Heidelberg/Rhein-Neckar, 03. Oktober 2012. (red/la) Der Versuch der NPD einen Aufmarsch in Heidelberg zu veranstalten, ist bereits auf dem Bahnhofsplatz gescheitert. 1.500 Gegendemonstranten blockieren die Rechtsradikalen. Die Polizei sah sich außer Stande, die Blockade nach drei Aufforderungen zu räumen. Die rund 80 Nazis mussten daraufhin nach etwas mehr als zwei Stunden Warten ihr Vorhaben aufgeben und erklärten die Demo für beendet.
Von Reinhard Lask und Xiaolei Mu
Auf den Straßen vor dem Hauptbahnhof kommt der Verkehr um kurz nach 12 Uhr zum Erliegen. Nach und nach verteilen sich 1.500 Gegendemonstranten um den Bahnhof, um die 80 NPD-Demonstranten zu blockieren. Heidelbergs Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner ruft noch auf dem Bahnhofsvorplatz die Demonstranten auf, noch mehr Teilnehmer herbeizuholen:
Wichtig ist jetzt, dass möglichst viele kommen. Wir müssen verhindern, dass der Zug durch Heidelberg laufen kann. Rufen sie Bekannte an, damit solche Aufmärsche hier niemals stattfinden können.
Das Bündnis gegen den Aufmarsch kann breiter nicht sein: Mitglieder Von Bündnis90/Die Grünen, SPD, Linkspartei und Piraten, von Kirchen und Antifa drängen sich an den Absperrungen vor dem Bahnhof. Die CDU hingegen fehlte, die feierte lieber Bürgerfest am Kornmarkt. Zwar mit einem Hinweis, dass man die NPD ablehne, aber ohne Einsatz. Michael Csaszkóczy von der Heidelberger Antifa erklärt:
Wir haben Nachtschichten geschoben und Bündnisse geschmiedet. Es war alles sehr kurzfristig, weil wir eigentlich erst davon erfahren haben, als OB Würzner es bekannt gegeben hat, also vor zweieinhalb Tagen.
Gegen 12:30 Uhr sind gerade mal drei schwarz gekleidete Jugendliche auf dem abgesperrten Areal vor dem Bahnhofsausgang zu sehen. Sie wirken eher wie Autonome, sind aber Nazis. Die rechte Szene nutzt immer öfter das Outfit der Linken, um nicht sofort identifziert werden zu können. Es sind die ersten Rechten. Offenbar die einzigen, die aus Heidelberg gekommen sind. Aus der Distanz erinnert die Szenerie an ein Tiergehege mit vielen Zuschauern außen herum an den Absperrungen. So, als gäbe es hier eine sensationell seltene Spezies zu betrachten.
Bei der Bereitschaftspolizei ist die Stimmung indes überwiegend gelöst. Mehrere Hundertschaften – unter anderem aus Bruchsal und Karlsruhe – sind hier zusammengezogen worden. In voller martialischer Montur. Wie viele Beamte es genau sind, will Polizeisprecher Harald Kurzer nicht sagen:
Dann rechnen sich andere aus wie viele Einsatzkräfte wir zu solchen Aktionen heranziehen.
Nur keine Fehler machen!
Die Polizei will sich in taktischen Dingen ungern in die Karten schauen lassen. Vielleicht auch, weil in den vergangenen Wochen zu viel nicht glatt lief. Ermittlungspannen zur Terrorzelle NSU und eine Welle der Gewalt von Kurden gegen Beamte in Mannheim haben für schlechte Schlagzeilen gesorgt. Heute steht die Polizei sichtlich unter Druck. Die schwere Aufgabe: Einen Spagat zwischen Verfassung, öffentlicher Ordnung eigener Auffassung hinzubekommen. Polizeisprecher Kurzer wird deutlich:
Wir dürfen heute keinen Fehler machen. Wir haben den klaren Auftrag, das Demonstrationsrecht zu wahren. Aber wir geben auch ein klares Signal an die Gegendemonstranten: Es darf keine Gewalt geben. Das gilt auch für jene, die gleich aus dem Bahnhof kommen.
Was er von denen hält, zeigt seine Miene.
Eine Demo ohne Gewalt, darauf hofft auch der Heidelberger OB, der ebenfalls angespannt bei den Gegendemonstranten hinter der Absperrung steht. Noch am Dienstagabend hatten er und der Heidelberger Gemeinderat einstimmig eine Resolution gegen den Aufmarsch verabschiedet. Aber die NPD ist cleverer geworden. Zu ahnende Verstöße werden vermieden – so musste das Verwaltungsgericht letztlich das Verbot der Demo durch die Stadt aufheben und den Auftritt genehmigen – aus Sicht der NPD ein Erfolg, auch wenn sie den Rechtsstaat bekämpfen will.
Die bange Frage ist nun: Wird die Polizei tatsächlich einen Korridor durch die 1.500 Gegendemonstranten bahnen? Wird sie Studenten, Rentner, Frauen und Kinder “zur Seite schaffen”, um das Demonstrationsrecht der Rechten durchzusetzen?
Die Nervosität ist beinahe greifbar, als die S-Bahn mit rechten Demonstranten ankommt. Dann ein ungeplanter Zwischenfall. Rund 100 Gegendemonstranten haben im Bahnhof vor dem Zugang zu den Gleisen spontan eine Sitzblockade organisiert. Unverhofft waren nun Antifaschisten und Faschisten beinahe in Sichtweite. Sofort geht die Polizei dazwischen und schirmt die Gegendemonstranten ab, um jeglichen Kontakt zwischen den Gruppen zu vermeiden.
Die Überraschung kam am Freitag
Polizeisprecher Kurzer hat heute kaum eine ruhige Minute. Ständig redet er mit Pressevertretern, Einsatzleitern oder Mitgliedern der Stadtverwaltung, läuft auf dem abgesperrten Areal hin und her, das Handy am Ohr.
Für ihn und 20 weitere Kollegen hatte die “Planung” der Demo bereits am Freitag begonnen, als die NPD ihren “Gedenkmarsch” für “Kurfürst” Otto von Bismarck angemeldet hatte.
Plötzlich war die ganze Wochenplanung hin. Da mussten wir Hoffenheim, Sandhausen beiseite schieben und überlegen, wen ziehen wie von woher hinzu?
20 Leute mussten zwei Tage zusätzlich arbeiten. “Normale Leute” würden ihre Demo einen Monat vorher anmelden, andere machen es fünf Tage vorher, sagt Kurzer. Er ist sichtlich genervt. So wie viele andere auch, die sich an diesem Tag Besseres hätten vorstellen können, als den “Nationalen Sozialisten” zu helfen ihr durch die Verfassung garantiertes Demonstrationsrecht durchzusetzen.
Verbaler Schlagabtausch
Mittlerweile haben die Einsatzkräfte die Teilnehmer der Sitzblockade einige Meter abgedrängt und einen Korridor für die wartenden Rechten geschaffen. Die müssen nun vorbeigelotst werden.
Es wird die heikelste Situation der Veranstaltung. Nicht mal drei Meter voneinander entfernt laufen die Rechten an den Gegendemonstranten vorbei. Die Stimmung ist aufgeheizt. Bei Seiten brüllen ihre Parolen. Erhobene Arme. Fäuste werden geschüttelt. Gott sei Dank nur in der Luft. Nach wenigen Minuten stehen die 80 Rechten auf dem Bahnhofvorplatz.
Aufatmen bei der Polizei. Die Hürde ist genommen.
Die Rechten entrollen ihre Fahnen. Allerdings sind es weder NPD-Banner, noch Reichskriegsflaggen oder andere eindeutige rechte Insignien. Die überwiegend dunkel gekleideten Rechten haben die Landesfahnen von Bayern, Thüringen, Niedersachsen und anderen Ländern mitgebracht. Warum? Kurzer erklärt:
Es gehörte zu den Auflagen, dass nur aktuelle Fahnen von Bundesländern gezeigt werden dürfen.
Die Auflagen sind streng. Ursprünglich sollte die Demonstration von 13:00 bis 19:00 Uhr dauern. Doch die Versammlungsbehörde hatte die Zeit auf 16:00 Uhr verkürzt. Die Fahnenstangen müssen aus Weichholz oder Plastik sein, bestimmte Kleidung ist nicht gestattet. Die Teilnehmer dürfen weder rennen noch springen. Verstöße werden sofort geahndet.
So muss einer seine schwarz-weiß-rote Flagge wieder einrollen. Die Flaggen des Sudetenlandes, des Großherzogtums Posen und Südtirol waren bereits im Vorfeld untersagt worden. Plötzlich wird ein vermummter Rechter gleich von acht Sicherheitskräften aus der Versammlung herausgeholt und von der Demonstration ausgeschlossen. Seine Personalien werden festgestellt, es erfolgt ein Platzverweis.
Dann passiert – nichts.
Eine Stunde lang herrscht streckenweise eine gespenstische Stille auf beiden Seiten. Die Gegendemonstranten unterbrechen die Stille mit Sprechchöre, die jedoch bald wieder verebben. Sie warten darauf, ob die Rechten nun marschieren. Worauf die Gegenseite wartet, ist gerade selbst der Polizei nicht klar.
Laut Kurzer wollte die NPD erst eine Vorabkundgebung auf dem Bahnhofsvorplatz abhalten und dann in Richtung Bismarckplatz laufen. Doch keiner der 80 Demonstranten hat irgendetwas kund zu geben. Dann endlich eine Megafon-Durchsage: “Stellt euch in Dreierreihen auf”, ruft ein NPD-Ordner. Doch niemand stellt sich auf. Offenbar wissen auch die Demonstranten noch nicht, was sie nun machen wollen. Sie bieten ein klägliches Bild.
“Ihr kommt nicht durch”
Während die Gegendemonstranten “Ihr habt den Krieg verloren” skandiert, haben sich die “Eingekesselten” offenbar endlich geeinigt. Sie lassen die Kundgebung ausfallen und wollen losmarschieren. Die Polizei soll ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit durchsetzen. Die Polizei appelliert an die 1.500 Gegendemonstranten:
Wir als Polizei haben den Auftrag neutral zu sein. Bitte machen sie den Weg frei.
Es gibt Pfiffe. Die Menge skandiert: “Ihr kommt nicht durch!” Plötzlich herrscht Volksfeststimmung. Es ist ein kunterbunter Menschenauflauf. Ausgestattet mit Plaketten und bunten Fahnen gruppieren sie sich entweder um Lautsprecher und einzelne Rednern. Sahra Mirow von der Linksjugend Heidelberg freut sich, dass so viele unterschiedliche Gruppen gegen die Rechten zusammengekommen sind:
Widerstand gegen die Rechten ist eins der wenigen Themen, bei der Menschen aus allen Bevölkerungsschichten zusammen was unternehmen.
Pärchen, Familien mit Kindern oder Freundes- und Bekanntenkreise, sie alle erwarten ganz selbstverständlich den Abzug der NPD. Einige Leute drängeln sich um die besten Schauplätze vor dem Zaun. Andere, meist Kinder und junge Frauen lassen sich Huckepack nehmen.
Teure Rituale
Um 14:30 Uhr fährt die Polizei bei den zweiten Aufforderung härtere Geschütze auf:
Sie beeinträchtigen die Grundrechte anderer. Sollten sie die Kurfürstenanlage nicht räumen, werden wir das tun und ihnen die Kosten in Rechnung stellen.
Die Reaktion: Keine. Langsam wird allen klar, dass sich hier nichts mehr bewegen wird, sondern nur noch wegtragen eine Möglichkeit wäre. Es ist ein Spiel. Ein langweiliges, aber trotzdem ernstes. Nachgeben geht nicht. Aus der Rolle fallen darf auch niemand, obwohl jeder das Ergebnis des Spielchens kennt, muss jeder seinen Part bis zum Ende spielen. Das Theater dürfte heute den Steuerzahler wieder einige hunderttausend Euro kosten und den Polizeibetrieb mit zusätzlichen Überstunden belasten.
Zwar ist die Stimmung am Absperrungszaun selbst am Kochen, die Leute in den hinteren Reihen jedoch sind gelassen. Sie gehen davon aus, dass die Polizei nur mit einer Räumung droht und es bei der Drohung belässt.
Um 14:40 Uhr gibt es den dritten und letzten Aufruf an die Heidelberger Bürger den Weg frei zu machen. Wieder skandiert die Menge:
Ihr kommt nicht durch!
Abgesehen von der Polizeipräsenz an den Eingängen läuft der Betrieb im Bahnhof zwischenzeitlich normal. Nur auf der Straße ist für Autos kein Durchkommen. Hier wird umgeleitet.
Vereinzelte NPDler werden beschimpft, wenn sie von je vier bis fünf Bundespolizisten durch die Bahnhofshalle zur Toilette eskortiert werden. “Scheiß Nazis” und “Geht nach Hause” rufen ihnen Linke zu. Handgreiflichkeiten gibt es keine.
Draußen beraten die Rechten sich. Dann reden sie mit der Polizei. Sie fordern eine alternative Marschroute. Die Polizei lehnt ab. Man könne da nicht für die Sicherheit garantieren. Dann sollen die 1.500 Gegendemonstranten eingekesselt werden. Dass das kaum funktionieren kann, interessiert die NPD-Anhänger nicht. Die Polizei bleibt hart: Sie räumt nicht. Das berge unabsehbare Risiken, wie Kurzer erklärt:
Wenn da jemand los rennt und es zu einer Panik kommt – das können wir nicht verantworten.
Um 15:20 Uhr erklärt der Veranstalter die Demonstration für beendet. Nun müssen die Hundertschaften der Polizei allerdings nicht nur die 80 Demonstranten zur S-Bahn bringen, sondern zwei Hundertschaften fahren mit, über Mannheim nach Ludwigshafen.
Vor dem Bahnhof brandet Jubel auf, als OB Würzner den Abzug offiziell per Lautsprecher verkünden darf:
Wir haben es geschafft! Heidelberg stand!
Tatsächlich stand nicht nur Heidelberg, sondern viele Menschen waren aus dem Umland gekommen, um gemeinsam mit Heidelbergern sich den Nazis entgegenzustellen. Und das der Bundestagswahlkreis eine “nazifreie” Zone wäre, kann man auch nicht behaupten. 2009 erreichte die NPD mit 1.318 Stimmen immerhin 0,8 Prozent und die Republikaner mit 686 Stimmen kam auf 0,4 Prozent Prozent. Das sind über 2.000 direkte Wähler im Wahlkreis 274. Also deutlich mehr, als heute zur Demo erschienen sind.
Spontan-Demo in Ludwigshafen
Für die Polizei war der Abend noch nicht vorbei: In Ludwigshafen nahmen starke Polizeikräfte rund 70 der Demonstranten im Empfang und schirmten sie ab, da zeitgleich eine Demonstration von Kurden in der Nähe stattfand. Daraufhin veranstalteten die NPDler eine “Spontan-Demonstration” gegen die “Polizei-Repressalien”, die sie in Heidelberg und nun in Ludwigshafen erfahren mussten.
Ein Polizeisprecher bezeichnete die spontane Demonstration als rechtmäßig. Normalerweise müssen Demonstrationen mindestens 48 Stunden vorher angekündigt sein. Wenn der Anlass jedoch so kurzfristig sei, sei eine ebenso kurzfristig anberaumte Demonstration rechtens.
So demonstrierten die Rechten eine halbe Stunde ohne Zwischenfälle, um danach – wieder unter massivem Polizeiaufgebot – zu Autos und öffentlichen Verkehrsmitteln begleitet zu werden.
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