicht demnächst. Damit nähern wir uns, was Verkrampftheit zwischen Geschlechtern betrifft, den Verhältnissen im hyperkorrekten Amerika an, wo ein sechsjähriger Knirps, der seine sechsjährige Mitschülerin küsst, schon mal von der Polizei abgeführt wird.
Die Hoffnung, dass Männer sich durch die krude Debatte auch künftig nicht von authentischen Gefühlsäußerungen abhalten lassen, beinhaltet selbstverständlich keine Billigung sexueller Übergriffe. Wenn Männer eine Situation, ihre körperliche Überlegenheit oder ihre Macht missbrauchen, um sich einer Frau gegen deren Willen sexuell zu nähern, dann ist das verurteilenswert; moralisch wie juristisch. Bei Brüderle lag die Situation aber offenbar anders: Da hat ein älterer Mann nach ein paar Gläsern Wein einer jungen Frau aufs Dekolleté gestarrt und sich darüber anerkennend geäußert. Sicher war das – gerade für einen erfahrenen Politiker – erstens billig und zweitens dämlich. Dass sich aber der FDP-Mann der Journalistin gegenüber sexistisch verhalten habe – dass er sie also aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert habe – das kann man ihm nicht vorwerfen.
Leider werden in der aktuellen Sexismus-Debatte solche dämlichen Anmachversuche a la Brüderle, die Frauen durchaus verbal kontern können und sollen, vermischt, vermengt und unzulässigerweise auf eine Stufe gestellt mit wirklichem männlichem Machtmissbrauch. Wenn Chefs Mitarbeiterinnen begrapschen, in dem Wissen, dass diese Frauen das hinnehmen müssen aus Angst, den Job zu verlieren, – dann ist das Sexismus. Wenn Präsidenten Praktikantinnen verführen und Promi-Hotelgäste Putzfrauen überfallen, dann besteht ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis, das ausgenutzt wird. Die Widerlichkeit solcher Verfehlungen wird abgeschwächt, wenn sie in einem Atemzug mit dem Brüderle-Vorfall genannt werden.
Männer in Deutschland haben immer noch deutlich mehr Vermögen als Frauen, höhere Renten- und Sozialleistungsansprüche, höhere Einkommen und – trotz schlechterer Abschlüsse – mehr Führungspositionen. Das sind Männer-Macht-Strukturen, über die es sich aufzuregen lohnt. Brüderle aber – ihn kann man vergessen.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel ist zuerst bei der Mainpost in Würzburg erschienen. Wir danken der Redaktion für die Erlaubnis der Übernahme.