Stuttgart, 03. Dezember 2015. (red/cr) Am Dienstag gestalteten FSJler und jugendliche Flüchtlinge unter Anleitung ein Graffiti mit dem Schriftzug „Refugees welcome to Stuttgart“. Im Rahmen des FSJ Kultur Baden-Württemberg verbrachten so neun FSJlerinnen und ein FSJler einen Tag mit neun jungen Flüchtlingen aus Stuttgarter Unterkünften. Unsere Reporterin Christin Rudolph war als Teilnehmerin dabei.
Von Christin Rudolph
Seit dem ersten September mache ich ein „Freiwilliges Soziales Jahr Kultur“ bim Rheinneckarblog. Das bedeutet aber nicht nur, in der Redaktion mitzuarbeiten. Der Träger des FSJ Kultur, die Landesvereinigung für Kulturelle Jugendbildung, kurz LKJ, bietet ein zusätzliches Rahmenprogramm für die Freiwilligen. Zu einem vollwertigen FSJ Kultur gehört auch die Teilnahme an Bildungstagen.
Bei Bildungstagen treffen sich die FSJler meistens in Gruppen zu mehrtägigen Seminaren. Zusätzlich werden Bildungstage angeboten, bei denen man wählen kann, welchen man besuchen möchte. Für den Bildungstag „Flucht“ am Dienstag haben sich neun FSJlerinnen und ein FSJler entschieden. Unter anderem ich. Was wir dabei gelernt haben? Ich würde sagen:
Zusammen Neues zu lernen macht viel mehr Spaß als alleine. Und Pizza und Nudeln mag fast jeder, egal ob aus Afghanistan, Syrien oder Deutschland.
Thema bewegt uns
In den Räumen der LkJ in Stuttgart erhielt die Gruppe der FSJler zunächst einen Überblick über die allgemeine Situation von Flüchtlingen durch Jörg Reinhardt. Er betreut für das Jugendamt Stuttgart UMAs – Unbegleitete Minderjährige Ausländer, also minderjährige Flüchtlinge, die allein nach Deutschland geflüchtet sind. Daher erzählte Herr Reinhardt auch einiges aus seinem Arbeitsalltag.
Ich kenne das Thema schon vom Rheinneckarblog – wir haben mehrfach dazu berichtet – für mich waren trotzdem neue, vertiefende Informationen dabei.
Als eine Teilnehmerin sich mit der Klage zu Wort meldete, es gebe sehr große bürokratische Hürden für Jugendprojekte gemeinsam mit Flüchtlingen, war auch schon eine leidenschaftliche Diskussion unter uns Freiwilligen entfacht.
Abbild der großen weiten Welt
Als dann die eingeladenen Flüchtlinge kamen, waren alle gespannt. In den ersten Minuten des Zusammentreffens bildeten die Flüchtlingssituation auf Mikroebene ab. Wir als kleine Gruppe von zehn FSJlern haben alle eine ähnliche Schulbildung, wohnen alle in Baden-Württemberg und sprechen alle deutsch. Auch wenn sich nicht alle persönlich gut kennen, man gehört eben zusammen, wie man mit Namensschildchen am Pullover auf bunten Stühlen im Kreis sitzt, diskutiert und an einem Keks knabbert.
Wir FSJler wussten bis zum letzten Moment nicht, wie viele Besucher wir bekommen würden, woher sie kommen und welche Sprache sie sprechen. Die nun Jungen, die dann den Raum beraten, wussten genauso wenig über uns. Sofort ließ sich das nicht ändern – denn da war auch schon die Sprachbarriere.
Ab da wurde immer alles auf deutsch für die FSJler und auf englisch für die Flüchtlinge erklärt. Hauptsächlich kamen die Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan. Zwei der Jungs übersetzten arabisch, einer persisch. Einer konnte kaum englisch, war aber fleißig am Deutschlernen. Ihm erklärten seine deutschen Sitznachbarn alles noch einmal langsam auf deutsch und er übersetzte es in Dari für einen anderen.
Im Verlauf des Tages merkt man immer wieder, wie eingeschränkt man in seiner eigenen Perspektive denkt. Und wie wenig man vom anderen weiß.
Think outside the box!,
sagt Jörg Reinhardt immer wieder in die Gesprächsrunde. Das ist etwas, das man jeden Tag versuchen sollte. Und wir haben es an diesem Tag gemacht.
Was heißt „FSJ Kultur“ auf arabisch?
Die erste Herausforderung war, Jugendlichen aus Ländern, in denen Freiwilligendienste oder ähnliche Programme nicht existieren, das FSJ zu erklären. Einsatzstellen für ein FSJ Kultur sind sehr unterschiedlich – vom Theater über die Kunsthalle zur Musikakademie bis zum lokaljournalistischen Redaktion. Daher macht fast jeder Freiwillige etwas anderes.
Am Anfang standen wegen der Sprachbarriere Gruppenspiele ohne Sprache. Zum Beispiel haben sich alle ohne zu sprechen nach Körpergröße sortiert – ganz schön schwierig bei 19 Teilnehmern. Danach mussten wir bei einem Namensspiel feststellen, dass nicht nur die Namen der Flüchtlinge schwierig auszusprechen sind, sondern auch manche Namen der deutschen Teilnehmer.
Gar nicht so verschieden
Später sprachen wir in der Runde darüber, was wir einmal werden wollen. Die Gemeinsamkeit mit dem Flüchtlingen war hierbei, dass jeder ganz eigene Vorstellungen hat.
Und genauso wie einige FSJler noch nicht wissen, wie es nach dem Jahr weitergeht, haben sich auch ein paar der Geflüchteten noch nicht entschieden. Lucas zum Beispiel macht sein FSJ bei einem Orchester und will vielleicht Architektur studieren.
Ein 16-jährige Junge aus Afghanistan will vielleicht ebenfalls Architekt werden. Oder Physiker, das weiß er noch nicht. Nach einer halben Stunde zusammen merkt man, dass die Flüchtlinge hauptsächlich einfach nur ganz normale Teenager sind. In Tandems zwischen FSJlern und Flüchtlingen redeten wir eigentlich wie mit jeden anderen darüber, was für Hobbies man hat und was man gerne in der Schule macht. Nur kamen Fragen auf:
Im Fußballspielen bin ich auch ganz gut, aber kann man in Deutschland auch Kung-Fu machen? Schneit es in Afghanistan im Winter?
Als dann das Mittagessen anstand, traten die Gemeinsamkeiten hervor. Denn Syrer und Afghanen mögen Pizza und Nudeln genauso wie Deutsche und Sucut isst man in Deutschland auch.
Spaß trotz Kälte beim Sprayen
Nach dem Essen machten wir uns alle mit der Bahn auf zur „Hall of Fame“ in Bad Canstatt. Bei dieser legalen Graffitifläche fand der Teil des Tages statt, der für uns alle Neuland war.
Mike, ein Graffiti-Urgestein in Stuttgart, begrüßte uns dort. Seit 22 Jahren sprayt er schon. Das heißt aber nicht, dass er nie mit Anfängern arbeitet. Im Gegenteil.
In Workshops vermittelt er Jugendgruppen nicht nur humorvoll die Grundkenntnisse. Er fördert die ganze Gruppe als solche. Indem man zusammen ein großes Graffiti entstehen lässt, da mit seiner Unterstützung richtig professionell aussieht, kann man am Ende auch als Gruppe stolz sein.
Die Skizze für den Schriftzug „Refugees welcome to Stuttgart“ und die Grundidee lieferte Mike. Nach ein paar grundlegenden Übungen durften wir auch schon selbst an „unser“ Stück Wand. In vielen Einzelschritten ist etwas Großes entstanden. Auch das können wir mitnehmen. Jeder macht etwas anderes, solange sich aber alle an die rote Linie halten, setzt sich das große Bild schließlich zusammen.
Nach 3,5 Stunden Arbeit am Graffiti wissen wir, dass das im Winter nur ein Hobby für kälteunempfindliche Menschen ist.
Auf dem Nachhauseweg fällt mir allerdings plötzlich etwas anderes auf. Beim Sprayen war mir zwischenzeitlich gar nicht mehr bewusst, dass die Hälfte von uns kein Deutsch spricht – das war plötzlich gar nicht mehr auffallend, weil wir alle am Graffiti gearbeitet haben. Wieder was gelernt beim Bildungstag.