Rhein-Neckar, 04. September 2015. (red) Das ertrunkene, tote Kind am Strand des türkischen Badeorts Bodrum ging als Foto um die Welt. Die moralische Empörung ist hoch. Die Emotionalisierung sowieso. Der Verstand scheint gleichzeitig bei vielen aber vollkommen auf der Strecke zu bleiben. Denn was man „sieht“ ist nicht immer, was „ist“. Was behauptet wird, ist nicht immer gleich „wahr“. In vielen Ländern der Welt herrscht Krieg und das erste Opfer ist immer die Wahrheit – was auch immer das sein soll.
Von Hardy Prothmann
Ich befinde mich zur Zeit im Urlaub. In Kroatien. Angesichts der dramatischen Entwicklungen mache ich Teilzeit-Urlaub – ein paar (mehr) Stunden (als gedacht) verfolge ich das Weltgeschehen. Vor zwei Tagen war ich selbst Skipper, verantwortlich für sechs Menschen auf einem 5,45-Meter Boot. Wir starteten bei sehr ruhiger See. Im Laufe des Tages frischte es auf. Ich habe fünf Betriebsstunden am Ruder gestanden und damit rund die dreifache Strecke zwischen Bodrum und Kos.
Ich kenne niemanden, der zur See fährt und vorsätzlich sein Leben riskiert. Niemanden. Und ich bin seit 20 Jahren immer wieder auf See. Deswegen hatte ich sofort erhebliche Zweifel über die Story, dass ein Schlepper nach vier Minuten Fahrt über Bord springt und Flüchtlinge ihrem Schicksal überlässt.
Das tote Kind. Ein entsetzlich-brutales Foto. Es soll ein Kriegsfoto sein. Und der Hintergrund ist Krieg. Doch keine Bombe hat den Jungen zerfetzt. Kein Blut ist sichtbar. Der kleine Kerl ist ordentlich angezogen. Aber jedem ist klar, wer so da liegt, von Wellen umspült, kann nur eine Leiche sein. Ist tot. So, wie er da liegt. Irgendwie zur Strecke gebracht.
Solange ich entscheiden kann, werden Sie niemals ein solches Foto bei uns sehen können. Der 3-jährige Junge ist tot und vollkommen schutzlos. Artikel 1 unseres Grundgesetzes sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Damit sind alle Medien, die die Würde des toten Kindes nicht achten, fein raus. Sie sind nicht Staat, sondern privat. Für meine Redaktion gilt der Grundsatz: Privat ist privat und öffentlich ist öffentlich.
Dieses Kind ist privat gestorben. Seine Leiche liegt ungeschützt am Strand und ich halte die Veröffentlichung für eine journalistisch-moralische Verfehlung. Klar ist: Alle deutschen Medien rechnen nicht mit Schadensersatzklagen und Abmahnungen – ist ja schließlich nur ein arabisches Kind von irgendwo. Bei einem deutschen Kind hätte sich kaum einer getraut.
Ich habe heute mit sehr, sehr vielen Kollegen von kleinen und großen Medien dazu korrespondiert. Einige zeigen die Fotos, andere nicht. Ich verstehe den Druck derer, die das Foto zeigen und ich bin froh um alle, die das nicht tun.
Zur ethischen Frage, ob man das Foto als Medium zeigen sollte, empfehle ich den Kommentar von Alan Posener in der Welt – den hätte ich so ähnlich geschrieben und kann mir das also aufsparen.
Als ich 2004 nach dem Tsunami aus Thailand berichtet habe, habe ich eine Szene beobachtet, die einem das Blut gefrieren und das Herz zerreißen lies: Eine Mutter hatte „ihr“ Kind entdeckt. Aufgedunsen und halb verwest. Ihr Schrei erschütterte alle vor Ort. Sie presste die Leiche an sich, küsste sie, schmuste sie. Legte sich zur ihr und konnte nur mit Gewalt von ihr getrennt werden. Und die Mutter weinte ohne Ende. Zwei Stunden später war klar, das konnte nicht ihr Kind sein. Ihres war zwei Jahre alt, die Leiche, die sie als ihr Kind identifiziert hatte, war ein vierjähriges Kind.
Ich hatte Fotos und Videos von der Szene – sie hätte sich „wunderbar“ verkaufen lassen. Emotionaler ging nicht. Und vermutlich hätte nie jemand nachgefragt und ich hätte sehr viel Geld verdienen können. Ich bin Journalist und der Wahrheit verpflichtet. Geld muss ich wie jeder verdienen, meine Seele gehört mir, die verkaufe ich nicht. Auch nicht die von anderen.
Dieses Foto: Eine Mutter küsst ihr vermeintliches Kind, eine verweste Wasserleiche, war „sehr stark“ – ein Jahrhundertfoto. Die üblichen Medien hätten es gebracht. Ich habe auf mehrere zehntausend und mehr Euro verzichtet. Für die Mutter, für das Kind, für die andere Mutter.
Extremsituationen ergeben Extremsituationen. Extreme Wünsche, extreme Hoffnungen, extreme Darstellungen.
In diesem Artikel befinden sich viele neue, eigene und nicht dem Herdentrieb der Medien geschuldete Informationen.
Der „grausame“ Verdacht liegt nahe, dass für die fürchterliche Trägodie eben nicht „Schleuser“ verantwortlich sind, sondern möglicherweise der Familienvater selbst, der Frau und zwei Kinder verloren hat. Hat nicht die „europäische Flüchtlingspolitik“ seine Familie auf dem Gewissen, sondern er selbst? Diese Frage muss gestellt und recherchiert werden – wir können das nicht, große Medien schon. Doch interessiert das jemanden? Oder machen Medien nur ihre Horror-Auflage und andere kochen ihr eigenes Süppchen?
Eines ist klar: Es kursieren mittlerweile mehrere unterschiedliche „Stories“, wie sich die Tragödie zugetragen hat. Teils scheinen Informationen übereinzustimmen, teils eben gar nicht.
Tatsache ist: Es gibt dieses Foto des toten Kindes, aber es gibt keine seriöse Recherche bislang dazu, dafür aber eine enorme Kampagne, angetrieben von der Bild-Zeitung, weiterverbreitet über alle, die nachziehen.
Zusammen mit internationalen Quellen kommen wir zu der These, dass die Story vielleicht eine ganz andere ist. Die eines verzweifelten Familienvaters, der vollkommen unverantwortlich sich und seine Familie und andere Menschen ohne absolute Not in Gefahr gebracht hat.
In den vielen internationalen Versionen des Ablaufs passt nur wenig zusammen. Die Meldung der DHA klärt aber scheinbar viele Fragen.
Denn kein Schlepper riskiert sein eigenes Leben und sein Boot, wenn das Meer kein Überfahrt erlaubt. Soll man wirklich glauben, dass ein Schlepper nach vier Minuten Fahrt über Bord springt?
Andere Medien berichten, die griechische Küstenwache hätte den Familienvater gerettet. 500 Meter vor der türkischen Küste? Im Leben nicht.
Das Boot verliert Luft – soll man glauben, dass es eine Panik wegen „hohen Wellen“ gab oder eher fragen, wann ein Schlauchboot Luft verliert? Ein Schlauboot, dass kentert, verliert keine Luft, eins, das aufläuft, schon. Hat der Bootsführer das Dingi auf eine Untiefe gesetzt und aufgeschlitzt?
Zwei Mal soll die Familie eine Überfahrt versucht haben – war das dritte Mal ein „privates Kommando“? Hat der Familienvater sich eventuell selbst als Schlepper betätigt und ist selbst verantwortlich für den Tod seiner Frau und den beiden Kindern, weil er meinte, 1,5 Stunden übers Meer von der Türkei auf eine griechische Insel können doch nicht so schwer sein?
Leider zeigen sich große deutsche Zeitungen sehr rechercheschwach – andere Medien ebenso. Ich habe meine Infos an Kollegen von großen Medien weitergereicht und bin gespannt, was sie draus machen.
Für mich und Sie, liebe Leser/innen, ist klar, dass das Foto des kleinen Jungen nicht zur Legendenbildung taugt. Der Junge ist tot und sein Schicksal ist dramatisch. Das Foto rührt jeden Menschen, der ein Herz hat.
Aber ein Foto ist ein Foto und keine Geschichte. Was steckt dahinter? Wie kam es dazu? Warum, wieso, wer war beteiligt, wie? Es ist nicht herzlos, sondern notwendig, diese Fragen zu stellen. Sonst macht man keinen Journalismus, sondern Propaganda.
Jeglicher Versuch der Rechtfertigung, dass man dem kleinen Menschen seine Würde nimmt, indem man ihn so elendig zeigt, ist vergeblich. Er taugt nicht als „Symbolbild“ für sonstwas. Er ist tot, sein Name ist bekannt, es gibt wilde Geschichten um die Umstände und all das ist unmenschlich. Unwürdig.
Ich empfehle jedem, der anders denkt, den Jungen als Sohn, Neffen, Spielkamerad der eigenen Kinder zu sehen und dann nochmal zu argumentieren.
Ebenso unwürdig ist, dass viele große Medien einsteigen. Sie wissen um die Symbolkraft des Fotos. Und sie nutzen diese. Aber sie recherchieren nicht – und verlieren damit ihre Würde.
Passen Sie auf sich auf – das meint auch die Nutzung von Medien. Nicht immer werden Sie gut informiert und die Risiken sind erheblich.
Es bleiben beispielsweise Fragen, wie es überhaupt zu diesen Fotos kommen konnte? Hat die Polizei nicht abgesperrt? Oder hat man gezielt Reporter eingeladen?
Fragen und die Suche nach Antworten machen Journalismus aus – nicht emotionale Fotos ohne Hintergrund.
Die europäische Flüchtlingspolitik ist aktuell konkret gescheitert – der Journalismus ist zu nah dran an der Politik und scheitert mit.
Ich hoffe sehr, dass Kollegen von großen Medien sich die Recherche leisten und die echte Geschichte hinter dem Foto des toten Kindes aufschreiben.
Es wäre das Ehrlichste und Anständigste, was diesem tragischen Schicksal angemessen ist. Die Veröffentlichung eines Fotos ist kein Journalismus, sondern im Zweifel die Bedienung von Voyeurismus.
Insbesondere für alle Medien, die nichts tun, als Bildmaterial und Agenturberichte zu kaufen und zu verbreiten. Ohne jegliche eigene Anstrengung.