Rhein-Neckar, 03. Februar 2016. (red/pro) Mitte Januar hat Chefredakteur Hardy Prothmann die Sängerin Julia Neigel zum Kaffee getroffen. Zu einem Plausch über dies und das. Unter dem Eindruck der Ereignisse an Silvester wurde daraus ein Gespräch über Gewalt gegen Frauen, Alkoholmissbrauch, Situation von Flüchtlingen, Gesellschaft, Kunst und Werte. Die Künstlerin fordert im Exklusiv-Interview mit dem Rheinneckarblog entschiedene Maßnahmen, um drängende gesellschaftliche Probleme zu lösen.
Interview: Hardy Prothmann
Frau Neigel, wie beurteilen Sie, was seit Anfang des Jahres eines der Top-Themen in Deutschland ist: Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht und danach?
Julia Neigel: Übergriffe auf Frauen durch alkoholisierte Männergruppen passieren täglich: häusliche Gewalt, auf Partys, auf Festen. An Silvester war das Ausmaß allerdings ein anderes. Hier sind drei Dinge zusammengekommen: Eine in Überzahl unkontrollierbare Menge junger Männer, mit einem ethnischen und kulturellen Hintergrund, der patriarchalisch und frauenfeindlich geprägt ist, Rauschmittel und viel zu wenig Ordnungspersonal.
Jeder, der alkoholisiert eine Straftat begeht, sollte klar haftbar sein. Es gibt keine Ausrede.
Mit Rauschmittel meinen Sie Alkohol?
Neigel: Ja, Alkohol ist ein Rauschmittel, bzw. eine Droge. Keiner wird gezwungen Alkohol zu trinken und es ist auch keine Ausrede, dass man sich deswegen nicht im Griff hatte.
Sie trinken keinen Alkohol?
Neigel: So gut wie nie. Er schmeckt mir einfach nicht. Um Freude und Spaß zu haben, mich zu amüsieren, brauche ich keinen Alkohol. Mir macht es nichts aus, wenn andere Alkohol trinken. Wenn sie aber ihr gutes Benehmen dabei verlieren, ist das kein Spaß mehr. Es ist schon erstaunlich, dass sich Menschen immer wieder wundern, wenn man keinen Alkohol trinkt.
Gerade im Musikbusiness gibt es doch viele Kollegen…
Neigel: …und viele sind durch die Hölle gegangen, oder schon tot. Die tragische Selbstzerstörung und der Tod von Amy Winehouse zum Beispiel hat uns gezeigt, was mitunter Alkohol mit großartigen Talenten macht. Wer will das schon? Keiner von uns. Ein Musiker, oder gar ein Star zu sein, schützt weder vor dem persönlichen, noch vor dem körperlichen Absturz bei Alkoholmissbrauch. Der Beruf kittet auch in unserem Business keine Beziehungen, macht den Menschen nicht zu unsterblichen Göttern, macht sie auch dann nicht sympathischer, wenn sie betrunken sind. In unserer Branche hält bei den meisten längst das Gesundheitsbewusstsein Einzug. Keiner will zu jung auf dem Friedhof landen oder in einem schrecklichen Zustand von einem Reporter ertappt werden. Außerdem will ich zum Beispiel noch mit 70 gesund und munter auf der Bühne stehen.
Was kann oder muss man tun?
Neigel: Warnhinweise auf Flaschen könnten für Aufklärung sorgen – so wie bei anderen käuflichen Genussmitteln, bei denen Gesundheitsrisiken bei Missbrauch bestehen. Außerdem sollte man die Frage der Unzurechnungsfähigkeit bei Alkoholmissbrauch im Strafrecht abschaffen. Man sollte aufhören, Alkoholmissbrauch zu verharmlosen und weiterhin offen und weitflächig für Aufklärung über die gesundheitlichen und sozialen Schäden in der Gesellschaft sorgen.
Werbung suggeriert, Alkohol gehört dazu. Das Zittern, der Katzenjamger, die Gewalt, die Zerstörung zeigt kaum jemand. Das Umfeld eines Alkoholkranken leidet mit.
Sie würden Alkohol verbieten?
Neigel: Alkoholmissbrauch ist aufgrund der grenzenlosen Verfügbarkeit ein Problem der Gesellschaft. Ich würde aufklären und damit das Tabu aufheben. Das schafft Bewusstsein.
Was meinen Sie?
Neigel: Nun, die Werbung der Alkoholindustrie suggeriert uns, es ist „cool“, wenn man zusammen trinkt. Es bringt uns näher, es macht gute Laune, es ist „normal“, es gehört gesellschaftlich dazu. James Bond trinkt seine Martinis, das Glas Rotwein beim Promi-Dinner, die Partynacht im Alkoholrausch. Den Morgen danach sehen wir nicht. Die Realität ist anders. Das Zittern, der Katzenjammer, die Gewalt, die zerbrochenen Beziehungen, die verzweifelten und verletzten Angehörigen, die Abstürze, die Intensivstation zeigt kaum einer. Knapp zehn Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form – also jeder Achte. Die medizinische Definition gilt, wer nicht auf Alkohol verzichten kann, ist schon stark gefährdet. Über eine Million Menschen gelten als alkoholabhängig. Nur etwa zehn Prozent davon machen eine Therapie. Oft erst nach 10 – 15 Jahren der Abhängigkeit. Jedes Jahr sterben in der Bundesrepublik Deutschland 74.000 Menschen an den Folgen des Alkoholmissbrauchs. Das Umfeld eines Alkoholkranken leidet mit. Die Hemmschwelle für psychische und physische Gewalt ist bei Alkoholmissbrauch außerdem niedriger.
Köln geschieht täglich – nur nicht so konzentriert. Keine Frau hat „Lust“ auf Belästigungen. Es gibt aber kaum eine Frau, die noch keine Belästigungen bis hin zu Übergriffen oder Schlimmerem erlebt hat. Let’s face it.
Wie in Köln?
Neigel: Solche Vorfälle wie in Köln geschehen täglich, nur nicht so konzentriert. Keine Frau hat „Lust“ auf Belästigungen. Es gibt aber kaum eine Frau, die noch keine Belästigungen bis hin zu Übergriffen oder Schlimmerem erlebt hat. Let`s face it.
Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Debatte: Gleichberechtigung von Männern und Frauen muss ein wichtiges gesellschaftliches Ziel sein.
Ist die aktuelle Aufregung und die Angst gerechtfertigt?
Neigel: Ich halte sie für berechtigt – nicht nur aktuell. Frauen haben das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Schutz vor verbalen und körperlichen Übergriffen und auf die Gewissheit, dass der Staat sie beschützt, in jeder Hinsicht. Wir brauchen hier eine gesamtgesellschaftliche Debatte: Gleichberechtigung von Männern und Frauen muss ein wichtiges gesellschaftliches Ziel sein. Das Grundgesetz ist die rechtliche Basis, nach der wir leben. Jeder von uns steht in der Verantwortung. Deswegen ist es gut und richtig, dass immer mehr Frauen sich trauen, Übergriffe anzuzeigen und darüber auch offen zu reden. Das sind keine Kavaliersdelikte.
Der Opferschutz muss verbessert werden. Intellektuelles Wachstum auch. Wohlständige Gesellschaften bauen auf Werten auf.
Sie setzen auf das Grundgesetz und Information. Was braucht es noch?
Neigel: Das Grundgesetz ist das Fundament. Wohlständige Gesellschaften bauen auf Werten auf. Dazu gehört auf jeden Fall immer auch der Bildungsauftrag – nur dieser schafft intellektuelles Wachstum und Verbesserungen. Dafür braucht es eine Umsetzung der schon vorhandenen Regeln und sicher noch ein Feintuning dessen, zum Beispiel bei psychischer Gewalt. Der Opferschutz muss klar verbessert werden. Die Schwächeren brauchen Schutz. Wir haben doch Tugenden, die einem sozialen Miteinander dienen sollen.
Männer, die Frauen schlecht behandeln sind Dummköpfe und ganz ehrlich, total unsexy.
“Tugenden” klingt konservativ. Muss die Gesellschaft wieder konservativer werden?
Neigel: Wieso? Tugenden sind zeitlos. Liebe, Freundlichkeit, Achtsamkeit und Zuneigung, jeder Mensch braucht ein Miteinander. Wir sind Menschen. Auf das „Bad-Boy-Männer-Modell“ wird jede emanzipierte und moderne Frau gerne verzichten. Ein Gentleman bleibt und ist immer modern. Männer, die Frauen schlecht behandeln sind Dummköpfe und ganz ehrlich, total unsexy. Wer übergriffig wird, sei es verbal oder körperlich – der muss schneller die Grenzen gezeigt bekommen. Die Politik sollte die soziale und rechtliche Ordnung einhalten und die Bürger besser schützen. Und was die Ausländer betrifft, die in Köln die Frauen angegriffen und überfallen haben, bin ich der Meinung, dass diese sofort in ihre Heimat geschickt werden sollten. Ohne Ausnahme. Wer hier sein will und es legal sein darf, der muss sich an die Regeln dieses Landes halten, wie jeder andere auch. Und so wie es in anderen Ländern auch gehandhabt wird.
Wir brauchen mehr Sensibilität und Achtsamkeit und Lückenschließung der Gesetze.
Braucht es dafür schärferer Gesetze?
Neigel: Ja, vor allem sozialere Gesetze und Opferschutzgesetze. Rentnerarmut, Kinderarmut, all das muss gelöst werden. Die Bildung fördern. Geld darf dabei keine Rolle spielen. Chancengleichheit, so, wie es das Grundgesetz vorsieht. Die Bundesrepublik war leider viel zu lange ein täterfreundliches Land. Im Internet durften jahrelang Betrügereien ausgeübt, Schwächere anonym gemobbt oder Kunst geklaut werden, ohne Folgen für die Täter. Kinder konnten dort uneingeschränkt Pornos und gewaltvolle Videos sehen – ohne, dass darüber nachgedacht wurde, welches Geschlechterrollenbild und welcher menschliche Umgang ihnen dadurch vermittelt wird. Wir brauchen mehr Sensibilität und Achtsamkeit. Diese Gesetzeslücken müssen geschlossen werden. Das sind nur Beispiele. Da gäbe es noch viel mehr.
Stoppt endlich den Waffenverkauf.
Zurück zu den Flüchtlingen. Was muss sich ändern, dass weniger kommen und mit einem Teil von ihnen die benannten Probleme?
Neigel: Zu den Flüchtlingen sollte man die Ursachen sehen. Ich fordere: Stoppt endlich den Waffenverkauf. Die Bundesrepublik Deutschland gilt als drittgrößter Waffenhändler weltweit. Menschen fliehen vor Kriegen zu uns, an denen deutsche Waffen maßgeblich beteiligt sind. Wirtschaftsflüchtlinge gehören nicht zu der Betroffenengruppe der Genfer Konventionen. Schlepper, die das Leben der Flüchtlinge gefährden, sollten bestraft werden. Dazu sollten die Länder der Schlepper aufgefordert werden. Schnelle Identifizierung und genaue Überprüfung der Herkunft von Flüchtlingen ist zwingend erforderlich, sowie die Begrenzung auf verschiedene Länder und Regionen der Länder in ganz Europa. Zudem bin ich sicher, dass die Integration der Flüchtlinge nur durch Aufklärung der Flüchtenden über unsere Regeln und Pflichten des gesellschaftlichen Miteinanders zu bewältigen ist. Ich halte es ebenso für eine Pflicht, die deutsche Sprache zu lernen, wenn man hier lebt. Man muss in jeder Hinsicht einer weiteren Ghettobildung entgegenarbeiten beziehungsweise diese verhindern. Ich halte es ebenfalls für eine Pflicht der Medien, wahrheitsgetreu und allumfassend zu berichten, nach Maßgabe des Bildungsauftrages.
Verstehen Sie Menschen, die fordern, die Grenzen dicht zu machen?
Neigel: Die Flüchtlingswelle betrifft jeden einzelnen in diesem Land, da es überall spürbar und sichtbar ist. Die unzähligen Helfer und Verantwortlichen sind zudem überlastet, das liest man täglich. Die Menschen machen sich Sorgen, dass es zu viel wird für unsere Gesellschaft.
Meine Eltern waren im Gulag. Vertriebene. Zurück in Deutschland hatten wir nichts, nur uns. Eine Willkommenskultur hatten wir nicht erlebt.
Sie haben selbst einen Fluchthintergrund.
Neigel: Nein. Meine Eltern sind Russlanddeutsche, Deutsche, die vor dem Krieg seit Generationen in der UDSSR lebten. Wir waren keine Flüchtlinge, sondern Heimkehrer nach dem Gesetz. Ich wurde in Sibirien geboren, da meine Eltern nach ihrer Flucht und Einbürgerung nach Deutschland am Ende des Krieges dann auf Stalins Befehl nach Sibirien verschleppt wurden. Sie verbrachten ihre Jugend im Gulag unter schlimmsten Bedingungen und waren bis zum Tod Stalins Gefangene. Dort starb ein Teil meiner Verwandtschaft. Wir kamen in den 70igern als “Kriegsverschleppte” zurück. Wir haben Fremdenfeindlichkeit in der UDSSR und in Deutschland selbst erlebt. Aber auch viel Gutes. Ich empfinde persönlich viel Verständnis für Menschen, die wirklich wegen Krieg und Verfolgung aus ihrem Land fliehen müssen.
Wir mussten uns schnell anpassen, sofort deutsch lernen. Bis heute ist für mich tägliches Dazulernen eine Selbstverständlichkeit.
Wie war das für Sie?
Neigel: Die meisten Menschen wussten nicht, wer Russlanddeutsche sind und warum wir kamen. Wir kamen mit ein paar Kleidern und Erinnerungsbildern. Uns war alles andere genommen worden. Wir hatten nichts, nur uns. Es gab keine psychologische Beratung oder Sonderanlaufstellen für bürokratische Probleme. Wir mussten uns schnell anpassen, sofort deutsch lernen und wurden ohne Vorbereitung integriert. Sofort in die Schule geschickt. Mein Vater ging recht schnell arbeiten. Meine älteren Schwestern kamen in ein Sprachinternat. Wir haben uns alles erarbeitet und bis heute ist für mich tägliches Dazulernen eine Selbstverständlichkeit. Wir Kinder machten allesamt unser Abitur. Bildung halten wir für wichtig. Eine „Willkommenspolitik“ haben wir nicht erlebt.
Wenn die Töne scharf werden und sich gegen Menschen richten, ist das keine Meinung mehr. Dann ist Schluss.
Sie haben sich bereits intensiv im Kampf gegen rechte Gewalt eingesetzt. Befürchten Sie, dass diese wieder wächst?
Neigel: Ich habe mich immer gegen Gewalt an sich eingesetzt. Gewalt ist falsch, egal aus welcher Motivation heraus – ob politisch oder privat. Gewalt führt in einen Weg der Verrohtheit. Sie führt zu Gegengewalt und Notwehr, zu Tätern und Opfern und in eine Spirale des Verderbens. Ich erachte Menschlichkeit, Sicherheit, Freiheit und ein faires, zivilisiertes, friedliches Miteinander als wertvolle, wichtige Güter unserer Gesellschaft. Dafür bin ich. Für politischen Extremismus gibt es viele Anzeichen – auch wenn ein großer Teil der Bevölkerung davon angewidert ist. Die Menschen haben angesichts der aktuellen Entwicklungen auch Angst. Das muss man ernst nehmen und frühzeitig handeln. Natürlich darf man seine Sorgen auch äußern. Gegen Gewalt und Ängste – es braucht Lösungen dagegen. Was ich aber auch für falsch halte, ist, wenn die Töne scharf werden und es gegen Menschen geht – anstatt die Ursache zu lösen. Das ist dann keine Meinung mehr und die muss man nicht dulden. Dann ist Schluss. Egal bei welcher politischen Strömung auch immer.
Zur Person:
Julia Neigel wurde in Barnaul in Sibirien zur Zeit der UdSSR als jüngstes von fünf Kindern geboren. Die Ahnen waren unter Katharina der Großen nach Russland ausgewandert. Ihre Großeltern flüchteten mit ihren Kindern wegen der Verfolgung durch Stalin im zweiten Weltkrieg nach Deutschland, wurden eingebürgert und nach dem Krieg nach Sibirien verschleppt.
1971 kam sie mit fünf Jahren nach Deutschland. Sie machte in Mannheim ihr Abitur und begann mit 14 Jahren zu singen. Mit 16 Jahren fing sie an, eigene Lieder zu schreiben. Mit 27 begann sie auch, ihre eigenen Alben zu produzieren.
1988 landete sie mit “Schatten an der Wand” ihren ersten großen Hit. Sie hat bislang zwei Millionen Alben verkauft, darunter sieben Studioalben, die alle in die Charts kamen.
Sie hat mit Udo Lindenberg auf der Bühne gestanden und für Peter Maffay Texte geschrieben. Sie hat über 20 Preise und Auszeichnungen gewonnen. Sie engagiert sich insbesondere für traumatisierte Kinder, gegen Gewalt und für den Schutz von Urheberrechten.
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