Heidelberg, 04. Mai 2017. (red/cr) Die Themen Flucht und Migration gehen auch in diesem Jahr nicht am Heidelberger Stückemarkt vorbei. Doch das sind schwierige Themen, besteht doch immer die Gefahr, über persönliche Geschichten und Mitleid nicht hinauszukommen. Die Uraufführung „Kein schöner Land“ am vergangenen Montag fiel vor allem durch die für das Publikum anstrengende Form auf – keine Figuren, keine Handlung. In die Mitleidsfalle sind die Autoren nicht getappt. Trotzdem verspielt das Stück Potential.
Von Christin Rudolph
Keine Figuren. Keine Geschichte. Keine klare Botschaft. Kaum Gespräche, vor allem Durcheinander- und Aneinander-vorbei-Gerede. Über Albträume, Mutters Semmelknödel, die Fahrt über das Mittelmeer, das neue iPhone, Folter. Und immer wieder Volkslieder.
Das dokumentarische Schauspiel „Kein schöner Land“ trägt nicht nur ein deutsches Volkslied im Namen. Volkslieder tragen auch das Stück, sie sind die einzige Konstante, die die fragmentarischen Szenen zusammenhält. Der siebenköpfige Chor ist einer, der präzise spricht und singt und beides ineinander übergehen lässt.
Aneinander vorbei statt miteinander
Sie kommen aus der Mitte des Publikums. Sie sind Väter, Töchter, Ehefrauen, Migranten, alle gleichzeitig, die miteinander, übereinander und im Chor sprechen. Einzelschicksale und abgedroschene Phrasen, die durch ihre Münder wandern. Doch einer stört und lockt sie schließlich von ihren Plätzen im Zuschauerraum – der Mann auf der Bühne.
Er ist „die Geflüchteten“, er kommt aus Afrika, aus dem Iran, aus Afghanistan und irgendwann auch aus Syrien, denn, so erklären ihm die Deutschen:
Wir sind doch alle aus Syrien. Oder wären es zumindest gerne.
Er würde gerne in dem Chor mitmachen, bitte. Doch die Deutschen sind viel zu beschäftigt. Sie verbessern sein gutes Deutsch und bringen ihm bei, ein guter Flüchtling zu sein. Zu sagen, was sie sagen – dass er sieben Kinder hat, die deutsche Landschaft und das deutsche Wetter mag. Dass man sich an die Regeln hier zu halten hat.
Geflüchtete stören die „deutsche Ordnung“
Sie verlieben sich in einen jungen Kosovaren, der abgeschoben werden wird. Sie haben eine Affäre mit einem Marokkaner, der sie vielleicht nur ausnutzt. Oder sie ihn? Mal sind sie skeptisch, dann voreingenommen, dann zweifeln sie. Aber sie sind nicht ängstlich.
Dabei will der fremde Mann von sich erzählen, von den vielen, von der Folter in Gefängnis, von den Massakern, von der Irrfahrt im Mittelmeer. Sie alle wollen Menschen sein. Aber sie stören immer wieder die Ordnung in Person: den Hausmeister.
Er ist den ganzen Abend über präsent. Die meiste Zeit fegt er den sauberen Boden ganz vorne am Rand der Bühne. Die Chormitglieder weichen ihm aus, an den fremden Mann stößt sein Besen an.
Verständnis und Zweifel
Doch auch die Personifikation der Ordnung ist ein Mensch. Das Schicksal des Geflüchteten bewegt ihn. Und er zweifelt am eigenen Land.
Hier wird so wenig gesungen. Wir sind hier nicht fröhlich!
Die Collage besteht aus hoffenden, verzweifelten und verunsicherten Stimmen. Was nicht vorkommt, sind die Ängstlichen und Wütenden, „Merkel muss weg!“ und „Grenzen zu!“. Lothar Kittstein, neben Hüseyin Michael Cirpici einer der beiden Autoren des Stückes, schreibt zwar im Begleitheft, neben Interviews mit Geflüchteten seien „Fundstücke aus Internetforen, Facebook-Debatten, Leserkommentaren, online-Ratgebern“ das zweite Rückgrat des Textes.
Themen nur angerissen
Doch Angst und Hetze werden in einer einzigen Szene abgebildet, die nicht recht zum übrigen Stück passen will. Sie provoziert: Aus dem Mund eines Afrikaners kommt die Warnung, das deutsche Volk werde seine Kultur verlieren. Wenn immer mehr Geflüchtete nach Deutschland kommen, drohe Bürgerkrieg.
Dreimal noch der Hitlergruß und das war es für den gesamten Abend. Ohne Zusammenhang wirkt die Szene übertrieben und absurd.
Ein anderes Thema, das eher abgehakt als behandelt wurde, ist das Verhältnis von Migranten untereinander. In einer einzigen Szene, einem Monolog, erzählt ein Chormitglied von der Unfähigkeit der Deutschen „zu kämpfen“ und sich gegen die Türken zu wehren. Sie verbleibt mit der Botschaft, die Osteuropäer hätten damals „geholfen“ und würden es auch jetzt im Falle der Geflüchteten tun. Ein interessanter Ansatz, der jedoch aufgesetzt wirkt und nicht ausgeführt wird.
Fragmente ergeben unscharfes Bild
Am Ende vereint sich der Chor der Deutschen wieder. Es wird resümiert, man dürfe sich nicht spalten lassen und müsse einfach nur gemeinsam „nach Berlin ziehen, dann können die Politiker nichts anders, als zurückzutreten“.
Tritt da ein Mitglied der Chores plötzlich als Idealist auf? Ist er jetzt der Messias, der die doch so einfache Lösung ausspricht? Soll das die Botschaft dieses Theaterstücks sein? Dass einfach „die Politiker“ an allem schuld sind? Oder ist er ein Verschwörungstheoretiker?
Ein weiteres Fragment, das ohne Einordnung im Raum steht. Bei einer Collage ergeben viele kleine Teile ein großes Bild. Doch dieses große Bild bleibt unscharf, weil die Zusammenhänge schwer zu erkennen sind.
Mehr Verwirrung als Denkanstoß
Die Autoren sind dem eigenen Anspruch, kein Stück über Mitleid mit Geflüchteten als Opfer zu machen, gerecht geworden. Es bildet sicherlich nur einen Teil des Stimmengeflechts eines verunsicherten Deutschlands ab. Doch kann man denn alles auf der Bühne abbilden?
Ohne Figuren oder Handlung ist es anstrengend, zuzuhören, zuzuschauen und zu folgen. Wer sich bereits etwas mit Migration und Flucht auseinandergesetzt hat, wird kaum überrascht werden. Das Heidelberger Publikum jedenfalls nahm die Uraufführung gut auf.
Beim Heidelberger Stückemarkt zeigt das Theater Heidelberg noch bis zum 07. Mai Gastspiele. Gastland ist in diesem Jahr die Ukraine.