Heidelberg, 03. August 2015. (red) Hochkultur und Unterhaltung – lässt sich das vereinbaren? Lassen sich Kunstanspruch und Popularität miteinander verbinden, oder ist der Versuch, populär zu sein, automatisch ein Ausverkauf an den Kommerz? Rund 2,4 Millionen Gäste besuchen regelmäßig Theater in Deutschland. Das ist eine Menge. Dennoch werden Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden weniger erfolgreich oder gar nicht angesprochen. Holger Schultze, Intendant des Theater und Orchester Heidelberg, erläutert in einem Gastbeitrag für unsere „Montagsgedanken“ welchen Anspruch modernes Theater aus seiner Sicht zu erfüllen hat.
Gastbeitrag: Holger Schultze
Wenn Sie Leuten erzählen, dass Sie am Theater arbeiten, fällt den meisten sofort eine Inszenierung ein, die sie gesehen haben, die besonders toll oder besonders furchtbar war. Und selbst wenn sie diesen Inszenierung gar nicht selber gesehen haben, sondern nur davon gehört oder nur davon gelesen, haben sie eine dezidierte Meinung dazu: Zu modern, zu provokant, zu langweilig, zu anbiedernd.
Manchmal höre ich, dass früher alles besser war, manchmal lässt jemand durchblicken, dass alles jenseits der Theaterhauptstadt Berlin eigentlich sowieso nur Provinztheater ist, jedenfalls mangelt es selten an Gesprächsstoff. Zum Theater haben scheinbar alle eine Meinung. Aber geht das Theater auch tatsächlich alle an?
Diese Frage stellte Barbara Hornberger von der Universität Hildesheim Anfang des Jahres bei einer Konferenz, an der ich teilgenommen habe, und diese Frage ist eine, die uns Theatermacher natürlich permanent beschäftigt. Wir wissen, dass 2,4 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig ins Theater gehen und das ist alles andere als wenig – auf der anderen Seite gibt es auf der anderen Seite ein paar Millionen mehr, die den Weg ins Theater nicht finden.
Ein Theater für alle
Am Theater und Orchester Heidelberg haben wir eine außerordentlich gute Platzausnutzung – aber das lenkt nur von der Tatsache ab, dass wir trotzdem bestimmte soziale Schichten nur schwer erreichen. Wenn man sich als Intendant also nicht nur auf den guten Zahlen ausruhen und sich über die vielen Abonnenten und treuen Zuschauer freuen will, sondern sich darüber hinaus einen möglichst heterogenen Zuschauerraum wünscht, der sich sowohl alterstechnisch als auch sozial möglichst weit durchmischt, muss man sich fragen, wie die Idee eines „Theaters für alle“ zu gestalten ist.
Jeder Kollegenintendant, mit dem ich mich unterhalte, wünscht sich, dass sein Haus der kulturelle Mittelpunkt der Stadt ist, wo auch Jugendliche ein und aus gehen, wo Menschen mit Migrationshintergrund einen identitätsstiftenden Ort finden, wo Diskussionen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfinden und in diesem Sinne lebendiger und fruchtbarer Diskurs gelebt wird.
Wir wollen als Institutionen gleichzeitig traditionsbewusst und avantgardistisch sein, intellektuell und attraktiv. Wir wollen populär sein, aber trotzdem dem eigenen Kunstanspruch gerecht werden. Und hier fangen die Begrifflichkeiten an, problematisch zu werden. Ich schreibe „trotzdem“ – und trenne damit scheinbar unbewusst die „populäre“ Kunst von der „richtigen“ Kunst, trenne E und U, setze den Unterschied zwischen Hochkultur und Trivialkultur und möglicherweise liegt hier schon ein gravierender Fehler.
Unterhaltung = Erfolg?
Die sogenannte „gute Unterhaltung“ liegt bei allen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zu Kulturinteresse und Kulturnutzung als Motivation für Kulturbesuche an erster Stelle, gefolgt vom „Live-Erlebnis“ und „guter Atmosphäre“. Es ist also naheliegend, dass Popularität im Sinne des Zuschauererfolgs eng verknüpft ist mit dem Aspekt der Unterhaltung: Je mehr Unterhaltung, desto mehr Zuschauerinteresse?
Die Schlüsselfrage, mit der wir Theatermacher uns in der Konsequenz auseinandersetzen müssen, lautet demzufolge: Lassen sich Kunstanspruch und Popularität miteinander verbinden, oder ist der Versuch, populär zu sein, der Ausverkauf an den Kommerz? Wenn Kultur als Unterhaltung wahrgenommen wird, geht es nicht in erster Linie um Verstehen, sondern um Teilhabe, um unmittelbare Zugänglichkeit, um Emotionalität, um Spaß.
Wenn man in Deutschland die Bevölkerung fragt, „Was verstehen Sie unter Kultur?“, dann werden sie Goethe, Schiller, Rembrandt und ähnliche Schwergewichte als Antwort bekommen. Was Sie nicht hören werden ist Helene Fischer. Oder Breaking Bad. Das, womit sich die meisten Menschen in ihrer Freizeit beschäftigen, wird also weniger als Kultur wahrgenommen, weil in unseren Köpfen nach wie vor ein sehr enger Kulturbegriff verankert ist. Darin unterscheiden wir uns in Deutschland radikal von anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder England, deswegen wurde sogar der Begriff der sogenannten „German Angst vorm Populären“ erfunden.
Angst vorm Populären
Einer, der diese Angst als Ausnahmeerscheinung permanent durchbricht, ist der Australier Barrie Kosky, der als Intendant der Komischen Oper in Berlin die Unterscheidung zwischen E und U massiv nicht akzeptiert und damit eben genau nicht selbstverständlich großen Erfolg hat. Von ihm lautet auch der bezeichnende Satz:
Die Deutschen und vielleicht auch die Österreicher empfinden eine Art Schuld, wenn Sie Spaß haben. Das ist ganz schlimm.
Natürlich gibt es für dieses sehr deutsche Phänomen gute Gründe in der Vergangenheit. Schon im 18. Jahrhundert hat sich mit Schiller und Goethe ein traditionelles Bildungsbürgertum herausgebildet, das sich gegen den Pomp und das eventorientierte Spektakelbedürfnis des Adels definierte. Philosophisch waren es Intellektuelle wie Horkheimer und Adorno, die populäre Kunst als Volksverdummung, beziehungsweise Manipulation der Massen ablehnten.
Und nicht zuletzt hat der Nationalsozialismus und sein Umgang mit Kunst und Kultur einen massiven Beitrag zur „German Angst vorm Populären“ beigetragen. Unterhaltung oder noch schlimmer auf englisch, Entertainment, ist in Deutschland also negativ besetzt – dabei gehören Vergnügen und Berauschen doch eigentlich zu den ganz großen Stärken des Theaters von Anfang an. Man kann tief berühren und tief komplexe Ideen auf die Bühne bringen und immer noch unterhalten.
Relevanz ist unvorhersehbar
Kultur, ob populäre oder nicht, ist eine Form, in der Individuen, aber auch Gesellschaften über sich selbst nachdenken. Wir Theatermacher setzen Themen und Stoffe auf die Bühne, von denen wir denken, dass sie von breiter gesellschaftlicher Wichtigkeit sind. Das, womit wir uns beschäftigen, finden wir relevant – und wollen diese Relevanz mit unseren Zuschauern teilen, uns gemeinsam in der Arbeit damit auseinandersetzen.
Diese Art von Relevanz bleibt aber trotzdem eine antizipierte und damit auch eine subjektive. Erst, wenn die Menschen tatsächlich in unser Theater kommen, beweist sich, ob das, was wir relevant finden, auch tatsächlich die Menschen angeht, für die wir Theater machen wollen. Die Bedeutung unserer Inszenierungen lässt sich also nicht im Vorhinein bestimmen, sie entsteht erst im kommunikativen Prozess mit den Zuschauern und das macht es im Grunde auch erst so interessant, weil unvorhersehbar.
Theater als Impulsgeber
Will man als Theater populär sein oder Erfolg haben, nützt es eben noch lange nichts, wenn man guckt, was der Mainstream will und sich diesem Geschmack dann künstlerisch anpasst. Und es nützt ebensowenig, wenn man nur guckt, was man selber interessant findet und dann hofft, dass das Publikum das auch relevant findet. In einer durch Migration, Internationalisierung und Digitalisierung sich stark veränderten Gesellschaft verändern sich kulturelle Interessen und es wäre fahrlässig, diese Tendenzen als Theater einfach zu ignorieren.
Gerade deshalb ist Theater nicht nur Bildung, Tradition und Aufklärung, sondern auch Experimentstätte, Impulsgeber, Denkanstoßer. Grundlage der Theaterarbeit darf nicht in erster Linie Popularität sein, selbst wenn man sie sich insgeheim wünscht. Künstlerische Kreativität lässt sich nicht standardisieren und es gibt Gott sei Dank auch kein Patentrezept für geglückte Inszenierungen, die für viele Menschen relevant und attraktiv sind. Die German Angst aber sollte man als Theater getrost in den Hinterkopf verschieben. Oder, um es mit Brecht zu sagen:
Behandeln wir das Theater als eine Stätte der Unterhaltung – als eine Stätte, die „uns zusagt“!